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Meiner Mutter gewidmet, die sieben Jahre lang gegen einen bösartigen Tumor gekämpft, drei Operationen, mehrfache Chemotherapien und große Schmerzen erlitten hat und doch verlor. Heute hätte man sie wahrscheinlich heilen können.

ISBN 978-3-492-97476-9

August 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Covermotiv: Aliaksandra/Fotolia

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Altusried-Krugzell

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Ein Vorwort, das Sie unbedingt lesen sollten

Frau H. ist eine kluge, aktive, mitten im Leben stehende 55-Jährige, die ein Antiquitätengeschäft führt. Vor einiger Zeit wurde bei ihr ein Darmtumor festgestellt. Nach der entsprechenden Diagnostik habe ich sie minimalinvasiv – also mit der sogenannten Schlüssellochtechnik – operiert. Alles ist gut gegangen, und der Tumor konnte ganz entfernt werden. Die Lymphknoten waren nicht befallen, eine weitere Chemotherapie war vorerst nicht notwendig. Die Prognose für Frau H. ist sehr gut, die Wahrscheinlichkeit, diese zweifelsohne gefährliche Erkrankung zu überleben, liegt bei 80 bis 90 Prozent. Einerseits ist Frau H. natürlich erleichtert darüber, dass bei diesem Krebs die Heilungschancen insgesamt sehr gut sind. Was sie allerdings beschäftigt, ist die Tatsache, dass die Sache statistisch gesehen für etwa 20 Prozent der Betroffenen eben nicht gut ausgeht. Wie soll sie mit ihrer Angst und Unsicherheit umgehen? Sie fragt mich ganz direkt: »Soll ich gottergeben und still hoffen, dass ich schon zu den 80 bis 90 Prozent gehören werde? Oder gibt es etwas, das ich aktiv tun kann, damit ich wirklich zu denjenigen gehöre, die diese Krankheit besiegen?«

Wie Frau H. stellen sich viele Betroffene und Angehörige diese und ähnliche Fragen: Was kann ich als Krebspatient tun, um diese Krankheit zu überwinden? Wie kann ich als Partner helfen, die Lebensfreude des Erkrankten trotz teils belastender Therapien zu erhalten und ihn/sie auf dem Weg zu einer Heilung zu unterstützen?

Als behandelnder Chirurg habe ich diese Fragen unzählige Male gehört. Ich kenne die Sorgen und Ängste, die mit einer Krebsdiagnose verbunden sind, seit beinahe fünf Jahrzehnten. Als ich vor 45 Jahren mit meinem Medizinstudium begann, kam die Diagnose Krebs einem Todesurteil gleich. Das hat sich inzwischen bei vielen Krebserkrankungen glücklicherweise entscheidend geändert. Seit einigen Jahren gibt es auf die Frage, ob man aktiv etwas gegen Krebs tun kann, tatsächlich zunehmend positive und Mut machende Antworten. Nichtsdestotrotz ist die Diagnose Krebs für fast alle Patienten und ihre Angehörigen ein Schock; alle Lebenspläne werden von einem Tag auf den anderen über den Haufen geworfen, und man wird mit seiner Endlichkeit konfrontiert.

Wie einschneidend ein solches Erlebnis ist, habe ich selbst ganz unmittelbar erlebt. Ich war noch ein junger Medizinstudent, als meine Mutter an Krebs erkrankte. Sieben Jahre lang kämpfte sie tapfer dagegen an. Sie unterzog sich vielen schweren Operationen, durchlitt alle möglichen Chemotherapien – und erlag letztendlich doch ihrer Krebserkrankung. Ihre Schmerzen, Ängste, Zweifel und ihre Hoffnungslosigkeit am Ende ihres Lebens sind mir immer noch in wacher Erinnerung. Mit dem Wissen und den medizinischen Methoden von heute hätte sie wahrscheinlich geheilt werden können.

Dass Patienten heute vielfach geheilt werden können – der Krebs also nicht wiederkommt –, liegt im Wesentlichen an den medizinischen Fortschritten allgemein, aber auch an einer besseren Früherkennung durch Vorsorgeuntersuchungen. Hilfreich ist ebenfalls, dass Krebserkrankungen mittlerweile meist interdisziplinär behandelt werden. Das bedeutet, dass Fachleute aus verschiedenen medizinischen Disziplinen zusammenkommen – etwa in einer Tumorkonferenz – und für den/die Patienten/in eine »maßgeschneiderte Therapie« festlegen. Mit neuen Medikamenten können Tumore außerdem noch gezielter behandelt werden (man spricht hier von der »targeted therapy«, der »zielgerichteten Therapie«). All diese therapeutischen Erfolge der letzten Jahre wurden in zahlreichen wissenschaftlichen Studien im Rahmen der häufig gescholtenen »Schulmedizin« nachgewiesen.

Auch ich bin ein klassischer »Schulmediziner vom Scheitel bis zur Sohle« und habe nach meinem Studium nahezu 20 Jahre in Forschungsinstituten und an chirurgischen Universitätskliniken zugebracht. Als Assistenz- und später als Oberarzt habe ich die Fortschritte in der Tumortherapie, die sich meist in kleinen Schritten vollzogen, miterlebt und Gelerntes und Erfahrenes 18 Jahre lang als Chefarzt und Ärztlicher Direktor einer großen chirurgischen Abteilung in der Praxis umgesetzt.

Als Chirurg aber – insbesondere, wenn ein Eingriff gut und komplikationslos verlaufen ist – sieht man seine Patienten selten wieder. Seine Aufgabe endet zumeist nach Entlassung der Betroffenen aus der stationären Behandlung. Die Weiterbehandlung übernehmen andere, etwa Hausärzte und Onkologen. Für mich änderte sich diese »Aufgabenteilung« erst, als ich vor elf Jahren zur Jahrestagung des »Arbeitskreises der Pankreatektomierten« eingeladen wurde. Diese sehr aktive Laienorganisation kümmert sich um Menschen mit Bauchspeicheldrüsenerkrankungen, speziell um solche, die an der Bauchspeicheldrüse operiert wurden. Auf jener Jahrestagung informierten Ärzte Patienten und ihre Angehörigen über postoperative Nachsorgemöglichkeiten. Die Referenten, allesamt Experten auf ihrem Gebiet, kamen nüchtern zu dem Schluss, dass eine Nachsorge nicht sinnvoll sei und Patienten nur bei erneutem Auftreten von Symptomen bei einem Arzt vorstellig werden sollten.

