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Andreas Sommer

Freunde

LangenMüller

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© für die Originalausgabe und das eBook:

2016 LangenMüller in der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung nach einem Entwurf von Julien Junghäni

Umschlagfotos: shutterstock

Satz und eBook-Produktion:

Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

www.Buch-Werkstatt.de

ISBN 978-3-7844-8258-3

Die Selbsttäuschung beherrscht

der Mensch noch sicherer als die Lüge.

DOSTOJEWSKI

Für Gina,

die als Einzige keine Änderungen am Manuskript verlangt hat.

Vorspann

»… ein Wendepunkt in meinem Leben?« Bastian verzieht das Gesicht, als sei Ginas Frage eine Zumutung.

Wir befinden uns in unserem kargen Bio-Labor. Vier Stühle um einen fleckigen Holztisch. Knapp über Kopfhöhe schweben unzählige blaue, graue, gelbe und weiße Notizzettel, mit Wäscheklammern an hin- und herlaufenden Plastikleinen befestigt; sie streichen einem unweigerlich übers Haar, wenn man umhergeht. Im vergitterten Fenster ein Rechteck blauen Himmels. Wir sind amtlich bewilligt beisammen in diesem Raum der Justizvollzugsanstalt Pottwyss.

Bastian knetet seine Nasenspitze wie immer, wenn er unentschlossen ist. »Doch … einen gab es! In diesem Blitzlichtgewitter … in Paris«, sagt er wie entrückt. »Der Dalai Lama zieht mich an seine Seite, umarmt mich, und schlagartig weiß ich: Ich bin zurück aus der Versenkung.« Bastian Grimm, Politiker, der Eloquenteste unseres Quartetts.

Danach ist es ein Gebot der Fairness, dass auch Gina, Joël und ich unsere Wendepunkte preisgeben.

»Meine Ankunft in Lissabon, als mich Staatspräsident Soares umarmte. So schlecht roch Mario, dass ich dachte: Liebe macht blind. Niemals hätte ich Tiego in seine Heimat folgen dürfen.« Das sagt die willensstarke, schöne Gina Bianchi, eingewanderte Italienerin, unsere Idealistin.

»Bei euren Wendepunkten muss wohl stets ein Promi dabei sein«, spottet Joël, der Künstler. Gina übergeht ihn: »Und dann, als mir vor der Spitalbaracke in Accra der Junge unter den Händen wegstarb. Nach dem Busunfall, als sie den schwer verletzten Fahrer verprügelten …«

Verlegen nestelt Joël an seiner Brille mit den rotgetönten Gläsern.

Um ihn aus seiner Beschämung zu erlösen, präsentiere ich meinen Wendepunkt: »Im Dschungel mit Geronimo. Als er mit ironischem Blick auf die Armbanduhr gesagt hat: ›Ich gebe euch zehn Jahre, um euren Banken ihre unseligen Geschäfte mit den Bösewichten dieser Welt abzugewöhnen.‹ Er meinte das Bankgeheimnis, und ich dachte etwas wie: Wette angenommen!«

Stimmt doch nicht, widerspricht es in meinem Kopf. Der entscheidende Augenblick kam viel später: Ich mit Lani in der Bar in Zürich, unter diesem riesigen Ventilator. Mein Gesicht im Spiegel unter den leuchtenden Likörflaschen blickt mich voller Verachtung an. Ich presse die Lippen zusammen, während mein Spiegelbild seine bewegt. Und ich glaube sogar zu hören, was es sagt: Lahmarsch! Verräter!

Bastian grinst: »Wette angenommen, nicht schlecht. Vom Dschungel in den Knast – mein Gott, Pio, wenn das kein schlüssiger Lebenslauf ist.«

Draußen nähern sich Schritte, von Gesetzes wegen selbstsicher. Gleich wird der Beamte seinen kontrollierenden Blick hereinwerfen.

»Ich will es hinter mich bringen«, seufzt Joël. »Wenn Wendepunkt meint, dass man eine Art Erleuchtung hat, dann hat es auch mich zwei Mal getroffen. Eva schießt auf ihrem Roller mit fliegendem roten Schal auf mich zu, und ich erkenne: diese Frau! Sie ist es!« Die Schritte im Korridor verhallen. »Die andere Wende geschah bei dir, Pio, in Brighton. Als ich mich auf die Zeichnungen deiner Zwillinge erbrach und sie danach minutiös kopierte, damit sie von dieser Schändung nie erfahren würden.«

Wir alle blicken Joël irritiert an, und Bastian ruft: »Ich kapituliere vor einem Schicksal, das sich solche Kapriolen leistet. Weil du Kinderzeichnungen vollgekotzt hast, bist du berühmt geworden?«

Überraschend steckt der Wachmann seinen Kopf doch zur Tür herein. »So ein Atomdings ist explodiert«, sagt er, grinst. »Keine Sorge, drüben in Japan, in Fujarama oder ähnlich. Schluss für heute, meine Herren! Die Dame ist natürlich mit gemeint.«