image

Das Wörterbuch
der Staatssicherheit

Definitionen zur
„politisch-operativen Arbeit“

Herausgegeben von Siegfried Suckut

image

Die Meinungen, die in dieser Publikationsreihe geäußert werden,
geben ausschließlich die Auffassungen der Autoren wieder.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Juli 2016
entspricht der 3. Druckauflage vom April 2001
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel. (030) 44 02 32-0
Internet: www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Cover: Eugen Lempp (Ursprünglicher Reihenentwurf: KahaneDesign, Berlin)

ISBN 978-3-86284-340-4

Inhalt

Vorwort

1.

Einleitung

1.1.

Zur Entstehungsgeschichte der ersten Auflage 1970

1.2.

Zur Entstehungsgeschichte der zweiten Auflage 1985

1.3.

Sprache und Feindbild des MfS

1.4.

Zum Selbstverständnis der „Tschekisten“

1.5.

Das Bild des MfS von der Bevölkerung

1.6.

Korrelierten Sprache und Denken?

1.7.

Vergleiche, die sich aufdrängen

2.

Wörterbuch der „politisch-operativen Arbeit“

2.1.

Redaktionelle Vorbemerkung des Herausgebers

2.2.

Vorwort des Ministeriums für Staatssicherheit

2.3.

Benutzerregeln des Ministeriums für Staatssicherheit

2.4.

Begriffe und Definitionen in alphabetischer Reihenfolge

2.5.

Schlagwortverzeichnis

3.

Anhang

3.1.

Redaktionelle Vorbemerkung des Herausgebers

3.2.

Anhang 1:Verzeichnis der vom MfS in die zweite Auflage des Wörterbuches integrierten Austausch- und Zusatzblätter

3.3.

Anhang 2:Verzeichnis der Begriffe, die aus der ersten Auflage nicht in die zweite übernommen wurden

3.4.

Anhang 3:Verzeichnis der in die zweite Auflage neu aufgenommenen Begriffe

3.5.

Abkürzungsverzeichnis

Über den Herausgeber

Vorwort

Als mit der Einrichtung der Behörde des Bundesbeauftragten Anfang 1992 die systematische Erschließung der papiernen Hinterlassenschaft des früheren Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR begann, stießen die Rechercheure auch auf mehrere unscheinbare rotbraune Kunststoffordner im DIN-A5-Format. Sie enthielten je 536 Seiten umfassende Loseblattsammlungen, die als „Geheime Verschlußsache“ (GVS) eingestuft und deren Exemplare fortlaufend numeriert worden waren. Es handelte sich um das „Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit“ des MfS, genauer: um die zweite (und letzte) Auflage einer von Erich Mielke persönlich autorisierten Definitionensammlung, die an der „Juristischen Hochschule“ (JHS) des Ministeriums in Potsdam-Eiche entstanden und 1985 erschienen war.

Schon im Vorwort zur ersten, 1970 fertiggestellten Auflage hatte Mielke militärisch-knapp verfügt: „Die im Wörterbuch enthaltenen Begriffe sind im Bereich aller Organe des Ministeriums für Staatssicherheit einheitlich anzuwenden“1 und dem Kompendium faktisch die Funktion einer schriftlich fixierten, MfS-offiziellen Sprachregelung zugewiesen, obwohl es formal nicht als „Richtlinie“ oder „Dienstanweisung“ eingestuft worden war.

Das Wörterbuch sollte wichtige Begriffe aus dem Dienstalltag wiedergeben und mit den Erläuterungen die Praxis beschreiben, zugleich aber auch Anforderungen an die „politisch-operative“ Tätigkeit der Mitarbeiter definieren. Es hatte „sowohl deskriptive als auch normative Funktionen“2 und trug passagenweise den Charakter eines ideologiegesättigten Lehrbuches.

Für den Leser heute liegt der Wert dieses Wörterbuches vor allem darin, daß es einen tiefen Einblick in die Arbeitsweise des Staatssicherheitsdienstes gewährt und gleichsam im Originalton wiedergibt, wie im MfS gedacht werden sollte – und wohl auch weithin gedacht wurde. Kaum ein anderes Dokument informiert so authentisch, komprimiert und doch umfassend über das Selbstverständnis des SED-Geheimdienstes wie dieses. Es ist als historische Quelle ein wichtiges Dokument für den Geschichtswissenschaftler, der sich mit der DDR befaßt, eine wertvolle Überlieferung für die sprachwissenschaftliche Forschung, aber auch decouvrierendes Selbstzeugnis des Staatssicherheitsdienstes, das sich gut für Unterrichtszwecke verwenden läßt.

Die Abteilung Bildung und Forschung der Behörde des Bundesbeauftragten hat Anfang 1993, kurz nach ihrer Konstituierung, einen auf DIN-A4 vergrößerten Faksimile-Nachdruck der 94. Ausfertigung des Wörterbuches publiziert.3

Die große Nachfrage hat die Abteilung veranlaßt, es mit einer erweiterten Einleitung nunmehr als Verlagspublikation zu veröffentlichen und so einer noch größeren Leserschaft zugänglich zu machen.

Der Herausgeber dankt all jenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abteilung, die ihn dabei unterstützten, nach Unterlagen zur Entstehung des Wörterbuches zu recherchieren, einzelne Fragen zur Verwendung und tatsächlichen Bedeutung zu klären, und nicht zuletzt denen, die die Schreibarbeiten erledigten sowie den dokumentarischen Teil kollationierten und Korrektur lasen.

Zu einzelnen Daten der Entstehungsgeschichte der unterschiedlichen Auflagen des Wörterbuches gaben zwei ehemals leitende Projekt-Mitarbeiter und ein früherer Student der Juristischen Hochschule des MfS Auskunft. Dafür sei auch ihnen gedankt. Sie baten, nicht namentlich genannt zu werden.

1Ministerium für Staatssicherheit, Juristische Hochschule Potsdam 1969: Wörterbuch für die politisch-operative Arbeit (künftig: Wörterbuch, 1. Aufl.), GVS 160-300/69; Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (künftig: BStU), Zentralarchiv (künftig: ZA), K 465, S. II.

2Hubertus Knabe im Vorwort der Faksimile-Veröffentlichung: Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen des MfS zur „politisch-operativen Arbeit“, hrsg. vom BStU, Abt. Bildung und Forschung, Berlin 1993 (Reihe A: 1/1993, S. V).

3Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen des MfS zur „politisch-operativen Arbeit“ (Faksimile-Nachdruck), hrsg. vom BStU, Abt. Bildung und Forschung, Berlin 1993.