Unter den Zuhörern brach ein Sturm der Entrüstung los; die Betroffenen fühlten sich von den Ärzten unverstanden und vor allem allein gelassen.

In den nachfolgenden Gesprächen wurde mir klar, dass viele Patienten auch nach einer (erfolgreichen) Krebstherapie weiter an anhaltenden Beschwerden leiden. Es war mir zwar bekannt, dass Patienten abhängig von der Tumorerkrankung beispielsweise Probleme haben, sich richtig und ausreichend zu ernähren. Auch dass ihre körperliche Leistungsfähigkeit nach wie vor deutlich eingeschränkt ist, wusste ich. Viele können der beruflichen Belastung nicht mehr wie früher standhalten und haben Konzentrationsschwächen. Sie geraten in eine Negativspirale, die Angstzustände und Depressionen nach sich zieht, wodurch die Lebensqualität zusätzlich gemindert wird. Hinzu kommt häufig ein Gefühl der Müdigkeit oder Mattigkeit, das sich auch durch ausreichend Ruhe und Schlaf nicht bessert.

Dennoch war diese Tagung für mich gleichsam die Initialzündung, mich eingehender mit den Beschwerden von Patienten nach einer Krebstherapie zu beschäftigen. Denn auch wenn eine Tumorerkrankung überstanden ist, sind die Betroffenen noch lange nicht gesund. Um dies zu erreichen, bedarf es nicht nur gut informierter, einfühlsamer Ärzte und Therapeuten, sondern auch der tätigen Mithilfe der Patienten selbst und ihrer Angehörigen.

In den vergangenen Jahren habe ich mich intensiv mit der Frage beschäftigt, was Patienten tun können, um den Teufelskreis von Mattigkeit, Depression und körperlicher Inaktivität zu durchbrechen, in den viele nach Diagnosestellung geraten. Aus dieser Beschäftigung entstand mit der Zeit der Wunsch, dieses Buch zu schreiben.

Wenn man mit einer Krebsdiagnose konfrontiert wird, sieht man eine Welle von Fragen auf sich zurollen. Es ist nicht einfach, sich in der Fülle an Informationen zurechtzufinden und Antworten auf relevante Fragen und spezielle Aspekte der Erkrankung zu finden. Das Internet mit seiner übergroßen Informationsflut ist nicht immer hilfreich, und der Laie kann sich selten schnell einen wissenschaftlich fundierten Überblick verschaffen. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien sind wiederum nicht allen zugängig bzw. für den Patienten nicht wirklich verständlich und zielführend. Daher will ich Ihnen mit diesem Buch zunächst einen Überblick über die Vielzahl der klinischen Studien verschaffen, deren Ergebnisse ich entsprechend analysiere und einordne. Es sind Studien, die sich zum Beispiel mit Fragen zu körperlicher Aktivität, Ernährung und seelischem Gleichgewicht beschäftigen. Darüber hinaus werde ich auch auf Patientenstudien eingehen, bei denen der Krankheitsverlauf nachträglich untersucht wurde (retrospektive Beobachtungsstudien). Sie haben zwar nicht die gleiche Beweiskraft, ihre Ergebnisse erscheinen mir aber bemerkenswert (hier werde ich jeweils auf die notwendigen Vorbehalte eingehen).

Häufig werden in Büchern und Publikationen zum Thema Krebs wissenschaftliche Studien mit Zellkulturen und Labormäusen beschrieben; sie dienen als Grundlage, um daraus Empfehlungen für Patienten abzuleiten. Da die Ergebnisse solcher Studien aber häufig nicht auf den Menschen oder eine spezielle klinische Situation übertragbar sind, werde ich diese Studien nur selten und unter Vorbehalt erwähnen. Mit einfließen werden dagegen natürlich meine langjährigen Erfahrungen als Chirurg und Arzt; die Fallbeispiele in diesem Buch sind allesamt reale, erlebte Fälle aus meiner ärztlichen Praxis.

Das Programm »Aktiv leben gegen den Krebs«, das ich Ihnen auf den folgenden Seiten vorstellen werde, soll Ihnen aufzeigen, welche mannigfaltigen Möglichkeiten Sie haben, aktiv gegen bzw. mit dem Krebs zu leben: Wie Sie körperlich aktiv sein, sich gesund ernähren und mit seelischen Problemen besser zurechtkommen können. Die sogenannte optimierte Krebstherapie umfasst daher auch drei Säulen – Bewegung, Ernährung und psychoonkologische Begleitung. Diesen Säulen entsprechend ist das Buch in drei große Teile gegliedert, in Teil IV gehe ich noch einmal konkret auf die optimierte Krebstherapie bei verschiedenen Tumorarten ein.

Ich möchte anhand der wissenschaftlichen Daten mit Mythen, Gerüchten, falschen Behauptungen oder »allein seligmachenden« Versprechungen aufräumen – und Ihnen zeigen, wie Sie wieder das »Heft in die Hand nehmen« können. Wie Sie auch nach der Diagnose Krebs Ihre Autonomie und Selbstständigkeit wiedererlangen, und wie Sie sich, natürlich mit Unterstützung Ihrer behandelnden Ärzte, ein Stück weit selbst helfen können.

Dieses Buch ersetzt nicht eine normale, wissenschaftlich anerkannte (schulmedizinische) Therapie gegen Ihre Krebserkrankung. Aber es zeigt Ihnen, wie Sie ohne größeren Aufwand die notwendigen Behandlungen besser überstehen und wie Sie Ihre Lebensqualität erhalten oder wieder steigern können. Kurz: Wie Sie Ihre Prognose insgesamt deutlich verbessern können, indem Sie durch aktives Zutun Ihre Krebstherapie optimieren und so dazu beitragen können, den Krebs zu »besiegen«. Zweifelsohne ist Krebs nach wie vor eine bedrohliche Erkrankung – aber aufgrund der medizinischen und therapeutischen Fortschritte muss er kein unabwendbares Schicksal mehr sein. Was Sie brauchen, ist ein bisschen Mut, Selbstvertrauen und die Motivation, alle Möglichkeiten auszuschöpfen!

