Jan Böcken, Bernard Braun,
Rüdiger Meierjürgen (Hrsg.)

Gesundheitsmonitor 2016

Bürgerorientierung
im Gesundheitswesen

Kooperationsprojekt der
Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK

| Verlag BertelsmannStiftung

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abruf bar.

Wir verwenden in dieser Publikation keine durchgängig geschlechtergerechte
Sprache. Mit »Ärzte«, »Patienten«, »Bürger« etc. sind immer Männer und
Frauen gemeint.

© 2016 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh
Verantwortlich: Dr. Jan Böcken, Bertelsmann Stiftung;
Dr. Rüdiger Meierjürgen, BARMER GEK

Redaktion: 37 Grad Analyse und Beratung GmbH, Köln
Lektorat: Heike Herrberg

Herstellung: Christiane Raffel
Umschlaggestaltung: Elisabeth Menke

Umschlagabbildung: Terry Vine/Blend Images RF/Strandperle
ISBN 978-3-86793-751-1 (Print)
ISBN 978-3-86793-775-7 (E-Book PDF)
ISBN 978-3-86793-776-4 (E-Book EPUB)

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Einleitung
15 Jahre Gesundheitsmonitor

Jan Böcken, Bernard Braun, Rüdiger Meierjürgen

Die Idee des Gesundheitsmonitors entstand im Jahr 2000 auf dem Fachsymposium des Carl Bertelsmann-Preises. Alle Akteure waren sich einig, dass eine stärkere Berücksichtigung von Versicherteninteressen bei der Ausgestaltung des Gesundheitssystems in den nächsten Jahren anzustreben sei. Allerdings war weitestgehend unklar, wie genau diese Interessen aussahen. Es standen kaum geeignete Daten zur Verfügung, die aus der Perspektive der Bürger eine qualifizierte Beurteilung des Versorgungsgeschehens und gesundheitspolitischer Reformvorhaben zuließen. Verschiedene Initiativen aus Politik, Wissenschaft und Verbänden waren zuvor gescheitert. Die Gründe hierfür waren vielfältig: Fehlende Ressourcen, methodische Bedenken oder unterschiedliche Interessen beteiligter Akteure standen einer Umsetzung oftmals im Wege.

Korrespondierend mit dem Stiftungszweck beschloss dann die Bertelsmann Stiftung, sich langfristig stärker der Bürgerperspektive im Gesundheitswesen auf der Grundlage fundierter empirischer Analysen zu widmen. Die Generierung von Primärdaten bot die Chance, unabhängig von anderen Datenquellen eine analytische Kompetenz aufzubauen und sich auf einer eigenen Datenbasis in gesundheitspolitischen Debatten zu positionieren.

Anfang der 2000er-Jahre betrat der Gesundheitsmonitor an vielen Stellen Neuland. Vor allem musste, um eine breite öffentliche und politische Wahrnehmung zu erreichen, der schwierige Spagat zwischen einem hohen methodischen Anspruch und klar verständlichen Botschaften gemeistert werden.

Die konzeptionellen Grundlagen für den Gesundheitsmonitor wurden gemeinsam von der Universität Witten-Herdecke und der Bertelsmann Stiftung geschaffen. Wissenschaftler der Universität Bremen haben sie dann kontinuierlich weiterentwickelt. Entlang internationaler Vorbilder und bereits validierter Fragebogen entstand der bis heute genutzte Ansatz von zwei Fragebogenteilen: eines gleichbleibenden Teils, der die Grundlage für das jährliche Monitoring bildet, sowie eines variablen Teils zu unterschiedlichen Themenkomplexen.

In dem gleichbleibenden Teil werden Fragen zur Situation in der ambulanten, vor allem der hausärztlichen Versorgung und Fragen zu den Erwartungen von Patienten an das Arzt-Patienten-Verhältnis sowie zum tatsächlichen Kommunikations- und Überweisungsverhalten von Ärzten gestellt. Andere kontinuierliche Fragen liefern epidemiologische Informationen zum Krankheitsspektrum sowie zu einer Fülle von soziodemographischen Charakteristika der Befragten. Darüber hinaus werden übergeordnete Fragen zum deutschen Gesundheitswesen gestellt, in denen es sowohl um den Status quo, etwa der Finanzierung, als auch um die Einschätzung von zukünftigen Entwicklungen wichtiger Leistungsmerkmale (z. B. der künftigen Versorgung älterer Versicherter) geht.