1.Einleitung

1.1.Zur Entstehungsgeschichte der ersten Auflage 1970

Die Entscheidung, ein Wörterbuch zur Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit zusammenzustellen, fiel im Jahre 1968. Der Rektor der Juristischen Hochschule des MfS beschloß damals, zu den 20. Jahrestagen der Staats- und der Ministeriumsgründung (7. Oktober 1969 bzw. 8. Februar 1970) neben einer Ausarbeitung zur Geschichte des DDR-Geheimdienstes auch eine Definitionensammlung vorzulegen. Solche „Geschenk“-Verpflichtungen einzugehen, war alter politischer Brauch in der DDR und entsprach sowjetischem Vorbild. Bereits Mitte 1968 hatten die „Tschekisten“ der DDR anläßlich des 75. Geburtstages von SED-Chef Walter Ulbricht eine lange Liste geheimdienstlicher Erfolge, vor allem in der West-Spionage, zusammengestellt und ihm zum „Geschenk“ gemacht.4

Der Rektor der JHS, Oberst Willi Pösel, verfolgte mit dem Projekt sicherlich auch das Ziel, MfS-intern zu demonstrieren, welchen Nutzen die Arbeit der Hochschule für die dienstliche Praxis erbringe. Zudem sah er die Ausbildungsstätte vermutlich unter äußerem Erwartungsdruck. Sie hatte erst 1965 den Status einer „Hochschule“ zuerkannt und 1968 das Promotionsrecht verliehen bekommen.5 Nun galt es zu belegen, daß diese akademische Aufwertung zu Recht erfolgt und die JHS tatsächlich zu größeren Forschungsleistungen imstande war.

Die stärkere Profilierung der Hochschule entsprach zugleich einer wichtigen Forderung der SED-Führung, die seit Anfang der sechziger Jahre beständig zu mehr „Wissenschaftlichkeit“ nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Arbeit des Staatsapparates gemahnt hatte. Erich Mielke war diesem Parteiauftrag zunächst nur mit deutlichem Widerwillen gefolgt, wie die Funktionäre der ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen immer wieder moniert hatten.6 Ganz entziehen konnte er sich ihm freilich nicht. Die Einrichtung der JHS war eine gute Möglichkeit, ihm wenigstens formal zu entsprechen und damit das MfS als „Staatsorgan“ aufzuwerten – ein Nebeneffekt, der für den Antiintellektuellen Mielke sogar der Hauptzweck gewesen sein dürfte.

Zu den auch für den Inhalt des Wörterbuches wichtigen Besonderheiten seiner Entstehungsgeschichte gehört nicht zuletzt das politische „Klima“, in dem diese Arbeit entstand. Nach dem Bau der Mauer und dem zunächst erfolgreichen Beginn systemimmanenter Wirtschaftsreform (Neues ökonomisches System der Planung und Leitung) zeigte die Parteiführung gewachsenes Selbstbewußtsein. Sie beschrieb die DDR als harmonische „sozialistische Menschengemeinschaft“ und lobte die angebliche „moralisch-politische Einheit“ von Führung und Bevölkerung. Die Partei-Ökonomen stellten ihren Staat als „Wirtschaftswunder DDR“7 begrifflich mit der Bundesrepublik auf eine Stufe, und der SED-Chef Walter Ulbricht ging noch einen Schritt weiter und sprach vom „Überholen ohne einzuholen“. – Das war Anfang 1970, zeitgleich mit dem Erscheinen der ersten Auflage des Wörterbuches. Die Niederschlagung des „Prager Frühlings“, zwei Jahre zuvor, hatte das Selbstbewußtsein der SED-Führung eher noch gestärkt. Ihre Herrschaft schien unantastbar und stabiler denn je. Auch das schlug sich in der Sprache des MfS nieder.

Die erste Auflage erarbeitete eine speziell dafür eingesetzte Kommission an der Juristischen Hochschule. „Verantwortlicher Sekretär“ war Major Dr. Manfred Hempel, kommissarischer Leiter des Fachbereichs „Politisch-operative Leitungswissenschaft“. Sie bestand aus 12 bis 15 Mitgliedern, vor allem Lehrstuhlinhabern und Dozenten. Beteiligt waren aber auch je ein Vertreter der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums, deren Leiter, Oberstleutnant Irmler, das Projekt nachhaltig unterstützte, sowie der Schule der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) in Gosen bei Berlin. In Kooperation mit den Diensteinheiten legte die Kommission fest, welche Begriffe in das Wörterbuch aufgenommen werden sollten, und vergab Definitionsaufträge an die Lehrstühle, die, entsprechend ihren thematischen Schwerpunkten, Zuarbeit leisteten.

In seiner Rede auf der Exmatrikulationsveranstaltung am 5. Mai 1970 hob Erich Mielke anerkennend hervor, daß das Studienmaterial zur MfS-Geschichte wie das Wörterbuch „bei guter Qualität“ und „in relativ kurzer Zeit“8 fertiggestellt worden seien. Er würdigte die Resultate als „Arbeit großer interdisziplinärer Kollektive der Hochschule“ und Ergebnis „breitester Einbeziehung verantwortlicher Kader der Praxis sowie der Studenten“.9 Wie groß der Anteil der Diensteinheiten tatsächlich gewesen ist, läßt sich nicht mehr genau bestimmen. Zweifellos aber war und blieb das Wörterbuch in erster Linie ein Projekt der Juristischen Hochschule.

An den Lehrstühlen war es offenbar weit verbreitete Praxis gewesen, Definitionsaufträge an Studenten weiterzugeben. Oft arbeiteten vier bis fünf Fernstudenten an einem Begriff. Ihre Entwürfe wurden dann von einem Direktstudenten zu einem eigenen zusammengefaßt. Sehr viele der Studierenden waren an dem Projekt beteiligt. Wie sich ein ehemaliger Direktstudent erinnert, wurden längere Eigenbeiträge zuweilen auch als „Diplomarbeit“ anerkannt. Archivalische Belege gibt es dafür bislang allerdings nicht.

Gerade unter quellenkritischen Gesichtspunkten verdient die hohe Beteiligung von Studenten, zumeist Examenskandidaten, Beachtung, denn es ist zu vermuten, daß diese Verfasser sich besonders bemühten, möglichst politisch linientreue und vorschriftskonforme Formulierungen zu finden, die keinen Widerspruch hervorriefen und eine gute Benotung versprachen. Wer von den späteren „Diplomjuristen“ was beigetragen hat, ist nicht überliefert.

Unbekannt ist zudem die genaue Höhe der ersten Auflage. Sehr wahrscheinlich umfaßte sie 300 Exemplare, die zu annähernd gleichen Teilen an die Diensteinheiten in Berlin, die 15 Bezirksverwaltungen und in den Innenverteiler der Hochschule gegangen sein dürften.

