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Das, was wir das »Böse« nennen,

ist nur die andere Seite des Guten.

Johann Wolfgang von Goethe

PROLOG

»Guten Tag, mein Name ist Baby. Mama hat mich behalten.«

Er stand auf den Zehenspitzen und reckte sich, so hoch er konnte. Der Spiegel hing weit oben und er schaffte es nur mit Mühe, seine Lippen über die untere Kante zu heben. Das Kinn blieb halb abgeschnitten. Immerhin konnte er den Großteil seines Gesichts im Spiegel erkennen und seine Mimik einstudieren. Eigentlich durfte er nicht in Mamas Schlafzimmer, aber es war der einzige Raum im ganzen Haus, in dem es einen Spiegel gab. Er hatte sich heimlich hineingeschlichen. Mama war mit den anderen beschäftigt, und so hatte er die nächste halbe Stunde für sich. Er konzentrierte sich wieder auf sein Gesicht im Spiegel. Wann er die Idee zum ersten Mal gehabt hatte, wusste er nicht mehr, aber irgendwann war er sicher gewesen. Er wollte Schauspieler werden. Dafür übte er jetzt schon seit Wochen. Im Fernsehen hatte er bei einer Preisverleihung gesehen, wie man sich als Star präsentierte. Stars standen immer im Mittelpunkt und wurden von allen bewundert. So jemand wollte er auch sein. Er reckte sich und setzte ein strahlendes Lächeln auf, während er den ersten Satz wiederholte: »Guten Tag, mein Name ist Baby. Mama hat mich behalten.«

Mama kümmerte sich immer nur um die anderen Kinder. Vor allem die ganz Kleinen liebte sie über alles. Er war froh, dass sie ihn nicht, wie all die anderen, weggegeben hatte. Trotzdem fand er es unfair, dass sie ihm am wenigsten Aufmerksamkeit widmete. Außerdem musste er täglich helfen. Allein würde Mama die ganze Arbeit nie schaffen. Die Babys waren am anstrengendsten. Ständig schrie eines von ihnen und nie kehrte Ruhe ein. Sogar jetzt, wo er sich in das Schlafzimmer unter dem Dachboden geschlichen hatte, hörte er ihre Schreie. Er sehnte sich nach Stille. In seinem Leben gab es wenige solcher Momente. Nur manchmal, tief in der Nacht, wenn die Babys endlich schliefen, war es ruhig. Dann kreisten viele Gedanken in seinem Kopf. In seiner Fantasie wurde er zu einem anderen Jungen mit einem richtigen Namen. Mama hatte ihn immer nur Baby genannt. So wie alle anderen Kinder auch. Er stellte sich vor, wie es wäre, Maximilian zu heißen. Oder Jonas. Im Supermarkt hatte er diese Namen gehört. Mütter hatten sie herausgeschrien. Mal aus Verzweiflung, weil ihr Junge verschwunden war, ein anderes Mal, um den Griff ihres Kindes in eines der zahlreichen Schokoladenregale zu verhindern. Er war fasziniert gewesen vom Klang eines eigenen Namens. Wer einen Namen trug, war etwas Besonderes. Jemand, an den man sich erinnern konnte. Nicht so wie er. Er war blass und schmächtig. Die meisten Menschen sahen durch ihn hindurch, als wäre er Luft. Noch nie hatte er an der Kasse ein Geschenk bekommen. Andere Kinder bekamen manchmal ein kleines Spielzeug von den Kassiererinnen oder etwas Süßes. Er nicht. Selbst wenn er sich direkt an das Band stellte, schenkte ihm niemand Beachtung.

»Baby!« Das war Mamas Stimme. Sie war laut und schrill.

»Baby, wo bist du? Komm her und hilf mir!«

Der Schreck machte ihn für einen Augenblick bewegungsunfähig. Mama durfte ihn hier oben nicht entdecken. Immer noch auf Zehenspitzen stand er da und wagte kaum zu atmen.

Langsam kehrte die Kontrolle über seinen Körper zurück. Ungelenk stakste er die alten Holzdielen entlang, bemüht, sie nicht zum Knarren zu bringen. Er wusste genau, wo er hintreten durfte. Als er die Tür erreicht hatte, zog er sie lautlos hinter sich zu und schlich nah an der Wand bis zur Treppe, die die drei Etagen des Hauses miteinander verband.

»Baby, verdammt noch mal, wo steckst du?«

Abermals zuckte er zusammen. Die Stimme war direkt unter ihm und hallte das Treppenhaus empor. Er reckte den Hals über das Holzgeländer und sah hinab. Mama starrte ihn wütend an.

»Was zum Teufel treibst du dort oben? Habe ich nicht gesagt, du sollst Kartoffeln schälen?«

»Ich war nur kurz in meinem Zimmer.« Babys Stimme klang dünn wie die eines kleinen Mädchens. Schnell hastete er die Treppen hinunter, bis er für einen flüchtigen Moment direkt neben Mama stand. Bevor ihre Hand nach seinem T-Shirt greifen konnte, schlängelte er sich an ihr vorbei. Zwei Stufen auf einmal nehmend, erreichte er das Erdgeschoss und rannte in die Küche.

I

Laura war wieder gefangen. Dicke Taue schlangen sich um ihre Knöchel und zogen sie unbarmherzig in die Tiefe. Ihre Lungen brannten und sie musste ihre gesamte Kraft aufbringen, um die Luft weiterhin anzuhalten. Sobald sie den Mund öffnete, würde das eiskalte Wasser in ihre Atemwege eindringen und sie ersticken. Laura strampelte panisch mit den Beinen. Tief unter ihr waren die verrosteten Eisengitter noch zu erahnen, die in den Grund des Sees gerammt waren. Sie hatte es die ganze Strecke bis hierher geschafft. Nur noch wenige Meter trennten sie von der Wasseroberfläche. Sie durfte jetzt nicht aufgeben.