Todesurteil auf Raten

Viele Patienten empfinden die Diagnose Krebs als »Todesurteil auf Raten«. Das Leben steht plötzlich still, alle Pläne müssen neu überdacht werden, die Zukunft ist völlig ungewiss, man rutscht in einen regelrechten Schockzustand.

Auf den ersten Blick erscheint die Angst vor dem vermeintlich sicheren Tod in naher Zukunft berechtigt. Aktuell sind Krebserkrankungen nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache in Deutschland. Bei Frauen liegt dabei der Brustkrebs an der Spitze, bei Männern ist es der Prostatakrebs. Bei Frauen wie Männern rangiert Darmkrebs an zweiter Stelle. Weitere häufige Krebserkrankungen sind Lungen-, Harnblasen-, Magen- und Nierenkrebs bei Männern sowie Gebärmutter- und Eierstockkrebs bei Frauen. Diese Krebsarten sind für drei Viertel aller Tumorerkrankungen bei Männern und für über zwei Drittel der Tumorerkrankungen bei Frauen verantwortlich.

Die Überlebensraten der verschiedenen Krebserkrankungen unterscheiden sich erheblich – je nachdem, wo und an welchem Tumor man erkrankt ist. Insgesamt aber hat sich die Prognose für Krebspatientinnen und -patienten in Deutschland erheblich verbessert. In den 1980er-Jahren lag sie bei Frauen bei etwa 50 Prozent, bei Männern bei unter 40 Prozent. Seitdem haben die Fortschritte bei der Früherkennung und der Therapie von bösartigen Tumoren zu einem Anstieg der Fünf-Jahres-Überlebensraten bei Frauen auf 64 Prozent und bei Männern auf 59 Prozent geführt. Neueste Statistiken gehen sogar von einer Gesamtüberlebensrate von 68 Prozent für Krebspatienten aus.1 Von »Fünf-Jahres-Überlebensrate« spricht man deshalb, weil epidemiologische Langzeituntersuchungen belegen, dass nach diesem Zeitraum die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass ein Krebspatient beschwerdefrei ist und sich kein Nachweis eines neuerlichen Tumors finden lässt. Damit gilt er als »geheilt«.

Abb. 1: Organbezogene Verteilung der Krebsneuerkrankungen in Deutschland 2012. Quelle: Robert Koch-Institut und die Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e.V. (Hrsg.). Berlin 2015.

Die Prognosen zu den unterschiedlichen Krebsarten weisen allerdings nach wie vor erhebliche Unterschiede auf. Die positive Entwicklung zeigt sich am deutlichsten bei Tumoren der Brustdrüse, des Darms und der Prostata. Die Zahl der Sterbefälle bei Brustkrebs etwa sank seit Mitte der 1990er-Jahre deutlich; das heißt, immer weniger Frauen, die an Brustkrebs erkranken, sterben daran. Bei ihnen liegt die Fünf-Jahres-Überlebensrate derzeit bei 86 bis 90 Prozent.2 Fünf Jahre nach Diagnosestellung leben demnach noch mehr als vier Fünftel der erkrankten Frauen. Bei frühen Formen der bösartigen Melanome der Haut, bei Hodenkrebs und mittlerweile auch bei Prostatakrebs liegt die Wahrscheinlichkeit, die Krankheit zu überstehen, sogar bei über 90 Prozent.

Diese positive Entwicklung ist leider nicht bei allen Krebsarten zu verzeichnen. Die Überlebensraten bei Lungen- und Speiseröhrenkrebs liegen bei unter 20 Prozent. Bei bösartigen Tumoren der Bauchspeicheldrüse und beim sogenannten Mesotheliom, einer Erkrankung des Rippen- und Bauchfells, die häufig durch Asbest ausgelöst wird, liegen sie insgesamt sogar bei unter 10 Prozent. Was auch damit zusammenhängen mag, dass diese Tumorerkrankungen häufig zu spät erkannt werden.

Als Folge der allgemein verbesserten Prognose bösartiger Erkrankungen steigt konsequenterweise die Zahl der Patienten, die eine Krebserkrankung überleben, kontinuierlich an. Und das ist eine gute Nachricht.3 In der angelsächsischen Literatur nimmt man an, dass etwa 4 Prozent der Gesamtbevölkerung sogenannte cancer survivors, also Überlebende einer Tumorerkrankung, sind.4 In den USA etwa lebten im Jahr 2012 13,7 Millionen Krebsüberlebende. Übertragen auf Deutschland mit einer Bevölkerungszahl von 81 Millionen Menschen hieße dies, dass etwa 3,24 Millionen Patienten hierzulande eine Krebserkrankung überlebt haben. Möglicherweise ist diese Patientengruppe in Deutschland sogar prozentual größer, da die gesundheitliche Versorgung und die soziale Unterstützung für alle Bevölkerungsschichten besser organisiert ist als in den USA.

Abb. 2: Vergleich der relativen Fünf-Jahres-Überlebensraten, nach Lokalisation und Geschlecht, Deutschland 2011/2012 (Periodenanalyse). Quelle: Krebs in Deutschland 2011/2012. 10. Ausgabe. Robert Koch-Institut und die Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e.V. (Hrsg.). Berlin 2015.