Überlegungen, das Wörterbuch zweibändig anzulegen und zwischen eigenen sowie den Begriffen gegnerischer Geheimdienste zu unterscheiden, wurden wieder aufgegeben. Das geschah offenbar unmittelbar vor der Drucklegung, denn Erich Mielke ging in seinem auf Januar 1970 datierten Vorwort noch von einem zweibändigen Werk aus.10

Bei einem Gesamtumfang von nur 162 Blatt war eine Teilung freilich schon allein unter praktischen Gesichtspunkten nicht sinnvoll. Erhalten blieb in der dann doch in einem Band zusammengefaßten Ausgabe ein hoher Anteil von Begriffen, die sich auf westliche Geheimdienste bezogen. In die hier veröffentlichte zweite Auflage wurden sie zumeist nicht wieder aufgenommen.

Bereits die erste Fassung war als Loseblattsammlung erschienen und als „Geheime Verschlußsache“ eingestuft worden. Solche Dokumente als Einzelblatt-Sammlungen anzulegen war nur mit Sondergenehmigung möglich.

In seinem wenig mehr als eine Manuskriptseite füllenden Vorwort hatte der Minister zentrale Aussagen zur Bedeutung und gedachten Funktion dieser Ausarbeitung gemacht. Die Juristische Hochschule stufte sie in ihren Vorbemerkungen zur zweiten Auflage als nach wie vor gültig ein, gab die Kernsätze aber nicht wörtlich und inhaltlich verkürzt wieder.

Mielke charakterisierte das Wörterbuch als „wissenschaftliches Nachschlagewerk“, das im Zusammenhang mit der „Durchsetzung der dritten Hochschulreform im MfS“ entstanden sei und dessen Wert darin bestehe, daß es „die Erfahrungen über den effektivsten Einsatz unserer operativen Kräfte und Mittel sowie die reichen Erkenntnisse über die Leitung und Organisierung der tschekistischen Arbeitsprozesse ausgeschöpft, wissenschaftlich durchdrungen und verallgemeinert“ habe. Es sei ein „wertvolles Hilfsmittel“, um „mit maximaler Kraft am Feind zu arbeiten“. Das Wörterbuch solle „Unterstützung und Anregung“ für die tägliche Arbeit sein und helfen, die, wie er formulierte, „Kampferfahrungen unseres Organs zu nutzen“. Ziel sei es, eine „einheitliche operative Fachsprache“ zu entwikkeln, um Befehle und Weisungen zukünftig „präziser und zielstrebiger durchzusetzen“.11

Auffällig ist, daß Mielke, deutlicher noch als die JHS im Vorwort zur zweiten Auflage, den „wissenschaftlichen“ Charakter und den erhofften praktischen Nutzen betonte. Das ist gewiß auf die 1970 verbindliche Parteilinie, zum anderen möglicherweise auf Mielkes stark praxisbezogenes Denken zurückzuführen. Den Begriff „Nachschlagewerk“ sucht man in der Neuauflage vergeblich – vielleicht war dies ein indirekter Hinweis auf die damalige Verwendungspraxis: Eine nur in geringer Stückzahl gedruckte, beschränkt zugängliche Geheime Verschlußsache konnte schwerlich zum „Nachschlagewerk“ werden. Intensiv gelesen wurde es wohl vor allem von den Studenten der Juristischen Hochschule, die das Kompendium als Lehrmaterial und für eigene Ausarbeitungen nutzten. Die Dozenten der JHS legten offenbar besonderen Wert auf die genaue Beachtung der MfS-offiziellen Definitionen.

Mielke hatte im Vorwort zur ersten Auflage die Hochschule verpflichtet, den Inhalt ständig zu aktualisieren. Wie das geschehen sollte, legte der Rektor im November 1970 in der Anweisung 7/70 fest.12

Die Verantwortung für die „Organisation der ständigen Vervollkommnung“ hatte er wiederum dem Leiter des Fachbereiches I, Major Dr. Hempel, übertragen.13 Ihm waren nach dem Abschluß von Lehrgängen und „Forschungsaufgaben“ wichtige Ergebnisse zu melden und bei Bedarf Vorschläge zu inhaltlichen Veränderungen am Wörterbuch vorzulegen. Von nun an waren ihm generell Kurzfassungen aller Dissertationen und „nach Bedarf“ auch die wichtigsten Ergebnisse von Diplomarbeiten zuzuleiten.14

Auch das Procedere für inhaltliche Veränderungen am Wörterbuch war in der Anweisung festgelegt worden. Major Hempel sollte die Definitionsentwürfe für neu aufzunehmende Begriffe und Vorschläge zur Überarbeitung der bereits vorhandenen in den „sachlich zuständigen“ Fachbereichen prüfen und schließlich von deren Leitern bestätigen lassen. Die befürworteten Veränderungen waren vom Leiter des Fachbereichs I „zu periodischen Ergänzungen“ zusammenzufassen und „in regelmäßigen Abständen“, mindestens aber einmal jährlich, „an alle Empfänger des Wörterbuches herauszugeben“. Die erste Ergänzung war bis zum 15. März 1971 „zur Herausgabe vorzubereiten“.15

Doch wurde dieser Auftrag nicht erfüllt, und auch in den folgenden drei Jahren, in denen Hempel für die Fortschreibung der Definitionen verantwortlich war, blieb der Text unverändert. Unter Major Karl-Otto Scharbert, der 1974 sein Amtsnachfolger wurde, fand offenbar ebenfalls keine Überarbeitung statt. Wie man der im Archiv des Bundesbeauftragten überlieferten 58. Ausfertigung der ersten Auflage entnehmen kann, wurden keine Austausch- oder Zusatzblätter eingefügt. Auch die Herausgabe einer zweiten Auflage im Frühjahr 1985 deutet darauf hin, daß die Anweisung des Rektors vom November 1970 nicht beachtet worden war. Denn, wäre das Wörterbuch tatsächlich kontinuierlich überarbeitet worden, hätte sich eine Neuauflage erübrigt.