Mit ihrem schmalen Mädchenkörper hatte sie sich durch den engen Kanal aus dem Gefängnis hinausgewunden. Es war ein fast übermenschlicher Akt an Willenskraft gewesen, doch schließlich hatte sie ihre schmächtige Gestalt so sehr zusammengequetscht, dass sie in das Rohr hineinpasste und sich auch noch vorwärtsbewegen konnte. Das Rohr hatte sie verborgen hinter einer Klappe in der oberen Ecke ihres Gefängnisses entdeckt. Am Anfang war es trocken gewesen, doch nach einem Knick, der in die Tiefe führte, füllte es sich mehr und mehr mit Wasser. Irgendwann musste sie die Luft anhalten und untertauchen. Das Rohr wollte einfach kein Ende nehmen. Doch Laura wusste, dass dies ihre einzige Chance auf Freiheit war, und kämpfte tapfer, bis sie eine Öffnung erreichte, die mit einem Eisengitter gesichert war. Durch einen schmalen Spalt hatte sie sich in den kalten See gezwängt.

Laura schwamm nach oben. Trotz der aufgepeitschten Wasseroberfläche konnte sie bereits den blauen Himmel sehen. Ihre Beine strampelten, die Arme ruderten. Der Druck in Lauras Oberkörper schwoll zu einem unerträglichen Schmerz an. Endlich konnte sie die Füße aus den Schlingpflanzen befreien und schoss pfeilschnell nach oben. Ihr Mund öffnete sich kurz vor der Wasseroberfläche. Ein Gemisch aus Luft und Flüssigkeit presste sich in ihre gierigen Lungen. Sie hustete und rang nach Atem.

Laura schreckte hoch und riss die Augen auf. Verwirrt starrte sie in die Dunkelheit ihres Schlafzimmers und tastete nach der Lampe auf dem Nachttisch. Der Lichtschein verjagte die Schatten ihres Albtraums. Laura war jetzt fast dreißig Jahre alt und noch immer verfolgten sie die Dämonen aus ihrer Kindheit. Mit elf Jahren war sie entführt und mehrere Tage in einem Pumpwerk gefangen gehalten worden, bevor ihr die Flucht gelang. Der Täter hatte sowohl die Gelenkigkeit als auch die Willenskraft seiner zierlichen Geisel unterschätzt. Soweit bekannt war, hatte er vor ihr schon mehrere Mädchen entführt, die jedoch nicht so viel Glück hatten wie Laura. Keine von ihnen war lebend wieder aufgetaucht. Mit zitternden Händen griff Laura unter das Kopfkissen. Das kühle Metall ihrer Dienstwaffe ließ sie erleichtert aufatmen. Mit der Waffe in der Nähe fühlte sie sich sicher. Sie zog die Hand zurück und ließ sich ins Kissen sinken. Dann tastete sie nach ihrem Schlüsselbein und ihre Finger verharrten auf den schwieligen Narben, die nach all den Jahren zu einem Netz aus unebenen Linien verwachsen waren. Bei ihrer Flucht hatte sich Laura in den Eisengittern, die die Rohranlage des Pumpwerks vor Verschmutzung schützen sollten, verfangen. Die verrosteten Metallstangen zerfetzten ihre Haut und das darunterliegende Gewebe. Laura spürte die Wunden erst, als sie das sichere Ufer erreicht hatte. Mit mehreren Operationen hatten die Ärzte versucht, ihre Haut zu retten. Doch eine Infektion machte den ersten Erfolg der Behandlung zunichte. Ein Teil der Haut musste durch ein Transplantat ersetzt werden, das von ihrem Oberschenkel entnommen wurde. Die OP-Narben waren der Grund, warum Laura nur lange Hosen und hochgeschlossene Blusen oder T-Shirts trug.

Auch wenn Laura selbst es nicht wahrnahm – sie war eine Schönheit. Ausdrucksstarke braune Augen in einem feinen Gesicht, gerahmt von blonden Locken und eine sportliche Figur. Nicht wenige Männer drehten sich auf der Straße nach ihr um. Doch Laura bemerkte von all dem nichts. Ihre Selbstwahrnehmung wurde von ihren körperlichen und seelischen Narben überschattet. Sie erlaubte sich lediglich ein bisschen Stolz auf ihren Intellekt und ihren Ehrgeiz. Immerhin hatte sie vor ein paar Jahren die Aufnahme ins Landeskriminalamt Berlin geschafft. Lauras Dezernat war für Entführungen, erpresserischen Menschenraub und Tötungsdelikte zuständig. Ihre traumatische Kindheitserfahrung machte Laura zu einer äußerst erfolgreichen Ermittlerin. Sie war außergewöhnlich einfühlsam und hatte sich durch ihre eigene Entführung eine Intuition erworben, die sie auch bei kritischen Fällen nicht im Stich ließ.

