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Christian Salenson
DEN BRUNNEN TIEFER GRABEN

Meditieren mit Christian de Chergé

Christian Salenson

Den Brunnen
tiefer graben

Meditieren mit
Christian de Chergé,

Prior der Mönche von Tibhirine

  VERLAG NEUE STADT
MÜNCHEN · ZÜRICH · WIEN

Titel der französischen Originalausgabe: Prier 15 jours avec
Christian de Chergé, prieur des moines de Tibhirine,
© 2006,
Nouvelle Cité, Bruyères-le-Châtel.

Übertragung ins Deutsche: Stefan Liesenfeld

5. Auflage 2015
© Alle Rechte der deutschen Ausgabe bei:
Verlag Neue Stadt GmbH, München
Gestaltung und Satz: Neue-Stadt-Graphik
ISBN 978-3-7346-1067-7
eISBN 978-3-87996-434-5

www.neuestadt.com

Vorwort

Die Trappistengemeinschaft von Tibhirine/Algerien wurde weltweit bekannt durch die Entführung und die bis heute nicht geklärte Ermordung von sieben Mönchen im Jahr 1996, darunter der Prior, Christian de Chergé. Ein viel beachteter französischer Kinofilm („Von Menschen und Göttern“) hat ihr Leben neu in den Blick gerückt.

In diesem Buch werden der Prior und seine Spiritualität vorgestellt. Nach einem Überblick über sein Leben kommen die Quellen in den Blick, aus denen Christian de Chergé geschöpft hat. Eine beeindruckende innere Welt tut sich auf; viele Begriffe erscheinen in einem neuen Licht: Gebet, Liebe, Kreuz, Umkehr, Zeugnis … Es ist eine Spiritualität der Begegnung und der Offenheit für den anderen, die heute aktueller denn je ist. In muslimischem Umfeld lebend, waren Christian und seine Brüder „Pioniere, die wichtige Wegmarken gesetzt haben“ (C. Salenson). Längst leben wir ja in einer Situation religiöser Vielfalt; mehr denn je treffen wir mit Gläubigen anderer Religionen zusammen. Es ist kein leichter Prozess, dies als Chance für den eigenen Glauben zu b e greifen und zu e r greifen. Wir wissen, wie schnell es zu Rückschlägen kommt. Wir kennen die Warnungen. Auch die Mönche von Tibhirine waren keineswegs naiv. T r o t z a l l e m sind sie sich und ihrem Glauben treu geblieben. Das vorangestellte Testament von Christian de Chergé ist dafür ein eindrucksvolles Zeugnis.

Der Weg zueinander darf Unterschiede nicht verwischen. Es ist nicht der Weg bloßer Toleranz und oder gar des Kompromisses. Es ist der Weg „in die eigene Tiefe“: Es geht darum, „den eigenen Brunnen tiefer zu graben“ – bis man zu der Quelle findet, aus der sich leben lässt, einer Quelle, die über alle Unterschiede hinweg eine tiefe Verbindung schafft.

Dieses Buch möchte Lust wecken und Mut machen, den Weg nach innen als Weg zueinander zu gehen, anders gesagt: „mit Christian de Chergé und den anderen Mönchen von Tibhirine ,Betende unter anderen Betenden‘ zu werden“ (C. Salenson).

* * *

Dass nunmehr bereits die 5. Auflage – jetzt in neuem äußerem Gewand – erscheinen kann, ist ein eindrucksvolles Signal: Authentisches Leben, wie es aus den Texten Christian de Chergés spricht, ist gerade heute gefragt.

Stefan Liesenfeld

VERLAG NEUE STADT

Inhalt

Vorwort

Das letzte „A-Dieu“ vor Augen: Das Testament von Christian de Chergé

Christian de Chergé (1937–1996)

Meditationen zu Texten von Christian de Chergé

I – Ein Haus des Gebets

II – Der größte Liebesbeweis

III – Kreuzweg

IV – Umkehr

V – Den eigenen Brunnen tiefer graben

VI – Bis zum Äußersten

VII – Gehorsam

VIII – Jesus Christus

IX – Gemeinschaft der Heiligen

X – Märtyrer der Liebe

XI – In den „Gestalten“ der Menschheit

XII – Du bist der Andere, den wir erwarten!