1.2.Zur Entstehungsgeschichte der zweiten Auflage 1985

Die Arbeiten an der zweiten Auflage begannen bereits 1981. Das Projekt bekam die Geheime-Verschlußsachen-Nummer GVS-JHS 001-400/81 zugeteilt, unter der auch die Endfassung 1985 gedruckt und MfS-intern verteilt wurde. Das hat zuweilen zu der Annahme geführt, bereits 1981 sei die zweite Auflage des Wörterbuches vorgelegt und vier Jahre später eine dritte fertiggestellt worden. Doch das trifft nicht zu. Am 14. Dezember 1981 war lediglich ein – allerdings weit gediehener – bereits 268 Blatt umfassender erster Entwurf verteilt und bis 1985 durch das Einfügen von Austausch- und Zusatzblättern in Endfassung gebracht worden. Die Auflage betrug 400 Exemplare, von denen laut Verteilernachweis von 1981, als die zweite Auflage erst als Entwurf existierte, bis zur Auflösung des MfS 286 herausgegeben wurden, das letzte am 21. November 1989 an den Hochschul-Fernstudien-Lehrgang. Einzelne Exemplare wurden mehrfach verliehen. Insgesamt erfolgten 321 Ausleihen. An die Diensteinheiten in Berlin, die Hauptverwaltung Aufklärung eingeschlossen, und die Leitung des Ministeriums wurden ca. 120 Exemplare geliefert, etwa 70 hatten die 15 Bezirksverwaltungen erhalten, und ca. 140 waren JHS-intern verteilt worden. 110 Exemplare bildeten eine bis Ende 1989 nicht abgeforderte Reserve.16 Die nach der Numerierung ersten beiden Exemplare des Entwurfs erhielt Mitte Dezember 1981 Erich Mielke, offenbar zur Begutachtung. Er hatte anscheinend nichts auszusetzen und gab eines noch am selben, das andere am darauffolgenden Tag wieder zurück.17

Warum die Arbeiten an der zweiten Auflage so lange dauerten, ist im einzelnen nicht bekannt. Klar erkennbar ist dagegen, was für eine grundlegende Überarbeitung und Erweiterung des Wörterbuches sprach: Die Auswirkungen der Entspannungspolitik in Europa, insbesondere der veränderten Deutschland- und Ostpolitik der Bundesrepublik seit Anfang der siebziger Jahre, hatten das Ministerium für Staatssicherheit vor neue Aufgaben und Probleme gestellt. Organisation und Arbeitsweise waren angepaßt, neue Richtlinien und Dienstanweisungen18 erlassen, neue Tätigkeitsschwerpunkte gebildet worden. Mit den Aufgaben waren auch die Begriffe und die Definitionsinhalte zu verändern.

Damit tat sich die Juristische Hochschule weitaus schwerer als mit der Erarbeitung der ersten Auflage. Darauf deutet nicht nur die lange Dauer hin, sondern auch die Tatsache, daß inhaltliche Veränderungen bis unmittelbar vor dem Erscheinungstermin vorgenommen wurden. Die Neuauflage war im Frühjahr 1984 offenbar schon weitgehend fertiggestellt, als am 16. April neun Zusatzblätter eingefügt wurden, unter anderem zu den Begriffen → imperialistische Geheimdienste, → Kirchen, → Terrorabwehr und → grenzüberschreitender Verkehr. Im Mai 1985, vermutlich unmittelbar vor dem auf dem Deckblatt fälschlich auf „April 1985“ datierten Erscheinen der Neuauflage, wurden weitere Veränderungen für notwendig gehalten und Zusatzblätter zu den Termini → Grenzterror, → Kaderplan, → staatliche Sicherheit, → Sicherheitserfordernisse und → Sicherheitspolitik eingefügt. Da die ursprünglichen Fassungen dieser Seiten nicht überliefert sind, lassen sich keine Aussagen darüber treffen, welcher Art die Veränderungen waren, ob nur hinzugefügt oder auch eine inhaltliche Veränderung am schon Bestehenden vorgenommen wurde. Erst jetzt hatte das Wörterbuch mit 282 Blatt seinen endgültigen Gesamtumfang erreicht, der sich auch in den folgenden Jahren nicht mehr änderte.

In die zweite Auflage sind ferner insgesamt 44 „Austauschblätter“ – es waren oft nur einzelne Seiten – eingefügt worden.19 Wann und in welchen Schritten dies geschah, ist nicht vermerkt. Wahrscheinlich sind sie zeitgleich mit den Zusatzblättern 1984/85 getauscht worden im Zuge der Veränderungen in der letzten Arbeitsphase. Auf diesen Blättern waren Begriffe wie → Agentenzentrale, → Gegenspionage, → Korrespondenten und → Zentraler Operativer Vorgang behandelt worden. Auch hier liegen die Entwürfe nicht vor, so daß Art und Umfang der Veränderungen nicht rekonstruiert werden können. Obwohl fast 400 Begriffe der ersten Auflage gestrichen worden waren, stieg ihre Gesamtzahl von 747 in der ersten auf 855 in der zweiten Auflage, da über 500 hinzugekommen waren.20

Zahlreiche neue Termini waren aufgenommen, andere durch die Bildung von Unterbegriffen gesplittet worden. Auch die Erläuterungen waren im Durchschnitt deutlich länger, so daß der Textumfang des Wörterbuches um über 50 Prozent gewachsen war. Hohen Anteil daran hatten die vielen Neueintragungen zur Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM). Die wichtigsten Regelungen der zentralen IM-Richtlinie 1/79, die, einschließlich der Durchführungsbestimmungen, einen Umfang von über 220 Seiten hatte, waren hier auf 27 Seiten komprimiert und auf 53 Eintragungen verteilt wiedergegeben worden. Für IM-führende Offiziere waren die Erläuterungen zu stark verkürzt, zur Information anderer hauptamtlicher Mitarbeiter mochte eine solche Zusammenfassung dagegen durchaus nützlich sein. Doch galt im MfS der Grundsatz, daß jeder nur über soviel dienstliches Wissen verfügen durfte, wie er zur Erledigung seiner Aufgaben benötigte, auch im Umgang mit dem Wörterbuch. Allen Mitarbeitern eine Grundkenntnis der Tätigkeit des MfS insgesamt zu verschaffen, lag nicht im Interesse der Leitung. Ein Umstand, der deutlich macht, wie ungewiß der Nutzen war, den das Wörterbuch intern brachte.

Andere neu aufgenommene Begriffe bezogen sich auf den Reiseverkehr in die DDR, der seit dem Inkrafttreten des Grundlagenvertrages Anfang 1973 stark zugenommen hatte, und die Folgen der weltweiten diplomatischen Anerkennung der DDR, die etwa zur gleichen Zeit einsetzte.

Längst nicht alle Begriffe sind MfS-Spezifika. Bei gut der Hälfte handelt es sich um Termini anderer Provenienz, etwa aus der Politik, dem Völkerrecht, der Psychologie, der Soziologie, dem militärischen oder polizeilichen Sprachgebrauch. Doch wurde nur aufgeführt, was zugleich relevant für die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes war. Insgesamt entstand eine Art Selbstporträt des MfS. Es weist manche Lücke auf, doch erfährt, wer die Definitionen studiert, viel über die Weltsicht, das Selbstverständnis und die Arbeitsweise des DDR-Geheimdienstes.