In dem hier vorliegenden Buch sind es zwei Kapitel, die diese Schätze zu heben versuchen. Gerd Marstedt und Hartmut Reiners gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, wie Laien die oft unübersichtlichen Veränderungen der Rahmenbedingungen für die gesundheitliche Versorgung in der Bevölkerung wahrnehmen und bewerten. Im Fokus stehen einige zentrale Merkmale, die über all die Jahre zum festen Bestandteil des Gesundheitsmonitors gehört haben: das Solidarprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), die Zufriedenheit mit der medizinischen Versorgung oder Befürchtungen mit Blick auf künftige Entwicklungen. Als Fazit lässt sich konstatieren, dass von 2001 bis 2015 die Urteile zum Reformbedarf im Gesundheitswesen und die Zufriedenheit mit der Gesundheitsversorgung sehr stabil sind.

Melanie Schnee, die den Gesundheitsmonitor ebenso wie Gerd Marstedt von Anfang an begleitet und geformt hat, wertet die vielfältigen Daten zur hausärztlichen Versorgung aus. Seit 2001 wurden in zahlreichen Beiträgen im Gesundheitsmonitor unterschiedliche Aspekte der hausärztlichen Versorgung analysiert. Der Beitrag von Schnee überprüft, ob und in welcher Weise sich in den letzten 15 Jahren aus Sicht der Befragten Veränderungen in der hausärztlichen Versorgung ergeben haben.

Auch der variable thematische Teil bietet seit jeher die Chance, Themen wiederaufzunehmen und Veränderungen zwischen zwei Zeitpunkten zu analysieren. So untersuchen Sebastian Euler und Jan Böcken in ihrem aktuellen Beitrag, wie sich das Wissen und die Wahrnehmung der Bevölkerung hinsichtlich ihrer Patientenrechte im Jahr 2015 im Vergleich zur ersten Untersuchung im Jahr 2010 verändert haben. 2015 glaubten die Bürger in Deutschland zwar, sie wüssten besser über ihre Patientenrechte Bescheid; tatsächlich hat sich ihr Wissen zu diesem Thema aber verringert. In einem weiteren Beitrag greifen Sophia Gottschall et al. mit der elektronischen Gesundheitskarte eines der zentralen Reformprojekte im Gesundheitswesen auf und gehen insbesondere der Frage nach, wie sich deren Akzeptanz und die ihrer Anwendungen – auch im Vergleich zum ersten Gesundheitsmonitor-Beitrag zu diesem Thema im Jahr 2006 – inzwischen entwickelt hat.

In den vergangenen 15 Jahren wurden über 80.000 Versicherte und mehr als 4.000 Ärzte für den Gesundheitsmonitor befragt. Weit über 200 Autoren haben Beiträge für den Gesundheitsmonitor verfasst. Die Herausgeber spekulieren seit Langem darüber, warum es immer wieder ohne große Probleme gelungen ist, qualifizierte Autorinnen und Autoren zu gewinnen. Lag es an der Chance, Primärdaten für die Forschung erheben zu können, oder an der Möglichkeit, auch außerhalb der reinen wissenschaftlichen Fachdiskussion eine gewisse Aufmerksamkeit zu erhalten? Offensichtlich hat sich in den letzten 15 Jahren etwas verändert: Universitäre Forschung wird vielerorts nicht mehr völlig losgelöst von den Versorgungsdebatten im Gesundheitswesen geführt; die Autoren wollen sich in die Diskussionen einbringen und Impulse für die Weiterentwicklung des gesundheitlichen Versorgungssystems geben.