XIII – Betende unter anderen Betenden

XIV – Mission

XV – Wie Maria zu Besuch bei Elisabeth

Abkürzungs- und Literaturverzeichnis

Das letzte „A-Dieu“ vor Augen:
Das Testament des Christian de Chergé

Um die Jahreswende 1993/94 hat Christian de Chergé sein Testament (IE 221) verfasst. Er vertraute es seinem Bruder Gérard zur Aufbewahrung an. Als der Tod der Mönche bekannt wurde, entschloss sich die Familie nach einigen Tagen Bedenkzeit, es zu veröffentlichen; viele, auch algerische Tageszeitungen haben es publiziert. Der bewegende Text ist in seiner vordergründigen Einfachheit von großer theologischer und spiritueller Tiefe.

„Wenn ich eines Tages – und das könnte schon heute sein –, ein Opfer des Terrorismus werden sollte, der sich nun gegen alle in Algerien lebenden Fremden zu richten scheint, so möchte ich, dass meine Gemeinschaft, meine Kirche und meine Familie sich daran erinnern, dass mein Leben Gott und diesem Land hingegeben war.

Sie mögen es akzeptieren, dass der einzige Meister allen Lebens diesem brutalen Abschied nicht fremd gegenüberstehen kann. Sie mögen für mich beten; denn wie könnte ich eines solchen Opfers würdig sein? Sie mögen diesen Tod im Zusammenhang mit den vielen anderen ebenso gewaltsam Umgekommenen sehen, die unbeachtet und namenlos bleiben. Mein Leben hat nicht mehr Wert als ein anderes. Aber auch nicht weniger. Jedenfalls hat es nicht mehr die Unschuld der Kindheit. Ich habe lange genug gelebt, um zu wissen, dass auch ich Komplize des Bösen geworden bin, das – leider – in der Welt die Oberhand zu behalten scheint, Komplize gar des Bösen, das mich blind treffen könnte.

Ich wünschte mir, wenn es so weit ist, noch genug Zeit und geistige Klarheit, um die Vergebung Gottes und meiner Menschengeschwister zu erbitten, und auch, dass ich selbst demjenigen aus ganzem Herzen vergeben kann, der mich tötet.

Ich kann einen solchen Tod nicht wünschen. Es scheint mir wichtig, das zu bekennen. Ich wüsste wirklich nicht, wie ich mich freuen könnte, wenn dieses Volk, das ich liebe, wegen meiner Ermordung pauschal angeschuldigt würde. Zu hoch wäre der Preis für das, was man „die Gnade des Martyriums“ nennen mag, wenn sie einem Algerier geschuldet ist, wer dieser auch immer sei. Vor allem dann, wenn er bekundet, aus Treue zu dem zu handeln, was er für den Islam hält.

Ich kenne die Verachtung, mit der man auf die Algerier pauschal herabblickt. Ich kenne auch die Karikaturen des Islam, die ein gewisser islamischer Fundamentalismus hervorgerufen hat. Man macht es sich viel zu leicht, wenn man den religiösen Weg des Islam mit dem Fundamentalismus der Extremisten gleichsetzt. Algerien und der Islam, das ist für mich etwas ganz anderes; das ist wie Leib und Seele. Ich habe es zur Genüge beteuert, glaube ich, im Hinblick auf alles, was ich erhalten habe – so oft habe ich darin den Leitgedanken des Evangeliums wiedergefunden, das ich damals auf dem Schoß meiner Mutter, meiner allerersten Kirche, gelernt habe, und zwar genau hier in Algerien und damals schon in großem Respekt vor den muslimischen Gläubigen.

Mein Tod scheint natürlich denen recht zu geben, die mich immer gleich für naiv oder zu idealistisch gehalten haben: „Jetzt sollte er uns sagen, was er darüber denkt!“ Aber diese sollen wissen, dass nun endlich meine brennendste Neugier gestillt sein wird:

Nun werde ich, wenn es Gott gefällt, meinen Blick in den Blick Gottes, des Vaters, versenken, um so mit ihm seine Kinder aus dem Islam zu betrachten – so, wie er sie sieht, ganz erleuchtet von der Herrlichkeit Christi, als Frucht seines Leidens, erfüllt von der Gabe des Geistes, dessen geheime Freude es immer sein wird, Gemeinschaft zu schaffen und die Ähnlichkeit wiederherzustellen, indem er mit den Unterschieden spielt. Dieses verlorene Leben, das ganz meines ist und ganz ihnen gehört … – ich danke Gott, der es offenbar mit allem gewollt hat für diese Freude, allen Widerständen zum Trotz.