Laura fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen. Ihre Hände zitterten noch immer. Sie griff nach der Wasserflasche, die sie jede Nacht neben dem Kopfende ihres Bettes bereitstellte, und ließ die kühle Flüssigkeit in ihre Kehle laufen. Der Albtraum hatte ihre Schleimhäute ausgetrocknet. Sie schloss die Augen und atmete so lange tief durch, bis sie das Gefühl hatte, im Hier und Jetzt angekommen zu sein. Dann warf sie einen Blick auf den Wecker, dessen rot leuchtende Anzeige ein unförmiges Muster auf ihre Schlafzimmerdecke zeichnete. Es war kurz nach drei, also noch mitten in der Nacht. Laura ahnte, was nun kam. Sobald sie die Augen erneut schloss, würden die schrecklichen Bilder zurückkommen. Seufzend griff sie nach ihrem Diensthandy, ein Smartphone mit riesigem Display, und öffnete den Kalender. Die dicken roten Balken für den kommenden Tag verhießen nichts Gutes. Sie entdeckte einen neuen Termin, der für acht Uhr morgens angesetzt war. »Einsatzbesprechung« stand in fetten Buchstaben in der obersten Zeile. Verdammt, dachte Laura und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Wenn sie den Albtraum loswerden wollte, musste sie die nächsten sechzig Minuten wach bleiben. Das bedeutete allerdings, dass sie am Morgen wie ein Schluck Wasser in der Kurve hängen würde. Laura war eine echte Eule. Nichts konnte ihr den Tag mehr vermiesen als frühes Aufstehen oder zu wenig Schlaf. Andererseits brachte eine von Albträumen durchzogene Nacht auch keine Erholung. Sie zögerte kurz und traf eine Entscheidung. Sie wollte die Bilder abschütteln. Laura zog die Dienstwaffe unter dem Kopfkissen hervor, schlüpfte aus ihrem Schlafanzug und lief nackt zum Kleiderschrank. Aus der mittleren Schublade kramte sie ihre Joggingklamotten hervor und zog sie rasch an. Dann tappte sie im Halbdunkel über den schmalen Flur und stieg in ihre Joggingschuhe. Laufen war Lauras Allheilmittel. Sie war mit ihren eins fünfundsiebzig und dem schlanken Körperbau die geborene Läuferin. Sobald sie in Bewegung kam, schaltete ihr Gehirn in einen Erholungsmodus um, der alle negativen Gedanken wegfegte. Laura nannte es den Laufrausch. Durch die Konzentration auf die eigenen Schritte und eine gleichmäßige Atmung gelangte sie tatsächlich in eine Art Trance, die sich fast wie Meditation anfühlte. Leichtfüßig stieg Laura die knarrenden Holzstufen hinunter. Sie wohnte in einem typischen Berliner Altbau. Ihr Penthouse besaß eine großzügige Dachterrasse mit fantastischem Ausblick. Dies entschädigte für das teilweise heruntergekommene Gebäude, das sich im Besitz eines Immobilienfonds befand. Die getätigte Investition musste sich langfristig rechnen. Modernisierungsarbeiten waren kostspielig und wurden so lange wie möglich hinausgezögert.

Laura hatte sich trotzdem auf den ersten Blick in das Gebäude und die Wohnung verliebt. Ihr machte es nichts aus, dass es keinen Fahrstuhl gab. Sie wollte sowieso fit bleiben und lief die vielen Stufen gerne zu Fuß.

Unten angekommen warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie schob die schwere Holztür auf, die schon seit der Errichtung des Gebäudes in den Fünfzigerjahren den Eingang des Hauses verschloss. Neben der Tür prangte eine ganze Armada von Klingelschildern. Das Gebäude beherbergte über zwanzig Parteien, deren Bewohner sich untereinander kaum kannten. Laura genoss diese Anonymität und die damit verbundenen Freiheiten. Sie konnte unbehelligt ein- und ausgehen, ohne dass sie von neugierigen Blicken verfolgt wurde.

Vor der Haustür drehte sie sich noch einmal um. Das diffuse Licht der Straßenlaternen ließ die Schatten der zahlreichen Linden auf dem porösen Putz des Gebäudes tanzen. Um diese Uhrzeit war die Straße menschenleer. Die nächste Kneipe lag mehr als drei Straßenzüge entfernt, sodass sich auch keine betrunkenen Teenager oder andere Nachtschwärmer bis hierher verirrten. Laura steckte sich die Kopfhörer ihres iPods in die Ohren und lief los. Sie nahm die Route, die direkt unter den Laternen entlangführte. Doch der Bürgersteig war uneben und Laura fürchtete umzuknicken. Deshalb bog sie an der nächsten Straßenecke ab und lief in den Park, der unmittelbar an das Wohnviertel grenzte. Der Weg war nicht gepflastert, er bestand lediglich aus festem Sand. Trotzdem kam er Laura ebener vor als der Bürgersteig vor ihrem Haus. Sie zog das Tempo leicht an. Die Strecke kannte sie bis ins kleinste Detail. Sie wusste genau, wie viel Zeit sie bis zum nächsten Meilenstein benötigte. Ihre Schritte, der stoßweise Atem und Lauras Herzschlag vereinigten sich zu einem einzigen dumpfen Klopfen und trugen die schrecklichen Bilder ihres Albtraumes davon.

Ihr letzter Gedanke galt der Einsatzbesprechung, die sie am nächsten Morgen um acht Uhr erwartete. Diese Termine wurden immer dann so kurzfristig angesetzt, wenn es einen ernsten Fall gab. Und wenn Laura hinzugezogen wurde, handelte es sich in jedem Fall um eine Entführung oder Geiselnahme.

Laura drehte die Lautstärke weiter auf. Später war noch genug Zeit zum Grübeln, jetzt wollte sie einfach nur den Kopf frei kriegen und danach noch ein paar Stunden Schlaf genießen. Die Musik vertrieb die Gedanken an den nächsten Morgen und Laura lief weiter in die dunkle Nacht hinein.

II

ACHTZEHN STUNDEN ZUVOR

Das sirenenartige Brüllen schwoll zu einem nervenzerfetzenden Kreischen an und bohrte sich gnadenlos in Sophie Nussbaums Gehirn. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad und mit dem Fuß trat sie das Gaspedal durch, als könne sie dadurch die Geräuschkulisse lahmlegen. Sie war schon im Morgengrauen aufgebrochen. Normalerweise schläferten Autofahrten ihr Baby innerhalb weniger Minuten ein, doch heute konnte sich Henri einfach nicht beruhigen. Sie betrachtete das Bündel mit dem hochroten Kopf durch den Rückspiegel. Der Kleine holte Luft und setzte zu einem erneuten Schrei an. Sophie zog unwillkürlich die Schultern hoch, als könnte sie sich dadurch schützen. Sie verstand die Welt nicht mehr. Henri fehlte es an nichts. Er war gefüttert und gewickelt, selbst Fieber war gemessen worden – ohne Ergebnis. Eigentlich hatte sie heute eine Shoppingtour geplant, aber Henri schien ihr einen Strich durch die Rechnung zu machen. Und jetzt hatte sie sich auch noch verfahren! Sich neu zu orientieren war quasi unmöglich bei diesem Gezeter. Sie gab Gas und blickte abermals in den Rückspiegel. Ihr Sohn gab einfach nicht auf. Sophie schaute wieder nach vorne. Verdammt, fluchte sie und trat heftig auf die Bremse. Der Wagen vor ihr hielt an einer roten Ampel, die ihr in der Hektik entgangen war. Ihre Handtasche rutschte vom Vordersitz, landete im Fußraum und kippte um. Der Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Sophie war den Tränen nahe. Sie schluckte heftig und bemerkte, dass ihr Baby plötzlich still geworden war. Die Ampel zeigte immer noch Rot. Ungläubig drehte sie sich um. Henri schlief im Autositz, friedlich wie ein Engel, als wäre nichts gewesen. Erleichtert atmete sie auf und konzentrierte sich auf den Verkehr.