Auch wenn bei einigen Krebserkrankungen und Tumorarten noch viel Forschungsbedarf besteht, um auch hier die Prognose zu verbessen, ist es insgesamt eine sehr gute Nachricht, dass die Zahl der Patienten, die eine Krebserkrankung überleben, kontinuierlich wächst. Diese positive Entwicklung bei der Krebstherapie ist einerseits Anlass zur Ermutigung, konfrontiert uns Ärzte und andere Therapeuten andererseits aber mit einem neuen »Krankheitsbild«. Häufig leiden Krebspatienten nicht nur durch die Erkrankung, sondern auch durch die notwendigen Therapien (Chemotherapie, Bestrahlung, Operation etc.) an erheblichen Einschränkungen ihrer Lebensqualität.5 Das liegt zum einen an den Nebenwirkungen der zum Teil sehr belastenden Therapien. Zum anderen bringt die Konfrontation mit einer schwerwiegenden, lebensbedrohlichen Erkrankung eine große psychische Belastung mit sich. Angststörungen, Depressionen, aber auch Wut und sozialer Rückzug können die Folge sein.6 Vielen Betroffenen fallen aufgrund dieser seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen nicht nur ganz alltägliche Aufgaben schwer, auch eine Rückkehr in den Beruf ist vielfach mit enormen Belastungen verbunden, manchmal gar unmöglich.7

Diese verdammte Mattigkeit

Frau A. kam in meine Sprechstunde, um die Ursache eines hartnäckigen Durchfalls abklären zu lassen. Sie war vor etlichen Jahren an Gebärmutterkrebs erkrankt und hatte die Therapiephase mit Operation und Bestrahlung gut überstanden. Inzwischen arbeitete die alleinstehende und kinderlose Frau wieder als Bankangestellte.

Ihr Hausarzt hatte sie an mich verwiesen, da er den Verdacht hegte, Verwachsungen könnten der Grund für ihre Beschwerden sein. Nach einer eingehenden Befragung zu Symptomen und zeitlicher Dauer der Beschwerden folgte eine körperliche Untersuchung. Die OP-Narben waren unauffällig, insgesamt sah ich keinen Zusammenhang zu irgendwelchen Folgeerscheinungen der Krebsoperation. Ich fragte die Patientin nach seelischen Belastungen und nach beruflichem Stress. Von einer Sekunde auf die nächste brach Frau A. in Tränen aus. Sie verspürte gar keine Lebensfreude mehr, sie hatte Angst, sich mit ihren Freunden zu treffen, weil sie die ständigen Fragen nach ihrem Befinden belasten würden. Die Kollegen in der Bank seien zwar verständnisvoll und übten auch keinerlei Druck aus, aber sie selbst würde ihrem Anspruch an Leistung und Genauigkeit nicht mehr gerecht. Alles falle ihr schwer, sie schlafe schlecht und leide chronisch an Müdigkeit.

Diese Symptome sind leider sehr typisch, werden von uns Ärzten aber erst seit Kurzem in ihrer ganzen Breite wahrgenommen – als häufige Beschwerden von Krebspatienten und -überlebenden. Abhängig von der Erkrankung, der Art der begleitenden Therapie und der Offenheit der Patienten kann man davon ausgehen, dass 60 bis 80 Prozent an Symptomen wie Müdigkeit, Erschöpfung, Schlafstörungen, Gewichtsabnahme oder -zunahme und Durchfall leiden. Diese körperlichen Beschwerden führen zu oder werden begleitet von psychologischen Symptomen wie Depressionen, Angststörungen und Niedergeschlagenheit.

Häufig sind diese Beschwerden sogar Ausdruck einer eigenständigen Erkrankung, die als Fatigue bezeichnet wird. Fatigue ist ein Begriff aus dem Französischen und bedeutet Müdigkeit, Mattigkeit und ein andauerndes Gefühl der Erschöpfung. Ist dieser Zustand durch eine Krebserkrankung ausgelöst, spricht man von einer »krebsinduzierten Fatigue«.

David Cella, ein amerikanischer klinischer Psychologe, definierte diesen Zustand bereits im Jahr 1995 wie folgt: »Die Tumorerschöpfung, auch ›Fatigue‹ genannt, bedeutet eine außerordentliche Müdigkeit, mangelnde Energiereserven oder ein massiv erhöhtes Ruhebedürfnis, das absolut unverhältnismäßig zu vorangegangenen Aktivitäten ist.«8

Die Fatigue hat zunächst eine körperliche Dimension. Sie ist geprägt durch ein vermehrtes Bedürfnis nach Ruhe trotz ausreichender Erholungs- und Schlafphasen. Zu diesen körperlichen Beschwerden kommt noch eine seelische Komponente hinzu. Patienten mit Fatigue sind häufig antriebslos, schlecht zu motivieren und erscheinen depressiv. Eine Negativspirale setzt sich in Gang, die Probleme verstärken sich gegenseitig. Wer müde ist, bewegt sich naturgemäß weniger. Bewegungsmangel wiederum verschlechtert die Leistungsfähigkeit, (Muskel-)Schwäche und Mattigkeit nehmen zu, und der Betroffene wird immer inaktiver und verharrt in einer Art »Schonhaltung«.9 Auf mentaler Ebene sind die Patienten häufig unkonzentriert und haben sogenannte Wortfindungsstörungen, also Schwierigkeiten, den passenden Ausdruck zu finden. Solche »Aussetzer« können den Betroffen verunsichern und zu einem sozialen Rückzug führen.

Die krebsinduzierte Fatigue tritt nicht nur während der primären Therapiephase auf, sondern noch Monate und selbst Jahre danach. Abhängig von der Krebsdiagnose und der nachfolgenden Therapie können diese Beschwerden bei nahezu allen Patienten auftreten. Bei jenen, die eine besonders belastende Chemo- und/oder Strahlentherapie bekommen, ist dieses Gefühl der Mattigkeit allerdings besonders häufig und ausgeprägt.10

Wie sehr die Auswirkungen der Fatigue selbst von Therapeuten unterschätzt werden, zeigen einige Zahlen: Zum Zeitpunkt der Diagnose klagten laut einer holländischen Untersuchung 40 Prozent der Patienten über Fatigue-Symptome. Unter Chemotherapie waren es sogar 80 Prozent, unter Strahlentherapie 90 Prozent der Patienten. 52 Prozent der Betroffenen empfanden die krebsinduzierte Fatigue quälender und belastender als Schmerzen.11 Für die behandelnden Ärzte war das eine Überraschung: Sie waren der Meinung, dass Schmerzen im Vordergrund stehen würden und höchstens 5 Prozent ihrer Patienten die Fatigue als besonders einschränkend empfinden würden.