Eine dritte Auflage war für den 40. Jahrestag der MfS-Gründung im Februar 1990 in Vorbereitung. Die friedliche Bürgerrevolution bereitete auch diesem Vorhaben ein unplanmäßiges Ende.

1.3.Sprache und Feindbild des MfS

Beklemmend wirkt wohl für jeden Leser heute, der nicht zu den Staatstragenden in der DDR gehörte, die kämpferische Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden, die sich in den Definitionen dokumentiert. Bedrohlich klingt die Sprache, in der zum „Haß“ gegen den „Feind“ aufgerufen wurde – und das um so mehr, bedenkt man, daß schon offen geäußerte Kritik an den politischen Verhältnissen in der DDR ausreichen konnte, vom MfS als solcher behandelt zu werden. → Haß wird zum Schlüsselbegriff, wenn der Staatssicherheitsdienst das Persönlichkeitsbild eines guten Geheimdienstoffiziers sowjetischer Tradition, eines „Tschekisten“, wie sich die MfS-Mitarbeiter gern bezeichneten, zu skizzieren beginnt. Haß, wenn er sich denn auf den richtigen Gegner, etwa auf die „Bourgeoisie“ als Kontrahenten im Klassenkampf, richtete, galt dem MfS als „wertvoll und erhaben“, denn er ziele „immer auf die aktive Auseinandersetzung mit dem gehaßten Gegner“, begnüge sich eben nicht „mit Abscheu und Meidung“, sei vielmehr „oft mit dem Bedürfnis verbunden, ihn zu vernichten oder zu schädigen“. Haß sei ein „wesentlicher, bestimmender Bestandteil der tschekistischen Gefühle, eine der entscheidenden Grundlagen für den leidenschaftlichen und unversöhnlichen Kampf gegen den Feind“. Ihn zu verstärken und zu vertiefen „an einem konkreten und realen Feindbild“ sei „Aufgabe und Ziel der klassenmäßigen Erziehung“ im MfS.

Die Definition des → tschekistischen Feindbildes knüpft hier an und gipfelt in der Aussage: „Konkrete und gesicherte Erkenntnisse über den Feind und die auf ihnen beruhenden tiefen Gefühle des Hasses, des Abscheus, der Abneigung und Unerbittlichkeit gegenüber dem Feind“ seien „außerordentlich bedeutsame Voraussetzungen für den erfolgreichen Kampf“ gegen ihn. Nimmt man die Definitionen für → politische Untergrundtätigkeit,politisch-ideologische Diversion und → Zersetzung hinzu, so klärt sich das Feindbild, und das Verständnis des MfS von seiner Aufgabe in der DDR wird deutlich. Es war das Selbstverständnis eines Teiles der Herrschaftselite, die sich im „Kampf“ mit einem personell nicht genau bestimmbaren Gegner sah. Dazu wurden all jene unter den vielen mit den politischen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen in der DDR Unzufriedenen gerechnet, die versuchten, „öffentlichkeitswirksam“ (→ Untergrundtätigkeit, politische; Erscheinungsformen) zu handeln, die Grundsätzliches kritisierten und eine Systemveränderung, aus der Sicht des MfS: „die Beseitigung der Arbeiter- und Bauernmacht“ anstrebten (→ Untergrundtätigkeit, politische). Die Grenze zwischen dem DDR-Massenphänomen der Unzufriedenheit und der „Untergrundtätigkeit“, zwischen den kritischen „Bürgern“ und den „feindlich-negativen Kräften“ war fließend, bedenkt man, wie das Vorfeld → politischer Untergrundtätigkeit abgesteckt war. Schon „Diskussionen negativen und feindlichen Inhalts“ gehörten dazu, wenn sie „über längere Zeit“ und „in bestimmten Personenkreisen und Gruppierungen“, die das MfS zu den „Zielgruppen des Gegners“ zählte, stattgefunden hatten. Entsprechendes galt für das „Verfassen und Verbreiten“ von „politisch-ideologisch unklaren“ Schriften oder den „Mißbrauch legaler Möglichkeiten“, um die „Ideologie des Gegners zu verbreiten“ und „Mängel, Schwierigkeiten und Entwicklungsprobleme“ der DDR-Gesellschaft „aufzubauschen“. Nicht zuletzt aber rechnete das MfS die Eingabe „von rechtswidrigen Ersuchen“ auf Übersiedlung in die Bundesrepublik zum Vorfeld politischer Untergrundtätigkeit, insbesondere, wenn sie „politisch-motiviert“, dem „Inhalt nach provokatorisch“ oder mit „Drohungen“ verbunden waren.21

Als „rechtswidrig“ galten alle Anträge, die nicht auf die Zusammenführung naher Verwandter zielten. Höchst unerwünscht waren aber selbst die als rechtskonform einzustufenden. Faktisch zählten nachgerade alle „Antragsteller auf ständige Ausreise“ zu den „Feinden“ in der dichotomen Weltsicht des MfS. Viele hatten sich, vom Staatssicherheitsdienst unbemerkt, dazu entwickelt: Die meisten der schließlich nach Zehntausenden zählenden Antragsteller waren „politisch-operativ“ nicht aufgefallen und in keinem „Operativen Vorgang“ erfaßt, das heißt, das MfS hatte sie nicht bereits unter zielgerichtete Dauerbeobachtung gestellt.

Mit der Dienstanweisung 2/85 „zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit“ war die Unterscheidung zwischen „Vorfeld“ und eigentlicher Tätigkeit aufgegeben worden. Von nun an galten die Vorfeld-Merkmale bereits als Tatbestände politischer Untergrundtätigkeit, im internen Sprachgebrauch mit „PUT“ abgekürzt. Da die Dienstanweisung erst am 20. Februar 1985 ergangen war, blieben ihre Bestimmungen in der zweiten Auflage des Wörterbuches noch unberücksichtigt.

Die Neigung zu ideologisch motivierter Schwarzweißmalerei wird besonders deutlich, achtet man auf die Wörter, mit denen die Tätigkeit des „Feindes“ und die eigene beschrieben wird. Der „Feind“ wird als „gefährlich“ und „raffiniert“ geschildert, er arbeite „kriminell“, mit „Erpressung“ und „Drohung“, „Täuschung“, „Terror“ und „List“. Er sei verantwortlich für „Menschenhandel“, „Störtätigkeit“, „Machenschaften“ und „Umtriebe“, „Anschläge“ und „Attentate“. Das eigene Tun dagegen wird mit Attributen wie „revolutionär“, „wissenschaftlich“, „vertrauensvoll“, „differenziert“, „schöpferisch“, „effektiv“, „stetig wachsend“ und „progressiv“ beschrieben. Auch die entsprechenden Verben haben eine positive Konnotation: „aufklären“, „durchkreuzen“ und „bekämpfen“.