Henri war ihr erstes Kind. Schon mit zweiundzwanzig Jahren hatte Sophie den deutschen Unternehmer Matthias Nussbaum kennengelernt. Er lockte sie vor allem mit seinen Erzählungen über das aufregende Berliner Nachtleben nach Deutschland. Sophie war ein Mädchen vom Land. Sie stammte aus einem kleinen, französischen Ort in der Provence, der nicht viel Unterhaltung bot. Matthias Nussbaum war eigentlich auf der Suche nach neuen Schätzen für seinen Weinkeller gewesen, als er Sophie traf, die in diesem Sommer auf dem Weingut ihres Onkels arbeitete. Matthias Nussbaum ließ den Wein links liegen und machte stattdessen Sophie einen Heiratsantrag. Keine drei Monate später war diese schwanger. Die nächtelangen Ausflüge durch das Berliner Klubleben waren auf einen Schlag vorbei. Ihr Baby hielt sie Tag und Nacht auf Trab. Trotzdem bemühte sich Sophie, ihre Figur so schnell wie möglich wiederzuerlangen. Außerdem achtete sie peinlich genau auf ein gepflegtes Äußeres. Bequeme Klamotten, verschmierte Wimperntusche und T-Shirts voller Babybrei waren ihr ein Graus. Wenn sie schon auf das Berliner Nachtleben verzichten musste, gönnte sie sich wenigstens tagsüber umfangreiche Shoppingausflüge, während Henri friedlich in seinem Kinderwagen schlief. Das Einkommen ihres Mannes war mehr als üppig und so kam Sophie mindestens einmal wöchentlich mit prall gefüllten Einkaufstaschen nach Hause.

Die Ampel schaltete auf Grün um und sie gab Gas, um gleich darauf erneut auf die Bremse zu treten. Die großen Schilder eines Supermarktes leuchteten ihr verheißungsvoll entgegen. Kurzerhand bog sie ab und fuhr auf den Parkplatz.

Drinnen angekommen spazierte sie schnurstracks in die Kosmetikabteilung. Es handelte sich um einen großen Berliner Supermarkt, der besser ausgestattet war als so manche Drogerie. Die neueste Kollektion von Lippenstiften erstreckte sich in leuchtenden Farben vor Sophie. Sie warf einen prüfenden Blick auf Henri, der immer noch entspannt in seinem Kinderwagen schlummerte. Erleichtert atmete sie auf und betrachtete die unterschiedlichen Farben, die von hauchzartem Rosa bis hin zu dunklem Braun reichten. Sie wählte ein warmes Orange, positionierte sich vor einem kleinen Spiegel am Ende der Regalwand, trug die cremige Farbe auf und hauchte ihrem Spiegelbild einen verheißungsvollen Kuss zu. In Gedanken war sie bei ihrem Ehemann, der am Abend von einer einwöchigen Geschäftsreise zurückkehren würde. Sie blickte auf die Uhr und stellte zufrieden fest, dass ihr noch genug Zeit blieb, um weitere Farben auszuprobieren. Matthias würde erst am späten Abend eintreffen, was bedeutete, dass Henri dann bereits schlief. Sophie lächelte. Sie würde ihr hauchdünnes neues Kleid tragen und gemeinsam mit Matthias eine wundervolle Nacht verbringen. Abermals warf sie einen prüfenden Blick in Richtung des himmelblauen Kinderwagens. Die Kosmetikabteilung war fast leer. Die meisten Kunden tummelten sich bei den Lebensmitteln. In den hinteren Teil des Supermarktes, in dem Sophie sich befand, verirrte sich nur ab und zu ein Angestellter mit Kartons auf dem Arm und noch viel seltener ein Kunde. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie lediglich eine einzelne Frau, die sich dem Regal mit den Duschgels näherte.

Sophie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Der warme Braunton, den sie nach dem Orange aufgetragen hatte, gefiel ihr gut. Er betonte ihre dunkelbraunen Augen und bildete einen interessanten Kontrast zu ihren langen blonden Haaren. Doch sie fand die Farbe nicht sexy genug. Schließlich hatte sie Matthias seit einer Woche nicht gesehen. Sie brauchte etwas Aufregendes, das ihn nicht weiter als bis in den Flur kommen ließ, bevor er über sie herfiel. Sie griff nach einem kräftigen Rot. Es war gewagt, vielleicht eine Spur zu aufdringlich. Aber Sophie wollte den Farbton unbedingt ausprobieren. Sie zerrte ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und wischte sich den Braunton von den Lippen, bevor sie die neue Farbe auftrug. Perfekt. Sophie sah Matthias’ Blick geradezu vor sich. In Gedanken öffnete sie ihm die Haustür. Ein Luftzug fuhr unter ihr Kleid und gab einen betörenden Blick auf ihre Oberschenkel preis. Sie hauchte Matthias ein verführerisches »Hallo« zu. Sophies Haut prickelte, als sie in Gedanken die starken Hände ihres Mannes auf ihrem Hals spürte. Er zog sie wortlos zu sich heran und küsste sie leidenschaftlich. Sophie stöhnte leise auf, die Augen immer noch auf den Spiegel geheftet. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht und erstarb wenige Sekunden später, als ihr Blick zu der Stelle hinüberwanderte, an der eben noch Henris Kinderwagen gestanden hatte. Sophie blinzelte, spürte, wie eine Schockwelle ihren Körper durchfuhr, und erstarrte. Kälte breitete sich in ihren Adern aus, während ihr Gehirn versuchte, ein Bild des Kinderwagens an genau jene Stelle zu projizieren, an der er eigentlich hätte stehen müssen. Sie hatte Henri keine dreißig Sekunden aus den Augen gelassen. Die leere Stelle, die sie sah, musste ein Trugbild sein. Eine Sinnestäuschung. Der Kinderwagen konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Plötzlich ließ die Starre in ihrem Körper nach und Sophie stolperte am Regal entlang zu der Stelle, wo Henri eben noch gelegen hatte. Ihre Hände bewegten sich durch die Luft, als suchten sie einen unsichtbaren Gegenstand. Sie drehte sich wieder und wieder um ihre eigene Achse, bis sie begriff, dass dort nichts mehr war, und sank kraftlos zu Boden. Ein heiseres Krächzen presste sich durch ihre Kehle: »Henri.« Dann ein verzweifeltes Kreischen: »Henri? Wo bist du? … Hat jemand meinen Kinderwagen gesehen? Bitte helfen Sie mir! Ich kann mein Baby nicht finden.«