Auch nach Therapieende – wie gesagt, oft Jahre später und obwohl die Krankheit längst überwunden ist – leiden verschiedenen Studien zufolge zwischen 33 und 53 Prozent der Patienten an diesen oder ähnlichen Symptomen. Vermutlich müssen wir sogar von einem noch höheren Prozentsatz ausgehen, da der Zusammenhang zwischen überwundener Tumorerkrankung und Fatigue von vielen Patienten und ihren Angehörigen nicht verstanden und von Ärzten vielfach nicht erkannt wird. Die Betroffenen vermuten in der Regel, dass die rasche Ermüdbarkeit mit ihrer Verunsicherung, ihren Ängsten und der gefühlten Perspektivlosigkeit zu erklären ist, und wollen weder ihren Partner noch ihren Therapeuten damit belästigen.

Ehepaar K. bittet um einen Termin. Vor einem Jahr musste bei Herrn K. wegen eines Tumors der gesamte Magen entfernt werden. Das Ehepaar erscheint gemeinsam in der Sprechstunde, und Herr K. sitzt wie ein Häufchen Elend vor mir, es geht ihm sichtlich nicht gut. Frau K., eine tüchtige schwäbische Hausfrau, ist verzweifelt. Sie kocht ihrem Mann die schönsten Mahlzeiten, sein Lieblingsessen in kleinen Portionen, wie ihr das empfohlen wurde, natürlich mit »Spätzle«, die er vor seiner Erkrankung und der Operation immer so gern gegessen hatte – aber er hat einfach keinen Appetit! Er nimmt nicht zu, »wird immer weniger«, wie sie sagt.

Während Frau K. unablässig redet, sitzt er einfach nur stumm und starr da. Gleichwohl habe ich das diffuse Gefühl, dass Herr K. reden will. Und zwar mit mir alleine. Unter einem Vorwand lotse ich seine Frau aus dem Sprechzimmer. Kaum hat sie die Tür hinter sich geschlossen, bricht es aus ihm heraus. Die ständigen Ermahnungen, mehr zu essen, und die tägliche Gewichtskontrolle seien für ihn eine Tortur – wieder ein Pfund verloren. Schuldgefühle auf beiden Seiten belasten inzwischen die sonst völlig intakte Ehe. Herr K. fühlt sich müde und matt, er ist lustlos, befürchtet aber, seine Frau noch mehr in Verzweiflung zu stürzen, wenn er ihr seine täglichen Beschwerden oder seine Ängste mitteilen würde. Also hält er lieber den Mund und hofft, sich damit etwas Ruhe erkaufen zu können.

Als Frau K. zurückkommt, will sie von mir wissen, was sie besser machen kann, damit ihr Mann nicht noch weiter an Gewicht verliert. Ich frage sie, wann sie das letzte Mal mit ihrem Mann über den Magenkrebs, seine Beschwerden, Ängste und Wünsche geredet hat. Es stellt sich heraus, dass sie das Thema so gut es geht meidet, weil sie Angst hat, ihn mit solchen Gesprächen zu belasten und ihm die Hoffnung zu nehmen. Und über all dem schwebt die schreckliche Angst, ihn zu verlieren. Trotz einer über 37-jährigen glücklichen Ehe mit Kindern und auch schon Enkelkindern verharren beide schweigend nebeneinander, jeder von eigenen Ängsten und Sorgen um den anderen belastet. Dabei wäre ein gutes Gespräch so wichtig und hilfreich für beide – und vielleicht würden die Spätzle danach auch wieder besser schmecken.

Solche Situationen habe ich Dutzende Male erlebt. Man möchte den Betroffenen/den Partner nicht belasten, man möchte ihn/sie schützen – und schweigt. Das Schweigen führt zu weiterer Verunsicherung, zu weiteren Ängsten. Ich bin überzeugt, dass ein offenes Gespräch nicht nur befreiend sein kann, sondern auch ein initialer Schritt dahingehend, der Fatigue insgesamt entgegenzutreten. Denn wer über seine Symptome spricht, sie vor allem auch vor den behandelnden Ärzten nicht verbirgt, kann auf Unterstützung zählen.

Die Gründe dieser Fatigue-Erkrankung sind derzeit noch unklar. Neben einfach messbaren Veränderungen wie Blutarmut (Anämie) oder einer Entgleisung von Spurenelementen und Elektrolyten werden die Auswirkungen der Chemo- und Strahlentherapie (etwa hormonelle Veränderungen), aber auch Entzündungsreaktionen und bereits bestehende Erkrankungen, die zunächst nicht mit der Krebserkrankung im Zusammenhang stehen, aber die Beschwerden verstärken, dafür verantwortlich gemacht. Sicherlich spielen auch psychologische Faktoren eine gewichtige Rolle.

Bei so vielen potenziellen »Auslösern« für eine Erkrankung verwenden wir Mediziner gerne den Ausdruck »die Krankheit ist multifaktoriell«. Wann immer eine Krankheitsursache als multifaktoriell bezeichnet wird, gilt der schöne bayerische Satz: »Nichts Genaues weiß man nicht.« Mit anderen Worten: Man tappt ein wenig im Dunkeln, weitere Forschung ist dringend erforderlich, um das Krankheitsbild aufzuklären und es besser, also zielgerichteter, behandeln zu können.

Zu dieser Vielgestaltigkeit kommt zu allem Überfluss, dass sich die Fatigue nur schwer von anderen Veränderungen und Krankheiten abgrenzen lässt. So ist häufig nur schwer auszumachen, ob bei einem Patienten Fatigue, eine Depression oder eine seelische Veränderung vorliegt, die Chemobrain genannt wird. So wird eine Beeinträchtigung der geistigen und intellektuellen Fähigkeiten eines Patienten während einer Chemotherapie bezeichnet. Zu den Symptomen, mit denen Betroffene mit einem Chemobrain zu kämpfen haben, zählen: Gedächtnislücken, verringerte Merkfähigkeit, was sich beispielsweise durch das Verlegen und Verlieren von Geldbörsen oder Schlüsseln äußert, die extrem reduzierte Fähigkeit, mehr als eine Aufgabe gleichzeitig zu bewältigen, Schwierigkeiten, mit neuen Situationen und unvorhergesehen auftretenden Belastungen umzugehen, sowie ganz allgemein Konzentrationsschwäche, Desorganisation und verlangsamtes Denken und Entscheiden.