Die aggressive, ja kriegerische Sprache des MfS, wie sie sich unter anderem in den zitierten Definitionen dokumentiert, und ihre fremde Begrifflichkeit haben einzelne Autoren dazu veranlaßt, sie als „lingua securitatis“, als Spezialsprache des DDR-Geheimdienstes, zu charakterisieren.22 Dafür spricht, daß das MfS eine Vielzahl für den Laien unverständlicher Fachtermini verwendet hat, die man auch im vorliegenden Wörterbuch findet. Man denke an → Kompromat, → Schweigefunker, → operative Legende oder → lebender Briefkasten. Begriffe, freilich, von denen viele einer internationalen „lingua securitatis“ entstammen dürften.

Gerade aber die politische Sprache des MfS, die die Lektüre von Definitionen wie den oben zitierten so bedrückend macht, war in ihrem Ursprung wie in ihrem Charakter keine von den „Tschekisten“ selbst entwickelte, es war eine Variante der SED-Sprache. Auch im Begrifflichen erweist sich das MfS bei genauerem Hinsehen als Teil der marxistisch-leninistischen Führungspartei, als deren „Schild und Schwert“ es sich selbst definierte. Zu den auffälligsten stilistischen Gemeinsamkeiten gehört, daß sich Partei wie Staatssicherheitsdienst zumeist in bürokratischer Verwaltungssprache äußerten. Typisch dafür ist der substantivische Satzbau, die extensive Verwendung von auf „ung“ endenden Nominalformen wie Bekämpfung, Durchführung, Zielsetzung.23 Manès Sperber kritisierte diesen Stil ironisch-feinsinnig und kam zu der politischen Schlußfolgerung:

„Eine Führung, die die Tätigkeitswörter vergessen hat und die Handlungen nur in abstrakten Substantiven ausdrücken kann, die sie ewig mit ‚durchführen‘ verbindet, wird weder eine Revolution vorbereiten noch irgendeinen verräterischen Charakter erfolgreich entlarven.“24

Das aus der kommunistischen Arbeiterbewegung tradierte ideologiegeprägte Kampfvokabular, die Intoleranz – von den Ideologen gern als „Parteilichkeit“ ins Positive gewendet –, die manichäische Weltsicht, die allein zwischen Freund und Feind unterschied, aber keine Zwischentöne kannte, die Vorliebe für militärische Ausdrücke und das aktivistische „Bewegungs“-Vokabular – all das war zugleich typisch für die Sprache der SED, insbesondere in den Jahren des Kalten Krieges. Mitte der achtziger aber, als das MfS-Wörterbuch überarbeitet wurde, äußerten sich die Autoren themenverwandter, im DDR-Buchhandel veröffentlichter Wörterbücher weit weniger martialisch. Die Begriffe „Haß“ oder „Feindbild“ etwa sucht man im „Kleinen politischen Wörterbuch“ vergeblich, und die Definition von „Klassenkampf“25 unterschied sich spürbar von den MfS-Plädoyers für „Haß“ und „Klassenhaß“. Die „friedliche Koexistenz“, so kann man dort nachlesen, werde den Sieg im internationalen Klassenkampf bringen, es komme auf eine „prinzipienfeste und zugleich elastische Politik“ an.26

Während die Partei generell und ihre Gesellschaftswissenschaftler im besonderen seit den sechziger Jahren den kämpferischen Ton spürbar zurücknahmen, verharrte der Staatssicherheitsdienst im Vokabular der frühen Jahre. Doch war das keine sprachliche Eigenmächtigkeit, es war typisch für die Gesamtpartei, sobald es um Aussagen zur Sicherheitspolitik ging. Man findet das in den Redetexten des DDR-Verteidigungsministers, Armeegeneral Heinz Hoffmann27, ebenso bestätigt wie in den Ausarbeitungen der Militärwissenschaftler, etwa in den 1984 für angehende Soldaten veröffentlichten „Fragen und Antworten zum Wehrdienst“. Dort wurde den NVA-Angehörigen bescheinigt, daß sie „für die gerechteste Sache“ einstünden, „die es nur geben“ könne.28 Das Urteil über die westdeutschen Streitkräfte dagegen lautete schlicht: „Die Bundeswehr ist eine imperialistische Armee, sie ist aggressiv, reaktionär und zutiefst menschenfeindlich.“29 Ihre Soldaten „würden jedem Aggressionsbefehl ohne Skrupel Folge leisten“.30

Die Affinität zur Begrifflichkeit des Kalten Krieges dokumentiert sich überdies in der Auswahl der Stichwörter. Einzelne der längst aus dem DDR-Sprachgebrauch verschwundenen Begriffe hatten im MfS-Wörterbuch überlebt. Zu solchen in der Linguistik als „Paläologismen“ bezeichneten Lexemen zählt etwa der „Doppelzüngler“, eine Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre häufig zur Begründung von Parteiausschlüssen gebrauchte Charakterisierung. Dazu gehörten auch die → Agentenzentralen, gemeint waren die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, der Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen und die früheren Ost-Büros der großen westdeutschen Parteien, die alle längst aufgelöst waren, sowie die Ballonaktionen, mit denen von der Bundesrepublik aus Flugblätter in die DDR geschickt wurden (→ Hetzflugblatt, staatsfeindliches). – Eine Praxis, die freilich bereits Anfang der siebziger Jahre aufgegeben worden war.

Die Vorliebe für Sprachnostalgie hing unverkennbar damit zusammen, daß der Staatssicherheitsdienst aus Legitimationsgründen ein möglichst konkretes Feindbild brauchte und, wenn er es in der Gegenwart so klar nicht fand, eben auf Historisches zurückgriff. Die kämpferische Ausdrucksweise resultierte aus der innenpolitischen Funktion des MfS als einer Geheimpolizei, die nach dem Vorbild des KGB die Herrschaft der marxistisch-leninistischen Partei sichern und deren „Feinde“ in Furcht und Schrecken versetzen sollte. Doch spielen sicher auch biographische Gründe eine Rolle. Der besonders militante Erich Mielke als verantwortlicher Minister formte den Geheimdienst nach seinem Geiste. Verglichen mit ihm war Honecker ein geradezu moderater Diktator. Wer so sprach und dachte, wie es in diesem Wörterbuch nachzulesen ist, galt in der SED als zwar etwas altmodischer, gerade deshalb aber als eher konsequenter und zuverlässiger Genosse. Das Beispiel Karl-Eduard von Schnitzlers belegt das.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen MfS und SED bleibt dennoch festzuhalten. Er betrifft nicht den Sprachgebrauch, sondern das daraus resultierende tatsächliche Verhalten. Während, was die Partei offiziell verkündete, oft ohne Folgen blieb und von den Adressaten häufig von vornherein als leere Phrase angesehen wurde („Rotlichtbestrahlung“), verhielt sich jener Teil der SED, der von den zum Schluß über 90.000 hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern repräsentiert wurde, viel stärker analog dem Auftrag, wie er etwa im Wörterbuch umrissen war. Die Behandlung Oppositioneller durch das MfS, ihre geheime oder gar offene Verfolgung mit oftmals auch nach DDR-Recht illegalen Methoden, ihre Behandlung in den Untersuchungshaftanstalten und in den „Zuführungsobjekten“ trug oft jene Züge von „Haß“ und „Unerbittlichkeit“, wie sie hier gefordert wurden. MfS-Sprache war die Sprache von „Tätern“.