III

»Darf ich Ihnen meine Mitarbeiterin vorstellen?« Joachim Beckstein deutete auf Laura, die mit glühenden Wangen im Türrahmen stand. »Laura Kern, eine unserer erfahrensten Ermittlerinnen auf dem Gebiet der Geiselnahmen und Entführungen. Sie hat hervorragende Referenzen …«

In Lauras Kopf rauschte es so stark, dass sie den Worten ihres Vorgesetzten nicht folgen konnte. Völlig außer Puste ließ sie sich auf den ersten freien Stuhl des Raumes fallen, in dem die kurzfristig angesetzte Einsatzbesprechung stattfand. Laura hatte verschlafen.

Ein nächtlicher Stromausfall musste den Wecker lahmgelegt haben. Als sie am Morgen die Augen geöffnet hatte, waren die rote Leuchtanzeige und das Muster, das der Wecker normalerweise an die Schlafzimmerdecke warf, verschwunden. Stattdessen kitzelten Sonnenstrahlen ihre Nasenspitze und versetzten sie nach einem ersten genüsslichen Gähnen in Panik. Ihr Diensthandy zeigte sieben Uhr dreißig an. Wie von einer Hornisse gestochen sprang sie auf und stürmte ins Bad. Die notdürftige Katzenwäsche ließ ihre Haare unberücksichtigt. Der frische Wind, der in den Morgenstunden durch die Straßen Berlins fegte, tat sein Übriges und verwandelte die restlichen Konturen ihrer Frisur in ein wildes Durcheinander.

Erst als sich ihr Atem langsam beruhigte, stellte sie fest, dass der Besprechungsraum zur Hälfte mit unbekannten Gesichtern besetzt war, die sie nach der Vorstellung durch Beckstein neugierig beäugten. Mit immer noch erhitzten Wangen nickte Laura unsicher in die Runde und versuchte, während sich die Köpfe wieder in Richtung Leinwand bewegten, ihre Haare mit den Fingern zu ordnen. Schnell erkannte sie, dass der Versuch sinnlos war. Nach Lauras Auftritt war es offensichtlich, dass sie verschlafen hatte – das dürfte niemandem entgangen sein. Eine ältere Frau, die Laura unbekannt war, starrte sie immer noch missbilligend an. Laura warf ihr einen unterkühlten Blick zu und drehte sich demonstrativ zur Leinwand.

Das große Foto eines vielleicht sechs Monate alten Babys nahm ihre Gedanken auf der Stelle gefangen. Obwohl Joachim Beckstein seinen Vortrag bereits vor ihrer Ankunft begonnen hatte, setzte Lauras Gehirn die noch fehlenden Bruchstücke mühelos zusammen. Der Sohn eines angesehenen Großunternehmers war vierundzwanzig Stunden zuvor spurlos verschwunden. Da die Eltern sehr wohlhabend waren, ging die Berliner Polizei von einem Erpressungsfall aus. Jederzeit wurde mit einer Geldforderung der Täter gerechnet. Die Polizeibeamten, die unmittelbar nach dem Verschwinden des Jungen involviert worden waren, hatten bereits erste Befragungen durchgeführt und Beweise sichergestellt. Anschließend wurde der Fall an das zuständige Landeskriminalamt und dessen Entführungsspezialisten übergeben.

Matthias Nussbaum war ein bekannter Unternehmer, der auch in politischen Kreisen hohes Ansehen genoss und darüber hinaus mit dem Leiter des Landeskriminalamtes eng befreundet war. Zudem besaß die Mutter des Kindes die französische Staatsangehörigkeit, was dem Vorfall einen länderübergreifenden Charakter gab.

Laura ging im Geist die Fakten durch, die ihr Vorgesetzter auf die Leinwand projizierte. Ein mulmiges Gefühl machte sich breit.

»Vierundzwanzig Stunden ohne Lösegeldforderung sind ein ungewöhnlich langer Zeitraum für einen Erpressungsversuch«, unterbrach Laura den Vortrag. Alle Augen richteten sich auf sie.

»Normalerweise versuchen die Entführer, so schnell wie möglich, in der Regel innerhalb der ersten zwei oder drei Stunden, Kontakt zur Familie aufzunehmen. Sie haben kein Interesse an einer langen und möglicherweise aufwendigen Geiselhaft, sondern wollen die Geldübergabe möglichst rasch hinter sich bringen. Je länger die entführte Person in ihren Händen ist, desto größer ist das Risiko, entdeckt zu werden«, ergänzte Laura ihre Wortmeldung.