Der Gesundheitsmonitor verfolgte dabei den Ansatz, möglichst viele und auch pluralistische Einblicke in die Wirklichkeit des Gesundheitswesens zu ermöglichen. Die wissenschaftlichen Experten sollten dabei bewusst aus verschiedenen Disziplinen (z. B. Gesundheitswissenschaften, Ökonomie oder Medizin) und von unterschiedlichen Hochschulen und Forschungsinstituten stammen sowie unter Praxisexperten, etwa aus Politik und Selbstverwaltung, rekrutiert werden. Allerdings verlor sich der Gesundheitsmonitor bei aller Vielfältigkeit nie in einer Beliebigkeit: Die normativen Grundlagen bildeten immer die Suche nach den Kerninteressen der Bürger sowie die Frage nach der Funktionsfähigkeit eines solidarischen Gesundheitswesens.

Die Autoren ließen sich dabei – ohne das vorher immer unbedingt zu ahnen – auf ein anspruchsvolles Review ein. Bernard Braun und Gerd Marstedt von der Universität Bremen haben den Gesundheitsmonitor fast von der ersten Stunde an inhaltlich und methodisch begleitet; etwas später kam Mathias Kifmann von der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg hinzu. Das Review bildete zusammen mit strukturierten Abläufen und festgelegten Zeitplänen das Fundament für das regelmäßige Erscheinen. Um dem Anspruch gerecht zu werden, komplexe Analysen der Versorgung verständlich darzustellen und zu kommunizieren, ging jedes Buchkapitel zudem durch mehrere Lektorate, in denen immer wieder wissenschaftliche Exaktheit und Verständlichkeit gegeneinander abgewogen wurden. Über 150 Fragen eines Fragebogens in einen guten Artikel zu verwandeln, ist schon schwierig genug. Das rund ein Dutzend Mal gleichzeitig zu tun, sodass die Beiträge zu vorher festgelegten Zeitpunkten zur Verfügung stehen, ist kein Hexenwerk, aber sehr anspruchsvolles Handwerk: Vor allem die Agentur 37 Grad, die seit 2005 den Redaktionsprozess koordinierte, leistete hier oft Großes.

Einzelne Kapitel des Buches bildeten die Grundlage für einen in der Regel viermal jährlich erscheinenden Newsletter, dem jeweils ein Editorial mit prägnanter Illustration vorangestellt wurde. Breite öffentliche Aufmerksamkeit jedoch erzielten immer wieder dazu herausgegebene Presseartikel. Wir waren manchmal nicht nur sehr überrascht, sondern hin und wieder auch ein wenig stolz auf das Medienecho. So erreichte im Frühjahr 2015 eine Pressemeldung zu einem Beitrag von Anja Chevalier und Gert Kaluza, der sich dem Thema „Selbstgefährdendes Verhalten in der Arbeitswelt“ und dessen Folgen für die Gesundheit widmete, eine für alle Beteiligten unerwartete Aufmerksamkeit. Wir zählten weit über tausend Beiträge in Print- und Onlinemedien, fast einhundert Fernseh- und Rundfunkbeiträge sowie zahlreiche Anfragen aus Wissenschaft und Praxis. Bereits ein Jahr zuvor hatte eine Studie von Marie-Luise Dierks und Norbert Schmacke auf der Grundlage von Versichertendaten der BARMER GEK zum bevölkerungsbezogenen Mammographie-Screening eine ähnlich starke Medienresonanz ausgelöst und zugleich wegweisende Impulse für die Diskussion der Ausgestaltung des Screening-Verfahrens gegeben. Der Newsletter sowie die damit verbundenen Presseaktivitäten haben ohne Frage in den vergangenen Jahren maßgeblich dazu beigetragen, dass die Studien des Gesundheitsmonitors viele Diskussionen um die Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung nachhaltig beeinflusst haben.

Auch in dem vorliegenden Band finden sich vier Beiträge, die in den vergangenen Monaten in modifizierter Form bereits als Newsletter publiziert wurden.

Die Analyse von Saskia Jünger et al. liefert einen empirischen Beitrag zur Beziehung zwischen Palliativversorgung und Sterbehilfe und insbesondere zu den auch nach der jüngsten Gesetzgebung weiterhin kontrovers diskutierten Fragen hinsichtlich der (ärztlich) assistierten Selbsttötung.