Folglich genügt es nicht, Textanalyse zu betreiben. Welche Praxis aus der Theorie folgte, darf nicht aus dem Blick geraten. Das gilt auch für manchen eher banal klingenden Fachbegriff aus dem Dienstalltag des MfS, etwa die → Geruchsdifferenzierung durch → Differenzierungshunde. Beide Termini waren aus der DDR-Kriminalistik übernommen worden.31 Auch die Praxis wies Parallelen auf: Stoffproben, an denen der Körpergeruch bestimmter Personen haftete, wurden in Weckgläsern luftdicht aufbewahrt, um bei Bedarf durch Einsatz speziell ausgebildeter Hunde zu prüfen, ob der gleiche Geruch an anderem Ort festzustellen war. Die Kriminalpolizei versuchte so zum Beispiel Einbrecher zu überführen, die am Tatort Bekleidungsstücke hinterlassen hatten, und konnte das Ergebnis als Beweis im Strafprozeß verwenden. Das MfS aber ging zumeist konspirativ zu Werke und schob vorläufig Festgenommenen sterile Tücher in die Kleidung, „bevorzugt […] in die Hüft- bzw. Leistengegend“32, um Geruchsproben zu nehmen und zu prüfen, ob die in Verdacht geratene Person zum Beispiel an einem Dissidententreffen in einer bestimmten Wohnung teilgenommen hatte. Um die Konspiration zu wahren, untersagte das MfS die strafrechtliche Verwendung solcher Beweise (→ Beweis, inoffizieller). Gerichtsverwendbar war ohnehin nur, was legal beschafft worden war. Gerade die MfS-Aktionen aber erfüllten diese Bedingung oft nicht.

1.4.Zum Selbstverständnis der „Tschekisten“

Das Wörterbuch ist eine besonders aufschlußreiche und ergiebige Quelle, um Authentisches über das Selbstverständnis des MfS zu erfahren. Wer in dieser Absicht unter dem Stichwort → Ministerium für Staatssicherheit nachschlägt, wird allerdings zunächst mit Erstaunen feststellen, daß eine General-Definition, vielleicht verbunden mit einem historischen Abriß, nicht gegeben wird. Erläutert werden nur zwei spezielle Aspekte seiner Existenz: die „Angriffe“ gegen das MfS und dessen „Innere Sicherheit“. Doch gibt es in Definitionen wie diesen eine Vielzahl von Aussagen, die zugleich das Selbstverständnis des Staatssicherheitsdienstes wiedergeben. So stößt man unter dem Stichwort → Ministerium für Staatssicherheit, Innere Sicherheit auf penetrantes, propagandistisch überhöhtes Selbstlob, wenn dort die Funktion des MfS als eines „Organs der Diktatur des Proletariats“ hervorgehoben wird, „das vom Volke verehrt und vom Feind gehaßt“ werde. Als seine Arbeitsgrundlagen werden an erster Stelle die Parteitagsbeschlüsse von SED und KPdSU [!] genannt. Zudem gelte es, durch „verstärkte Traditionspflege“ den „Stolz darauf zu entwickeln, Angehöriger des MfS zu sein“ und Einstellungen „weiter auszuprägen“, den Dienst „nicht schlechthin als eine übliche – wenn auch gut bezahlte [!] – Berufsausübung“ anzusehen, „sondern als eine Berufung durch die Partei der Arbeiterklasse zu betrachten, der man täglich aufs Neue gerecht werden“ müsse.

Als → Hauptaufgabe des MfS wird zusammenfassend die „Gewährleistung der staatlichen Sicherheit der DDR vor allen Angriffen innerer und äußerer Feinde“ genannt. Im „Zusammenwirken“ mit „staatlichen Organen, wirtschaftlichen Einrichtungen und gesellschaftlichen Organisationen“ komme es darauf an, bereits vorbeugend tätig zu werden. Betont wird, daß die Aufklärungs- und Abwehraufgaben „in einem engen Zusammenhang“ stünden. Am Ende der Begriffserläuterung wird der Auftrag des MfS in nur einem Satz zusammengefaßt:

„Insgesamt muß die Erfüllung der Hauptaufgabe des MfS zu Arbeitsresultaten führen, die geeignet sind, der Partei rechtzeitig strategische und taktische Informationen über den Gegner zur Verfügung zu stellen, den Feind in seinen Ausgangsbasen im Operationsgebiet aufzuklären, zu stören und zu bekämpfen, feindliche Machenschaften gegen die DDR zu verhindern, innere Feinde zu entlarven und die Sicherheit der DDR unter allen Lagebedingungen zu gewährleisten sowie Schäden und Schadenshandlungen durch Vorbeugung, höhere Wachsamkeit, Disziplin und Ordnung zu verhindern.“

Gerade in dieser Formulierung wird die Funktion des Geheimdienstes als Instrument der Partei besonders deutlich.

Ergänzendes zum Selbstverständnis findet man unter dem Rubrum → Sicherheitspolitik, sozialistische. Zur Rolle des Staatssicherheitsdienstes heißt es dort, er habe, entsprechend dem „Klassenauftrag der Partei […] vorrangig alle subversiven Angriffe des Gegners, insbesondere auf die Verteidigungsfähigkeit des Sozialismus, die störungsfreie Durchsetzung der ökonomischen Strategie der Partei und die ideologischen Grundlagen der Weltanschauung der Arbeiterklasse vorbeugend zu verhindern, rechtzeitig aufzudecken und wirksam zu bekämpfen […]“. Auffallend ist, daß der Schutz der Parteiideologie mit zu den Aufgaben des Staatssicherheitsdienstes gezählt wurde, der damit in der Tat auch die Funktion einer Art „Ideologiepolizei“ (Siegfried Mampel) für sich reklamierte.