All diese Symptome sind auch bei Fatigue feststellbar, ebenso bei verschiedenen Formen der Depression. Darüber hinaus beeinflussen sich die einzelnen Krankheitszustände gegenseitig. So ist mehrfach festgestellt worden, dass Fatigue sehr viel intensiver und auch häufiger bei Patienten auftritt, die bereits vor der Krebserkrankung depressiv waren.12

Fatigue ist nicht nur für den Patienten, sondern auch für das soziale Umfeld, für den Partner und Freunde eine große Belastung – so wie für das Ehepaar K. Wie in ihrem Fall wird es besonders schwierig, wenn der Patient die Therapiephase mit all ihren Schwierigkeiten hinter sich gelassen, also überstanden hat. Der Patient und seine Angehörigen wollen nun wieder zu einem weitgehend »normalen« Leben zurückkehren. Doch das ist in vielen Fällen nicht so einfach.

Die Partnerschaft war bereits in der Phase der Erkrankung stark belastet und muss jetzt wieder neu definiert werden. Freunde haben sich hoffentlich als solche erwiesen, manche werden sich aber (vielleicht aus eigener Überforderung) auch zurückgezogen haben. Da sind Enttäuschungen vorprogrammiert, das ganze soziale Umfeld muss neu geordnet werden. Auch beruflich kann, abhängig von der Ausprägung der Fatigue, das Wieder-Tritt-Fassen sehr erschwert werden. Neben der körperlichen Einschränkung durch rasche Ermüdbarkeit ist, wie bereits erwähnt, häufig auch die Konzentrations-, Merk- und Denkfähigkeit deutlich schlechter als vor der Erkrankung.

Es gibt zwar die Möglichkeit der stufenweise Eingliederung, aber gerade beruflich erfolgreiche Menschen, die vor der Diagnose in verantwortungsvollen Positionen tätig waren, neigen dazu, ihre Fähigkeiten zu überschätzen und sind schnell überfordert, eine Tatsache, die sie als außerordentlich schmerzhaft empfinden und in ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit fallen lässt.

Nicht nur die Symptome, auch die Ursachen der Fatigue-Erkrankungen sind vielgestaltig. Dementsprechend kann die Therapie nur sehr individuell erfolgen.

Gegenwärtig wird mit unterschiedlichen Maßnahmen und nach dem »Ausschlussprinzip« behandelt. Das heißt, Veränderungen, die durch die Therapie entstanden sind, werden wieder ausgeglichen, Nebenwirkungen der Krebstherapie behandelt und Ängste und Schlafstörungen verhaltenstherapeutisch behoben. Eine verhaltenstherapeutische Behandlung bedarf der Beratung und Begleitung durch Ärzte und Psychoonkologen. Gelegentlich können auch Medikamente hilfreich sein. Bei Blutarmut (Anämie) werden Eisenpräparate verabreicht oder eine Blutübertragung (Transfusion) wird angeordnet. Sind die Spurenelemente nicht im Normalbereich, kann mit Medikamenten oder Infusionen gegengesteuert werden. Bei Fatigue, die mit dem sogenannten Strahlenkater oder Übelkeit nach einer Chemotherapie einhergeht, kommt das bereits erwähnte Ausschlussprinzip zur Anwendung. Man probiert verschiedene Arzneien und Therapien aus, in der Hoffnung, dass eine von ihnen wirkt. Das bedeutet, dass man hier unter Umständen kein »durchgängiges« Konzept verfolgen kann, immer wieder die Therapieausrichtung ändern muss, was für die Betroffenen wiederum eine erneute Belastung mit sich bringen kann.

Ganz wesentlich jedoch scheinen nach neuesten Forschungen ein durchstrukturierter Tagesablauf und körperliche Aktivität zu sein, um das Fatigue-Syndrom bereits von Anfang an in den Griff zu bekommen.13

Damit Sie feststellen können, ob ein Fatigue-Syndrom vorliegt oder droht, ist nachfolgend ein Bewertungsbogen mit einfach formulierten Fragen zur Selbsteinschätzung beigefügt. Sollten Sie das Gefühl haben, an einem Fatigue-Syndrom zu leiden, oder sollte die Auswertung des Fragebogens diesen Verdacht erhärten, teilen Sie dies unbedingt Ihrem behandelnden Arzt mit.14

Der Verdacht auf eine krebsinduzierte Fatigue ergibt sich, wenn sechs (oder mehr) der folgenden Symptome (Antworten 1 bis 11) in den vergangenen zwei Wochen täglich bzw. fast täglich vorlagen und mindestens einmal das Symptom »deutliche Müdigkeit« (Antworten 1 bis 4) angeben wurde.

Sprechstundentermin mit Ehepaar B. Herr B. war von mir zwei Jahre zuvor an einem Lebertumor operiert worden, und auch die gesamte weitere Behandlung hatte er gut überstanden. Nun hatte er einen Narbenbruch in der rechten oberen Bauchhälfte erlitten. Der Narbenbruch war gut tastbar, die Diagnose eindeutig.

Ich wollte den Patienten zu seinen Beschwerden befragen. Mir war bereits aufgefallen, dass er ziemlich teilnahmslos dasaß und nur wenig sprach. Im Wesentlichen redete seine Frau, und wenn sie sich dabei an ihn wandte, hatte ich den Eindruck, sie spreche mit einem Teenager.

Abb. 3: Evaluationsbogen zur Feststellung, ob ein Patient an Fatigue leidet. Quelle: nach Mendoza et al. 1999.

Bevor Herr B. auf meine Frage, wie es ihm ganz allgemein gehe, antworten konnte, platzte es aus seiner Gattin förmlich heraus. Ihr Mann sei früher, vor der Erkrankung, lebenslustig und voller Ideen gewesen. Ein »Hansdampf in allen Gassen«, witzig und ein gern gesehener Gast bei seinen vielen Freunden. Seit der Diagnose und der Chemotherapie würde er nur zu Hause »rumhängen« und hätte zu nichts Lust. Dabei sei doch die Krankheit »längst im Griff« und es gebe keinen Grund mehr, das Leben, das sie bis dahin geführt hatten, nicht wiederaufzunehmen. »Er hat sich so verändert, ist zerstreut und hört überhaupt nicht mehr zu!« Frau B. wirkte regelrecht empört.