Max Geraedts und Rike Kraska gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, inwieweit und warum Bürger Zweitmeinungen in Anspruch nehmen, ob es hierbei Unterschiede zwischen Patientengruppen gibt und bei welchen diagnostischen oder therapeutischen Prozeduren dies geschieht oder für wünschenswert gehalten wird. Ein zentrales Ergebnis ist, dass die Zweitmeinungen tatsächlich in der überwiegenden Zahl der Fälle eine Entscheidungsänderung auslösen.

Anja Bittner befasst sich vor dem Hintergrund der zunehmenden Recherche von Patienten zu Gesundheitsthemen im Internet mit den Erfahrungen, den Einstellungen und dem Umgang von Ärzten mit informierten Patienten. Grundlage ihrer Studie bildet eine Ärztebefragung. Es zeigt sich, dass viele Ärzte den informierten Patienten kritisch gegenüberstehen. Gleichzeitig wissen sie oft nicht, wie die Patienteninformation aus dem Internet zu bewerten ist und wo sich evidenzbasierte Materialien für Patienten im Netz finden lassen.

Laura Schang, Wiebke Schüttig und Leonie Sundmacher untersuchen die Präferenzen der Bevölkerung ländlicher Räume hinsichtlich einer wohnortnahen ärztlichen Versorgung, um daraus Informationen für die Reform der Bedarfsplanung zu gewinnen. Ein zentrales Ergebnis ist, dass die wohnortnahe Versorgung für fast drei Viertel der erwerbstätigen Befragten äußerst wichtig ist.

Zahlreiche Impulse für die inhaltlich-methodische Weiterentwicklung, die empirische Fundierung sowie die Verbreitung des Gesundheitsmonitors entstanden seit 2011 aus der Kooperation mit der BARMER GEK. Die Zusammenarbeit schuf die Möglichkeit, Versichertenbefragungen zu relevanten Versorgungsthemen durchzuführen. Für den Gesundheitsmonitor wurden damit neue Fragestellungen bearbeitbar und es entstanden seither zahlreiche Beiträge zu spezifischen Versorgungsthemen. Die Studien nahmen indikationsspezifische Themen wie Rückenschmerz, ADHS oder Tonsillektomie ebenso in den Blick wie aktuelle versorgungsrelevante Themenfelder, beispielsweise die Kaiserschnittraten, die Homöopathie, das Mammographie-Screening oder Antibiotikaverordnungen bei Kindern aus Sicht der Versicherten.

Auch diese Ausgabe kann erneut belegen, dass der durch die Kooperation von BARMER GEK und Bertelsmann Stiftung eingeschlagene Weg, das gesundheitliche Versorgungssystem und -geschehen mit Bevölkerungs- und Versichertenbefragungen zu untersuchen, gangbar und fruchtbar ist.

Die Autorengruppe um Mathias Kifmann und Jonas Schreyögg befasst sich auf Grundlage einer Versichertenbefragung mit den Erfahrungen von Patienten mit Bandscheibenschäden im Lendenwirbelbereich, die an der Bandscheibe operiert wurden. Insbesondere wird die Indikationsqualität untersucht. Ein spannendes Ergebnis ist, dass bei über einem Viertel der Patienten, bei denen eine Notoperation weitestmöglich ausgeschlossen werden kann, konservative Therapien nicht konsequent verfolgt wurden – oder es wurde operiert, obwohl diese Therapien anschlugen.

Alexander Spassov et al. untersuchen die kieferorthopädische Behandlung aus der Perspektive junger Patienten und ihrer Eltern. Der Beitrag zeigt unter anderem, dass in Deutschland entgegen der internationalen Evidenz die anfängliche Behandlung mit losen Zahnspangen bei deutlich über der Hälfte der behandelten Kinder nach wie vor die Regel zu sein scheint und dies wahrscheinlich zu der im internationalen Vergleich wesentlich längeren Behandlungszeit beiträgt.

Maren Dreier, Kathrin Krüger und Ulla Walter analysieren die Erfahrungen der Versicherten mit der präventiven Koloskopie und die damit verbundenen Informationsbedürfnisse. Es wird deutlich, dass die präventive Koloskopie insgesamt hoch akzeptiert ist. Patienten wünschen sich aber trotzdem mehr Informationen zu möglichen Risiken und Komplikationen.