Die ältere Frau, die sie so missbilligend angestarrt hatte, runzelte die Stirn. »Was wollen Sie damit andeuten, Frau Kern?« Ihre Stimme klang scharf. »Soll das etwa heißen, dass wir es hier nicht mit einer Kindesentführung zu tun haben?«

Laura blieb ungerührt. »Ich habe nur gesagt, dass für einen Erpressungsfall schon ungewöhnlich viel Zeit vergangen ist.«

Beckstein unterbrach Laura mit einer bloßen Geste. »Frau Schnitzer, was meine Mitarbeiterin damit andeuten möchte, ist, dass wir die Umstände der Entführung erst genauer untersuchen müssen, bevor wir voreilige Schlüsse ziehen. Selbstverständlich werden wir alle Spuren verfolgen.«

Schnitzer. Der Name kam Laura irgendwie bekannt vor. Aus welcher Abteilung kam diese Schreckschraube nur?

»Hören Sie, ich möchte, dass dieser Fall so schnell wie möglich aufgeklärt wird. Wir können es uns nicht leisten, dass die Kinder solch einflussreicher Unternehmer wie Nussbaum für Erpressungszwecke missbraucht werden. Das schadet dem Ruf unserer Stadt.«

Laura verkniff sich einen spitzen Kommentar. Warum sollten die Kinder reicher Eltern mehr wert sein als andere? Sie fragte sich, ob diese Frau auch dann in der Einsatzbesprechung aufgetaucht wäre, wenn es sich um das Kind eines Elektrikers oder eines Malers gehandelt hätte.

Die Frau erhob sich. »Ich vertraue auf Ihre Personalentscheidungen, Herr Beckstein.« Dabei warf sie Laura einen eisigen Blick zu. »Enttäuschen Sie mich nicht.« Nach diesen Worten verließ sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Raum. Die anderen Teilnehmer der Besprechung, die Laura ebenfalls nicht hatte zuordnen können, erhoben sich wie auf ein geheimes Zeichen und folgten Frau Schnitzer nach draußen. Zurück blieben Lauras Kollegen und ein blasser Joachim Beckstein, der sich schlaff auf einen der leer gewordenen Stühle sinken ließ.

»Wer war das?« Laura stieß ihren Partner Max an, der das Geschehen mit ausdrucksloser Miene verfolgt hatte.

»Du kennst sie nicht?«, flüsterte er fassungslos.

Laura zog die Augenbrauen zusammen.

»Nein. Du etwa?«

»Jetzt erzähl mir nicht, dass dir der Name Marion Schnitzer nichts sagt.« Max’ Augen fixierten sie, als wollten sie die Antwort per Telepathie in Lauras Gehirn funken.

In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Bis es ihr schließlich einfiel. Vor Schreck ließ Laura ihren Kugelschreiber fallen. Marion Schnitzer. Natürlich, wieso war sie nicht gleich darauf gekommen? Marion Schnitzer war seit Kurzem die Berliner Senatorin für Inneres. Wenn sie sich zu einem so frühen Zeitpunkt in den Fall einmischte, dann musste Nussbaum eine wirklich große Nummer sein. Laura hatte die Senatorin noch nie getroffen, sie kannte lediglich ihr Foto aus der Zeitung.

»Innensenatorin?«, zischte sie Max ins Ohr.

Ihr Partner nickte und seine Lippen formten tonlos: »Na endlich!«

»Kern. Hartung.« Joachim Becksteins Gesicht hatte wieder Farbe angenommen. »Ich möchte, dass Sie beide die Sache übernehmen. Da Sie Marion Schnitzer soeben persönlich kennengelernt haben, können Sie sich denken, dass sie schnelle Ergebnisse erwartet. Ich gebe Ihnen bis heute Abend Zeit, dann will ich den ersten Bericht haben.« Er stoppte kurz und rieb sich das Kinn. »Am besten, Sie nehmen erst einmal den Supermarkt unter die Lupe, in dem Henri Nussbaum verschwunden ist.«

Keine fünfzehn Minuten später fuhren Laura und Max mit ihrem Dienstwagen auf dem Parkplatz des Supermarktes vor, der trotz der frühen Stunde bereits gut gefüllt war. Max lief voraus. Die verwaschenen Jeans und das orangefarbene T-Shirt, das sich eng an den Oberkörper schmiegte, betonten seine muskulöse Figur. Laura entgingen die Blicke einiger Bewunderinnen nicht, die ihren Partner interessiert musterten. Eigentlich war Max ganze fünf Jahre älter als Laura. Doch sie wusste, dass sie in ihrer hochgeschlossenen Bluse und der schlichten Leggins um einiges älter wirkte als er.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der es zwischen ihr und Max fast gefunkt hätte. Er war ein attraktiver Mann: markantes Gesicht, intelligenter Blick, blaue Augen. Seine Frau, Hannah, hatte eine Affäre mit einem anderen Mann begonnen und war aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Laura und Max waren sich in dieser Zeit nähergekommen, doch als es zwischen ihnen ernst wurde, hatte Laura Reißaus genommen und die beginnende Beziehung im Keim erstickt. Max war nach anfänglichem Zweifeln zu Hannah zurückgekehrt. Seine Frau hatte ihre Affäre schnell wieder beendet und stand kurz darauf auf Max’ Türschwelle. Entgegen seines jugendlichen Auftretens war Max ein absoluter Familienmensch, der nicht ohne seine kleine Tochter leben konnte. Deshalb verzieh er Hannah die Affäre und verbannte die aufkeimenden Gefühle für Laura aus seinem Herzen. Laura war zunächst ein wenig gekränkt gewesen, dass Max nicht stärker um sie gekämpft hatte, konnte seinen Wunsch nach einem intakten Familienleben aber nachvollziehen. Außerdem war sie es ja gewesen, die vor der Beziehung mit Max davongelaufen war. Laura führte ein ausgesprochenes Single-Leben. Es fiel ihr schwer, sich anderen zu öffnen. Zwar sehnte sie sich nach Nähe, aber diese Sehnsucht wurde meist durch ihre Angst vor zu enger Bindung zurückgedrängt. Seit sie in dem Pumpwerk gefangen gewesen war, war etwas in ihr zerbrochen. Sie traute ihren Gefühlen nicht mehr. Die Gefahr, dass sie sich abermals irrte und an den Falschen geriet, war einfach zu groß. Damals hatte sie ihrem Entführer vertraut. Das Böse hinter der freundlichen Maske hatte sie übersehen. Natürlich war sie damals noch ein Kind gewesen, aber auch nach all den Jahren war ihr Grundvertrauen in die Menschen nicht zurückgekehrt. Laura ging lieber auf Abstand und konzentrierte sich auf ihren Job. Hier kannte sie sich aus. Wenn sie hart genug arbeitete und voll bei der Sache war, gelang es ihr, sich von ihrer inneren Zerrissenheit abzulenken. Nur einmal hatte sie einen Kollegen zu dicht herangelassen. Max. Vielleicht war es sogar gut gewesen, dass er wieder zu seiner Familie zurückgekehrt war. Eine derartige Geborgenheit hätte Laura ihm nicht bieten können. Auch Max schien das gespürt zu haben, denn seine Trauer über ihren Rückzieher war von Tag zu Tag ein wenig mehr geschwunden. Zurückgeblieben war eine tiefe Vertrautheit und innige Freundschaft, die sie seit nun bald vier Jahren miteinander verband.