Während ihrer Tirade hatte Herr B. traurig aus dem Fenster gesehen und in einem kurzen Moment, als seine Frau kurz Luft holte, auf gut Bayerisch gemurmelt: »Lass ma doch mei Ruah!« Ich war mir nicht sicher, ob sie das überhaupt mitbekommen hatte …

Wir vereinbarten schließlich einen Operationstermin, denn der Narbenbruch musste beseitigt werden. Im Vorfeld des Eingriffs kam er nochmals zu mir in die Sprechstunde. Neben der Aufklärung über die OP füllte ich mit ihm den besagten Evaluationsbogen aus (siehe oben). Nach wenigen Minuten war klar, dass Herr B. an einem Fatigue-Syndrom litt.

Es ist mir sehr wichtig, hier noch einmal ausdrücklich zu betonen: Patienten mit Fatigue sind nicht »schuldig«, ihre Beschwerden sind nicht Ausdruck von Schwäche oder mangelnder Disziplin. Es ist der Preis, den sie zahlen, durch Chemo- und/oder Strahlentherapie ihre Erkrankung zu besiegen. Fatigue ist leider eine normale Begleiterscheinung, von der die Mehrzahl der Krebspatienten betroffen ist. Gleichwohl müssen Sie sich weder als Patient noch als Angehöriger in dieses »Schicksal« fügen. Sie können (sich) helfen bzw. aktiv etwas dagegen tun.

Es gilt, den Teufelskreis zu durchbrechen, und ich will im Folgenden zeigen, wie das gelingen kann. Mithilfe der optimierten Krebstherapie: Von den drei Säulen sind bei Fatigue körperliche Aktivität und Psychoonkologie die wichtigsten, denn es gibt noch keinen wissenschaftlichen Hinweis darauf, dass sich die Symptome durch eine Ernährungsumstellung bessern. Detaillierte Informationen zu den möglichen Hilfestellungen durch Sport bzw. Psychoonkologie finden Sie in den Teilen III und IV dieses Buchs.

Schicksal oder lohnt sich der Kampf?

Andere Länder, andere Sitten. Im Jahr 2015 besuchte ich auf einer USA-Reise Prof. Wendy Demark-Wahnefried an der Medizinischen Universität Birmingham (Alabama). Die Professorin gilt als eine der führenden Experten, wenn es um die Versorgung von Krebspatienten/innen nach Diagnosestellung und Therapiephase geht.

Nach dem offiziellen wissenschaftlichen Programm war ich zu einer Cocktailparty eingeladen und bemerkte, dass etliche Damen eine rosa Schleife an ihrem Kleid oder Revers trugen. Diese Frauen bekundeten damit ihre Solidarität mit Brustkrebspatientinnen.

Initiator war die »Komen-Stiftung« gewesen; die Amerikanerin Nancy Goodman Brinker hatte sie in den 1990er-Jahren gegründet, nachdem ihre Schwester mit 36 Jahren an Brustkrebs verstorben war. Viele der Frauen, die auf dieser Gesellschaft die Schleife trugen, waren selbst an Brustkrebs erkrankt, bezeichneten sich inzwischen aber als »cancer survivors«, als Überlebende, die den Krebs besiegt hatten. Wendy erzählte mir, dass viele ihrer Patientinnen »stolz« seien und das auch nach außen zeigen wollten, denn sie seien überzeugt, durch Eigeninitiative ihren Heilungsprozess aktiv und letztlich positiv unterstützt zu haben.

Als ich am Abend im Hotel saß, musste ich an eine Sendereihe denken, die ich einmal im schwedischen Fernsehen gesehen hatte. Seit Jahren bemüht sich das staatliche Gesundheitswesen in Schweden, die Bevölkerung des Landes zu mehr sportlicher Aktivität zu ermuntern. Besonders häufig wird die Bedeutung einer »Lifestyle-Änderung« nach einer Krebsdiagnose thematisiert. In der Sendung »Kropp & Själ« (»Körper und Seele«) des staatlichen Rundfunks berichten Ärzte und Fachleute regelmäßig über Patienten, bei denen die Krebserkrankung wieder aufgetreten ist. Wer es nicht geschafft hat, »gesund« zu bleiben, wird beinahe als Versager dargestellt. Sich als Versager fühlen zu müssen, wenn die Erkrankung (noch) nicht beherrscht ist, erscheint mir definitiv übertrieben. Krebs ist immer eine schwere Erkrankung, und keiner sollte sich »schuldig« fühlen, wenn es einem nicht gelingt, aktiv dagegen anzukämpfen oder den Krebs zu besiegen. Gleichwohl setzt sich immer mehr die Auffassung durch, dass es sich lohnen kann, dem Krebs »den Stinkefinger« zu zeigen. In Schweden haben sich junge Krebspatienten inzwischen zu Gruppen zusammengeschlossen; es wird geredet, Erfahrungen werden ausgetauscht, Ängste geteilt, Therapieerfolge gefeiert. Das Motto vieler dieser Gruppen lautet schlicht und ergreifend: »Fuck Cancer!«

Ich möchte diesem »Fuck« gerne noch ein »Fight« hinzufügen. Denn man/frau sollte, wenn einen die Krankheit auch in gewisser Weise schicksalshaft trifft, nicht in Lethargie verfallen, sondern sich, gemeinsam mit den behandelnden Ärzten und Therapeuten, aktiv gegen die Erkrankung »wehren«. Dabei geht es nicht darum, den verständlichen »Leidensdruck« durch »Leistungsdruck« zu kompensieren. Vielmehr sollten die Aktivitäten bewusst, ohne falschen Ehrgeiz, umsichtig und moderat begonnen, dann aber konsequent weitergeführt werden. Eine Krebserkrankung zu überwinden ist immer ein »Gemeinschaftsprojekt«: Beteiligt sind natürlich die medizinischen Experten, aber auch die Angehörigen und vor allem der Patient selbst. Als Betroffener können Sie mehr tun, als Sie sich vielleicht vorstellen können.