In das Danke, mit dem nun alles über mein Leben gesagt ist, schließe ich natürlich euch alle ein, meine Freunde von gestern und von heute, und euch, ihr lieben Freunde von hier, an der Seite meiner Mutter und meines Vaters, meiner Schwestern und Brüder, die ihr mir hundertfach hinzugeschenkt worden seid, wie es verheißen ist!

Und auch du, Freund meines letzten Augenblicks, der du nicht weißt, was du tust! Ja, auch für dich soll dieses Danke sein und dieses „A-Dieu“ [dieses Hinzu-Gott], das du beabsichtigt hast. Möge es uns geschenkt sein, uns als glückliche Schächer im Paradies wiederzusehen, wenn es Gott, dem Vater von uns beiden, gefällt.

Amen. Insch’Allah

Algier, 1. Dezember 1993

Tibhirine, 1. Januar 1994

Christian +

Christian de Chergé (1937–1996)

Am 27. März 1996 ging die Nachricht um die Welt, dass sieben Mönche aus dem Zisterzienserkloster Notre-Dame de l’Atlas (Unsere Liebe Frau vom Atlas) in Tibhirine/Algerien entführt worden waren. Zwei Monate später schockierte die Meldung, dass sie ermordet worden seien, die vielen, die immer noch auf ihre Befreiung hofften. Die Mönche wurden am 21. Mai umgebracht; offiziell gelten sie als die Opfer eines bewaffneten Arms der GIA (= Groupe islamique armé, bewaffnete islamische Gruppe); doch die Hintergründe ihres Todes sind noch nicht geklärt.

Christian de Chergé war seit 1984 Prior dieser Kommunität. Er war 59 Jahre alt, als er getötet wurde.

Schon früh hatte er den Ruf verspürt, Priester zu werden. Seine Berufung reifte in einer christlichen Familie heran; in seinem Testament bezeichnet er seine tiefgläubige Mutter als seine „allererste Kirche“. Christians Vater, Guy de Chergé, war General der französischen Armee. Christian war der zweitälteste von acht Kindern. Während des Zweiten Weltkriegs, im Oktober 1942, wurde der Vater nach Algerien versetzt, wo er einer Artillerieeinheit vorstand. Die Familie blieb drei Jahre dort; Christian lernte somit schon als kleines Kind dieses Land kennen. Seine Mutter lehrte ihn den Respekt vor den gläubigen Muslimen. Viele Jahre später erinnerte er sich noch an die Worte seiner Mutter, die seine Verwunderung angesichts der ins Gebet vertieften Muslime bemerkt hatte: „Sie verrichten ihr Gebet. Wir dürfen nicht abfällig darüber denken; auch sie beten Gott an!“

Christian besuchte das Gymnasium der Maristen in der Pariser Rue de Monceau, wo er als zurückhaltender junger Mann in Erinnerung geblieben ist, ein wenig schüchtern, taktvoll, fröhlich und ausgesprochen gut erzogen. Er knüpfte einige feste Freundschaften, insbesondere mit Vincent Deprez, der später als Benediktiner in das Kloster von Ligugé eintrat und mit dem er weiterhin in Briefkontakt blieb. Christian wurde „Wölfling“, dann „Pfadfinder“ und schließlich „Ranger“ in der Pfadfindergruppe seiner Schule.

Sein Vater hätte es gern gesehen, wenn er die École polytechnique besucht hätte, doch Christian wollte ins Priesterseminar eintreten. Um den Wünschen seines Vaters ein wenig entgegenzukommen, schrieb er sich dennoch zunächst an der Sorbonne an der juristisch-philosophischen Fakultät ein, aber im Jahr darauf, im Oktober 1956, trat er ins Seminar der Karmeliten am Pariser Institut Catholique ein. Seine Seminarzeit fällt in die Jahre der Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils. 1964, also noch während des Konzils, wurde er zum Priester geweiht.