Auffallend ist zudem, daß gerade die Definition der sozialistischen Sicherheitspolitik angereichert ist mit einer Vielzahl ideologisch geprägter, überhöhender Attribute. Sie besitze „friedensschaffenden, friedenserhalten[den] und friedensgebietenden“, zudem „revolutionär-schützenden“ und „humanistischen“, „gesamtgesellschaftlichen“ ebenso wie „internationalistischen“ Charakter. Der Gedanke drängt sich auf, daß mit dieser Wortwahl internem moralischen Zweifel am eigenen Tun begegnet und verdrängt werden sollte, daß gerade die vom MfS exekutierte Sicherheitspolitik der SED von der großen Mehrheit der Bevölkerung keineswegs so gesehen wurde, wie sie hier beschrieben war.

Solche Schwierigkeiten, sich mit der eigenen Tätigkeit vollauf zu identifizieren, deuten sich auch im Begrifflichen an. So hat das MfS unübersehbar Mühe, das eigene Tun mit einem passenden Attribut zu charakterisieren, und beschränkt sich schließlich auf die inhaltsleere Formel „politisch-operativ“. „Geheimdienstlich“ arbeitet immer nur der „imperialistische“ Gegner. „Agenten“ und „Spione“ sind stets Mitarbeiter der anderen Seite. Schaut man, wie die Tätigkeit der im „Operationsgebiet“, etwa in der Bundesrepublik, für das MfS Arbeitenden begrifflich gefaßt wurde, so stößt man auf die gleiche Bezeichnung, die auch für die Zuträger innerhalb der DDR verwendet wurde: „IM“, also Inoffizieller Mitarbeiter (→ Aufklärungsarbeit, politisch-operative). Das ist um so verwunderlicher, als die SED-Propaganda nach der Festnahme des Kanzleramtsspions Günter Guillaume viel Mühe darauf verwendet hatte, zwischen „Spionage“ und „Kundschaftertätigkeit“ zu unterscheiden, und nicht müde geworden war, letztere als ehrenvolles Engagement für den „Erhalt des Friedens“ zu würdigen. In die erste Auflage war der Begriff des Kundschafters aufgenommen worden. Es bleibt unerklärlich, warum er gerade in der nach der Enttarnung Guillaumes erschienenen zweiten Auflage nicht mehr enthalten ist und nur in den Definitionen anderer Termini noch vorkommt (→ Beobachtung, feindliche und → Manipulierung, feindliche).

Auf ähnliche Verdrängungsversuche und Identifikationsprobleme stößt, wer die Erläuterungen zu → Abschöpfung,Entführung, → Funkaufklärung, → Korruption,Tarnfirma, → Telefonüberwachung, → Terror und → Verschleppung nachliest. Auch sie gelten jeweils als Praktiken allein gegnerischer Geheimdienste und ihrer Agenten. Um so bemerkenswerter ist es, daß wenigstens in der Definition des → Kompromats erkennbar wird, daß auch das MfS mit den Mitteln der Erpressung arbeitete, um inoffizielle Mitarbeiter zu gewinnen, und die Hauptverwaltung Aufklärung im „Operationsgebiet“ zuweilen Informationen durch Täuschung erlangte (→ Fremde Flagge). Lediglich der → Tote Briefkasten wird als Terminus westlicher wie östlicher Geheimdienste beschrieben.

Nirgendwo wird der gegen die eigene Bevölkerung gerichtete tatsächliche Umfang geheimpolizeilicher Tätigkeit des MfS in der DDR deutlich. Allenfalls die Vielzahl der Eintragungen zu den → Inoffiziellen Mitarbeitern läßt erahnen, daß die MfS-Aktivitäten sich nicht primär auf Agenten westlicher Geheimdienste, sondern gegen die Unzufriedenen und zu offener Kritik Bereiten unter den Mitbürgern richtete.

1.5.Das Bild des MfS von der Bevölkerung

Das Verhältnis MfS – Bevölkerung wird im Wörterbuch als harmonisch beschrieben. Gleichsam zur Erläuterung der zitierten Behauptung, der Geheimdienst werde „vom Volk verehrt“, liest man unter dem Stichwort → staatliche Sicherheit, ihre „Gewährleistung“ sei „Anliegen der gesamten sozialistischen Gesellschaft, ihres Staates und aller Bürger unter Führung der SED“. Gegenüber dieser Phalanx der Bevölkerung nehmen sich die an nachgeordneter Stelle angesprochenen „subversiven Handlungen feindlich tätiger Personen“ in der DDR marginal aus.

Bedenkt man, daß Mitte der achtziger Jahre der Staatssicherheitsdienst ins Gigantische gewachsen war und 1989 schließlich über insgesamt ca. 265.000 hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter verfügte,33 so dokumentierte sich in dieser geradezu idyllischen Beschreibung des Verhältnisses zwischen Geheimdienst und Bevölkerung ein eklatanter Realitätsverlust.

So gut der Staatssicherheitsdienst über die tatsächlichen Verhältnisse in der DDR informiert war, in seinen Wahrnehmungen und Deutungen blieb er doch ideologiebefangen, manchmal geradezu blind. Ein Eindruck, den man auch bei der Lektüre seiner zusammenfassenden Berichte an die SED-Führung vielfach bestätigt findet. Als Teil der Partei übernahm er deren ideologisch verzerrtes Welt- und DDR-Bild und verdrängte beständig, daß die Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung nicht auf westliche „Feindtätigkeit“ zurückzuführen, sondern selbstverschuldet war. Insofern war das MfS ein schlechter Berater der Partei, denn es bestätigte immer wieder deren Überzeugung, die eigene Politik sei grundsätzlich richtig und werde gleichsam gesetzmäßig zum Erfolg führen.

Vergeblich sucht man im Wörterbuch nach Ansätzen, die Ursachen für oppositionelle Tendenzen wirklich zu ergründen. Schon die Begriffsbildungen wie → Manipulierung, feindliche oder → Menschenrechtsdemagogie, imperialistische machen deutlich, daß für das MfS der Urheber von vornherein feststand: die gezielte Einwirkung des „imperialistischen“ Gegners jenseits der Westgrenze. Und was für die DDR galt, traf nach dem Urteil des MfS, das auch hier der herrschenden SED-Doktrin folgte, auf alle sozialistischen Staaten zu. Die Existenz einer „breite[n] innere[n] Opposition“ oder gar „Untergrundbewegung“ in diesen Ländern sei eine Erfindung des Gegners, ein bewußter Täuschungsversuch, erfährt man unter dem Stichwort → Dissident. Denn unter diesem Terminus würden „sowohl Staatsverbrecher als auch kriminelle, dekadente, asoziale, religiös gebundene u. a. Personen, die mit der Weltanschauung der Arbeiterklasse und der gesellschaftlichen Praxis in den sozialistischen Ländern nicht übereinstimmen“, subsumiert.