Frau M., 67 Jahre alt, hatte sich in meiner Sprechstunde angemeldet und bereits am Telefon mit mir gesprochen. Bei einer Darmspiegelung war ein Tumor im Mastdarm festgestellt worden. Sie war sehr aufgewühlt und hatte am Telefon geweint. In der Sprechstunde stellte sich heraus, dass bei Frau M. bereits vor neun Jahren ein Brustkrebs diagnostiziert worden war und sie diese Erkrankung gut und ohne Hinweis auf ein neuerliches Auftreten des Tumors überstanden hatte. Dennoch wollte ich sichergehen, dass der Tumor im Darm nicht doch eine plötzlich aufgetretene Tochtergeschwulst des Brusttumors war.

Die Untersuchung lieferte ein anderes Ergebnis: Alles deutete auf einen neu aufgetretenen Darmkrebs hin. Nach der Operation des Tumors bestätigte die feingewebliche Aufarbeitung (Histologie) im Labor die Diagnose. Wie konnte das sein?

Die Erklärung war nicht einfach; möglicherweise gehört Frau M. schlicht zu den 16 bis 17 Prozent der Menschen, die etwa zehn Jahre nach einem Tumorleiden erneut an einem Krebs erkranken.

Eine genetische Ursache konnten wir ausschließen, was nicht nur für sie, sondern vor allem für ihre beiden Kinder sehr wichtig war.

Frau M. hatte seit ihrer Brustkrebserkrankung deutlich an Gewicht zugelegt und war noch nie an Sport interessiert gewesen. Ich riet ihr nach dieser zweiten Schockdiagnose zu einer grundlegenden Veränderung ihrer Lebensführung. Sie sollte ihr Gewicht reduzieren und sich moderat sportlich betätigen, denn Übergewicht und körperliche Inaktivität sind erhebliche Risikofaktoren für die Entstehung von Brust- wie auch Dickdarmkrebs.

Es ist ein Szenario, das sich keiner gerne vorstellen mag, aber auch wenn Sie eine Krebskrankheit gut überstanden haben, kann an anderer Stelle erneut ein bösartiger Tumor auftreten. Das Institut für Biomathematik und Epidemiologie an der LMU München hat in einer nahezu lückenlosen Nachbeobachtung von Patienten in Bayern festgestellt, dass ein Teil der »geheilten« Krebspatienten nach rund zehn Jahren wieder an Krebs erkrankt. Abbildung 4 zeigt, dass Patienten mit zunehmendem Alter zehn Jahre nach der ersten Tumorerkrankung ein höheres Risiko haben, eine neue – und zwar eine gänzlich andere – Krebserkrankung zu erleiden (man spricht hier von einem sogenannten Zweitmalignom). Das heißt: 17 Prozent der Patienten, die zwischen 50 und 60 an einem Tumor erkranken und diese Erkrankung überlebt haben, sind statistisch gesehen nach zehn Jahren wieder mit einem Krebsleiden konfrontiert.

Ist eine solche unheilvolle Entwicklung aufzuhalten, oder muss das nochmalige Auftreten einer Tumorerkrankung tatsächlich als »schicksalshaft« angesehen werden? Ich bin der Meinung: keineswegs. Denn ein erheblicher Anteil der Krebserkrankungen geht auf allgemein bekannte Risikofaktoren zu-rück, darunter Rauchen, Übergewicht und Inaktivität. Ziel der nachfolgenden Behandlung muss es daher sein, neben der normalen schulmedizinischen Therapie beim ersten Auftreten der Krebserkrankung solche Risikofaktoren auszuschalten und seinen Lebensstil nachhaltig zu verändern. Wenn ich aktiv versuche, meine Lebensqualität, meine Lebensfreude zu erhalten und zu verbessern, »optimiere« ich selbst meine Krebstherapie durch diesen Prozess des Umdenkens und der persönlichen Weichenstellung.

Abb. 4: Anteil der Patienten, die nach einer bereits überwundenen Krebskrankheit innerhalb von 10 Jahren nochmals an einem weiteren Tumorleiden erkranken; ebenfalls ersichtlich ist der Zeitpunkt dieses neuerlichen Krebsleidens. Quelle: LMU Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie.

»Optimierte Krebstherapie« ist ein neuer Begriff, der über die sonst gängige, rein symptombezogene Versorgung der Patienten hinausgeht und eine Umstellung des Lebensstils und damit sinnvollerweise eine konsequente Vermeidung von »Risikofaktoren« bedeutet.

Sicherlich spielt die genetische Disposition (also die erbliche Veranlagung) auch eine gewisse Rolle bei der Entstehung von Krebs, und es ist für alle Menschen ein wichtige »Hausaufgabe«, sich bei Eltern und Verwandten zu erkundigen, wer in der Familie von Krebs betroffen war oder sogar daran verstorben ist. Diese sogenannte Familienanamnese wird heute immer wichtiger, um rechtzeitig Krankheiten und Risiken zu erkennen. Natürlich können wir unsere Gene nicht verändern, aber wir können durch unseren Lebensstil genetische Abschnitte aktivieren oder hemmen (dazu später mehr) und so indirekt Einfluss auf unsere genetische Veranlagung nehmen.

Da auch viele Krebsneuerkrankungen ganz wesentlich durch ungesundes Leben, durch Rauchen, übermäßigen Genuss von Alkohol, Übergewicht, eine körperliche »Schonhaltung« (Stichwort »Bewegungsmuffel«) sowie durch andere Umwelteinflüsse entstehen, können wir alle – aber insbesondere die Krebspatienten – das Risiko deutlich vermindern, nochmals oder neu zu erkranken.15 Doch wie heißt es so schön: »Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach.« Es gilt am besten vor, aber vor allem nach einer Tumordiagnose aktiv zu werden und konsequent das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, um die Krebstherapie zu »optimieren« und damit die Prognose zu verbessern.

Ausruhen war gestern, heute können wir dem Krebs ein Stück weit »davonlaufen«. Der folgende Teil dieses Buchs zeigt Ihnen, wie!

Teil I

Die erste Säule der optimierten Krebstherapie – Sport gegen Krebs