Max hatte die gläsernen Eingangstüren des Supermarktes erreicht, die sich automatisch vor ihm öffneten. Die Information befand sich auf der linken Seite und Max lenkte seine Schritte geradewegs auf sie zu. Die Frau hinter dem Tresen schenkte ihm noch nicht einmal Beachtung, als er sich davor aufbaute. Ohne aufzublicken, sortierte sie stapelweise Kassenbelege nach einem undurchschaubaren Muster und heftete sie anschließend zusammen. Max räusperte sich. Als die Frau immer noch nicht reagierte, knallte er seinen Dienstausweis auf den Tisch.

»Guten Morgen, wir möchten mit dem Marktleiter Harald Schuster sprechen.« Seine tiefe Stimme donnerte über den Tresen und die Frau ließ augenblicklich ihre Belege fallen. Ihr Blick erfasste den Ausweis und sie sprang schneller auf, als man es ihrem fülligen Leib zugetraut hätte.

»Schon wieder die Polizei?« Ihre Augen irrten suchend im Supermarkt hin und her. »Einen Moment bitte. Herr Schuster war gerade noch hier. Er müsste irgendwo dort hinten sein.« Ihre Augen scannten den Raum. Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf.

»Ich kann ihn leider nicht entdecken. Ich rufe ihn am besten aus.« Sie griff nach dem Telefonhörer und drückte eine Taste. Kurz darauf ertönte aus den Lautsprechern, die hoch über ihren Köpfen an den Stahlträgern der Supermarktdecke angebracht waren, die Stimme der Frau.

»Herr Schuster, bitte zur Information. Ich wiederhole: Herr Schuster, bitte dringend zur Information.« Dann legte sie den Hörer auf und musterte Max. Ihr Blick wanderte zwischen ihm und Laura hin und her. Mit einem kritischen Unterton in der Stimme fragte sie: »Warum tragen Sie keine Uniform?«

Noch bevor Max antworten konnte, stürzte ein dünner Mann mit Schnurrbart und schütterem Haar auf sie zu. Auf seiner Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet und im Laufen schob er mehrmals seine Brille den Nasenrücken hinauf.

»Was kann ich für Sie tun?« Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Dienstbeflissenheit.

»Die Herrschaften hier sind von der Polizei.« Die Frau an der Information klang immer noch kritisch, hatte jedoch offenbar beschlossen, dass der Fall jetzt für sie erledigt war. Ohne sich weiter um die Besucher zu kümmern, wandte sie sich erneut ihren Kassenbelegen zu.

Laura trat einen Schritt nach vorne und reichte Harald Schuster die Hand, die sich genauso feucht anfühlte, wie seine schweißnasse Stirn es befürchten ließ. Obwohl die Berührung ein Gefühl des Ekels in ihr auslöste, zuckte sie nicht zurück.

»Wir sind hier, um uns die Überwachungsvideos anzusehen, die unsere Kollegen gestern sichergestellt haben.«

Der Marktleiter warf Laura einen irritierten Blick zu. »Ich dachte, Ihre Kollegen hätten das Videomaterial bereits gesichtet.«

Laura erwiderte trocken: »Sie haben es für uns sichergestellt. Wir sind von einer Spezialeinheit des Landeskriminalamts und übernehmen diesen Fall. Wenn Sie also so freundlich wären, uns das Filmmaterial zu zeigen?«

Harald Schuster nickte und führte Laura und Max quer durch den Supermarkt. Als sie an einer Auslage mit frisch duftendem Brot vorbeikamen, meldete sich Lauras Magen und erinnerte sie daran, dass sie am Morgen nicht gefrühstückt hatte. Der Marktleiter führte sie in einen Trakt mit Personalbüros und blieb an einer unauffälligen Tür stehen. Das Polizeisiegel verriet, dass es sich um den Videoraum handeln musste, in dem ihre Kollegen die Überwachungsaufnahmen sichergestellt hatten. Schuster hielt Laura den Schlüssel vor die Nase.

»Dann kann ich Sie ja alleine lassen. Die Videobänder liegen gleich vorne auf dem Tisch.« Als er gehen wollte, hielt Laura ihn auf.

»Ich brauche eine Liste aller Mitarbeiter, die während der letzten sechs Tage hier Dienst hatten.«

Schuster drehte sich um und nickte.

»Und vergessen Sie bitte nicht, auch die Dienstleister aufzulisten, die den Markt in diesem Zeitraum beliefert haben«, fügte Max hinzu.

Schuster nickte abermals und lief dann schnellen Schrittes zurück in den öffentlich zugänglichen Teil des Supermarktes.

Laura steckte den Schlüssel ins Schloss und brach das Polizeisiegel auf. Ein muffiger Geruch schlug ihnen entgegen. Der Raum war klein und fensterlos. Acht Monitore bedeckten fast die komplette Fläche der gegenüberliegenden Wand. Davor stand ein Tisch mit einem Karton. Laura kramte eines der Videobänder heraus und starrte unglücklich darauf. Eigentlich hatte sie gehofft, digitale Aufnahmen vorzufinden. Das hätte das Sichten des Materials erheblich vereinfacht. Die Bilder auf klassischen Videobändern ließen sich nicht gut vergrößern. Die Aufnahmequalität war einfach viel zu schlecht.