Christian de Chergé gehört zu der Generation, die den Algerienkrieg mitgemacht hat. Als Offizier einer administrativen Spezialeinheit sollte er sich um die Nöte der Bevölkerung im Djebel, nördlich von Tiaret, kümmern. 18 Monate, von Juli 1959 bis Januar 1961, blieb er dort.

Einschneidend für sein ganzes Leben wurde die Begegnung mit einem algerischen Feldhüter namens Mohammed, einem Familienvater, älter als er, ein einfacher Mann und tiefgläubiger Muslim. Zwischen den beiden entstand ein tiefes Band der Freundschaft. Christian hat erst sehr viel später davon gesprochen; bis zu seiner Ordensprofess hütete er wie ein Geheimnis, was für ihn zum Schlüsselereignis für seine mönchische Berufung in Algerien geworden war: Als es zu einem Gefecht kam, stellte sich Mohammed schützend vor Christian. Am nächsten Tag wurde er ermordet aufgefunden. Christian ging dieses tragische Geschehen zutiefst nach:

„Durch das Blut dieses Freundes habe ich erkannt, dass ich meinen Ruf in die Nachfolge Christi früher oder später in dem Land verwirklichen sollte, wo mir der größte Liebesbeweis zuteil wurde … Im gleichen Augenblick wusste ich, dass diese meine Weihe in die Form eines gemeinschaftlichen Gebets ,gegossen‘ werden müsste, um ein wahrhaft kirchliches Zeugnis zu sein: ein Zeichen der Gemeinschaft der Heiligen“ (T).

Ein Wort von Mohammed traf Christian nachhaltig. Als er seinem muslimischen Freund – im Wissen, dass dieser in Gefahr war – versprach, für ihn zu beten, erwiderte dieser: „Ich weiß, dass du für mich beten wirst, aber sieh doch: Die Christen verstehen nicht zu beten …“ Als Trappistenmönch in Algerien wurde Christian später zu einem „Betenden unter anderen Betenden“.

Der Algerienkrieg hat in der daran beteiligten Generation bleibende Spuren hinterlassen. Für Christian stellten sich viele Fragen: nach dem Islam, nach den Rechten der Muslime, nach dem Sinn des Gehorsams. Im Nachdenken über diese Erfahrung hat er eine größere innere Freiheit gewonnen.

1960, während seines Algerienaufenthaltes, begegnete er erstmals Kardinal Duval. Die beiden Männer sollten sich wiedersehen … Von der ersten Begegnung an war Christian beeindruckt von dem tiefen Sinn für das Evangelium, der diesen mutigen Savoyarden kennzeichnete. Wer hätte damals geahnt, dass eines Tages eine gemeinsame Trauerfeier für sie in der Kathedrale Notre-Dame d’Afrique (Unsere Liebe Frau von Afrika) stattfinden würde?

Zurück im Seminar der Karmeliten, trieb ihn ein Thema um: Christian wünschte sich sehnlichst, nach Algerien zurückzukehren und dort ein Leben des Gebets zu führen. Er begann Arabisch zu lernen. Während zweier Sommer nahm er an den islamisch-christlichen Begegnungen von Toumliline, einem Benediktinerkloster im marokkanischen Atlas, teil.

Am 21. März 1964 empfing er in der Kirche Saint-Sulpice die Priesterweihe. Seine Berufung zum Ordensleben in Algerien schien ihm eine sichere Sache zu sein, doch der Erzbischof von Paris, Pierre Veuillot, bat ihn, noch fünf Jahre im Dienst der Pariser Erzdiözese zu bleiben. Auf Ersuchen von Msgr. Charles, der seine Qualitäten als Zeremoniar bemerkt hatte, wurde er als Kaplan der Basilika Sacre Coeur auf den Montmartre gesandt. Er gestand dem Bischof seine Enttäuschung: „So werde ich jeden Tag von der Höhe des Montmartre aus die Diözese betrachten, wo ich gerne gedient hätte“ (MCR). Mit dieser Formulierung war – ein wenig verschleiert – alles gesagt …

Notre-Dame de l’Atlas