»Wir sollten die Bänder von Ben checken lassen.«

Max verdrehte die Augen.

»Ach komm schon, Max. Er ist wirklich gut. Ben kann versuchen, die Aufnahmen zu vergrößern. Das erhöht unsere Chancen auf einen Treffer enorm.« Laura stupste Max aufmunternd an, doch dieser hatte eine eisige Miene aufgesetzt.

»Außerdem habe ich keine Lust, den Tag in dieser muffigen Abstellkammer zu verbringen. Wir könnten auf dem Rückweg bei Schneiders vorbeifahren. Ich besorge Schokomuffins«, fügte Laura lächelnd hinzu.

Sie wusste, dass Max jegliche Zusammenarbeit mit dem Leiter des Kriminallabors vermied. Ben Schumacher war es gewesen, mit dem seine Frau Hannah ihn damals betrogen hatte. Max hatte die beiden in flagranti auf einem Labortisch erwischt. Er war völlig ausgerastet und hatte Ben mehrere Faustschläge mitten ins Gesicht verpasst. Nach dem ersten Schock hatte Ben allerdings genauso heftig zurückgeschlagen. Beide trugen etliche Platzwunden davon, die sogar genäht werden mussten. Nach diesem Vorfall hatte Hannah sich gegen ihn entschieden und verließ innerhalb nur einer Woche die gemeinsame Wohnung, um bei Ben einzuziehen.

Dr. Ben Schumacher war das genaue Gegenteil von Max. Promovierter Physiker und Computerfreak – ein detailverliebter Wissenschaftler zwischen Genie und Wahnsinn. Max hingegen war ein Freigeist. Ein kreativer Überflieger, der nie zu tief ins Kleinteilige abtauchte. Laura seufzte und wartete auf die Reaktion ihres Partners. Immerhin schien das Wort Schokomuffins eine kleine Gefühlsregung in ihm auszulösen. Er kratzte sich hinter dem Ohr und ergriff schließlich den Karton mit den Überwachungsvideos.

»Dann lass uns fahren, bevor der Bäcker leer gekauft ist.«

Die Muffins waren herrlich. Laura fiel über sie her, als wäre es die letzte Mahlzeit ihres Lebens. Ihr Magen dankte ihr das verspätete Frühstück mit einem zufriedenen Grummeln.

Dr. Ben Schumacher hatte bereits das erste Videoband in sein Analysegerät eingelegt. Der graue Kasten wirkte eher wie ein überdimensionaler PC anstatt eines Videorekorders. Eine schwarze Klappe verschluckte das Tape mit lautem Surren und ein paar Sekunden später erschienen die ersten flackernden Bilder. Trotz der veralteten Technik verfügte der Supermarkt über eine Vierundzwanzig-Stunden-Überwachung. Die Aufnahmen wurden alle sieben Tage überschrieben. Weiter konnten sie also nicht in die Vergangenheit schauen. Laura war sich noch nicht sicher, ob dieser Punkt von Relevanz war. Bei den meisten Entführungsfällen spionierten die Täter ihre Opfer wochen-, ja sogar monatelang vorher aus. So lange, bis sie jedes Detail des Tagesablaufs kannten und in genau dem Moment zuschlagen konnten, in dem ihr Opfer am wenigsten damit rechnete. Die Mutter des entführten Babys hatte allerdings angegeben, zum ersten Mal in diesem Supermarkt eingekauft zu haben. Dieser Umstand passte nicht ins Muster eines klassischen Entführungsfalls. Genauso wenig wie die Tatsache, dass der oder die Täter immer noch keinen Kontakt zu den Eltern aufgenommen hatten, um ihre Lösegeldforderung zu stellen.

Trotz der leckeren Muffins zog sich Lauras Magen zusammen. Diese Entführung verlief völlig anders als ihre bisherigen Fälle. Wenn sie auf den Überwachungsvideos keine brauchbare Spur entdeckten, befürchtete Laura das Schlimmste. Denn wenn es sich im Fall Henri Nussbaum nicht um eine Entführung mit Erpressungsversuch handelte, mussten sie annehmen, dass der Täter ein Kinderschänder oder gar ein Mörder war. Die Konsequenzen mochte Laura sich gar nicht ausmalen.

Die Videoaufnahme begann am Tag der Entführung genau um 00:00 Uhr. Der Markt war gespenstisch leer. Die flackernden Notleuchten an den Ausgängen und Deckenpfeilern ließen unheimliche Schatten durch die engen Regalreihen tanzen. Mehr als einmal glaubte Laura, eine Gestalt zu sehen, die sich an den Regalen zu schaffen machte. Nachdem sie die ersten dreißig Minuten wortlos auf den Bildschirm gestarrt hatten, bat Laura Ben, das Video zu beschleunigen.

»Ich denke, wir können das Band bis zur Öffnung des Supermarktes vorspulen. Im Protokoll des Sicherheitsdienstes stand, dass der erste Mitarbeiter etwa dreißig Minuten vor Ladenöffnung den Markt betreten hat.«

»Um welche Uhrzeit fand die Entführung denn genau statt?«, fragte Ben, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.

Laura blätterte in ihren Unterlagen. »Das war gegen 9:30 Uhr.«

»Okay«, erwiderte Ben und spulte das Band vor. Ab 8:30 Uhr ließ er die Aufnahme weiterlaufen. Zunächst passierte überhaupt nichts. Laura starrte auf den Monitor. Ihre Augen waren schon ganz trocken und sie musste öfter blinzeln. Endlich sah sie, wie ein junger Mann auf die Eingangstüren des Supermarktes zulief und von innen auf die Straße hinausspähte. Kurz darauf verschwand er wieder. Er zog sich in einen Teil des Raumes zurück, der nicht von den Kameras erfasst wurde. Laura erinnerte sich, dass an dieser Stelle die Personalräume lagen, die nicht überwacht werden durften.