In einem abschließenden Beitrag beschäftigen sich Thomas Brechtel, Martin Buitkamp und Christoph Klotter mit Gesundheitsängsten und vor allem ihrer Bedeutung für die Arzt-Patienten-Interaktion. Dabei zeigt sich, dass in der Bevölkerung als Folge der Finan-zierungs- und Kostendiskussion insbesondere Ängste hinsichtlich einer Kürzung von Versicherungsleistungen bestehen.

Nach 15 Jahren erscheint der Gesundheitsmonitor in diesem Jahr vorerst zum letzten Mal. Es freut uns sehr, dass in dieser Zeit Beiträge des Gesundheitsmonitors Themen in die Diskussion gebracht haben, bei denen zuvor das Interesse der Bürger und Patienten nur ungenügend berücksichtigt wurde, und dass das eine oder andere Mal Anstöße für Veränderungen gegeben werden konnten. Das gefiel nicht immer allen, aber allen gefallen zu wollen ist speziell im Gesundheitswesen ein sicheres Zeichen, nichts Relevantes beizutragen.

Die Bertelsmann Stiftung und die BARMER GEK als Projektträger werden künftig neue Wege gehen, um auf Basis von Bevölkerungsund Versichertenbefragungen das gesundheitliche Versorgungssystem und -geschehen aus der Perspektive der Bürger und Patienten zu analysieren und zu bewerten. Auch in Zukunft benötigen wir fundierte Informationen über gesundheitsbezogene Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung, über Versorgungsprobleme und wahrgenommene Fehlentwicklungen sowie zur Akzeptanz und Zufriedenheit mit dem Versorgungssystem. Das Erfahrungswissen, wie man das machen kann und welche Sackgassen besser zu meiden sind, liegt vor. Wir teilen es gern mit allen, die sich ebenfalls dem Leitgedanken eines solidarischen Gesundheitssystems verschrieben haben, das sich am Bedarf der Bürger orientiert.

Unser Dank gilt allen Autorinnen, Autoren und Unterstützern über die Jahre – und ein letztes Mal: Viel Spaß beim Lesen!

Das deutsche Gesundheitswesen 2001 bis 2015 aus der Versichertenperspektive

Gerd Marstedt, Hartmut Reiners

Reformen im Gesundheitswesen als Daueraufgabe der Politik

Seit über 25 Jahren finden eine Reihe von Reformgesetzen zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) statt, gemeinhin »Gesundheitsreformen« genannt. Es begann mit dem Gesundheitsreformgesetz (GRG) vom 21. Dezember 1988. Die damals verbreitete Vorstellung, man könne das Gesundheitswesen beziehungsweise die gesetzliche Krankenversicherung mit einer großen »Jahrhundertreform« (Norbert Blüm) in zwei oder drei Stufen nachhaltig verändern, hat sich als Illusion erwiesen. Das Gesundheitswesen ist ein sehr komplexer Wirtschaftszweig, in dem über fünf Millionen Menschen mehr als elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Davon werden knapp 80 Prozent öffentlich finanziert. Daher müssen Anpassungen an sich verändernde Anforderungen, die in anderen gesellschaftlichen Sektoren über den Markt ablaufen, von der Politik realisiert werden. Das führt zu einer im Prinzip unendlichen Kette von Rechtsänderungen nach dem Motto »Nach der Reform ist vor der Reform«.

Dabei handelt es sich um eine Mischung aus größeren Weichenstellungen und einem Nachjustieren der vorgegebenen Entwicklungspfade auf verschiedenen Steuerungsebenen. Das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) vom 21. Dezember 1992 bildete mit einer Organisationsreform der GKV die Grundlage für alle nachfolgenden Reformgesetze. Es beendete die noch im 19. Jahrhundert verhaftete Gliederung der GKV in Pflichtkassen für Arbeiter und Wahlkassen für Angestellte und führte ab 1996 die freie Wahl der Krankenkassen für alle Versicherungsberechtigten ein. Damit zog der Wettbewerb ins GKV-System ein, der durch einen bundesweiten Risikostrukturausgleich (RSA) flankiert wurde, welcher die Risikoselektion verhindern sollte. Daraus ergaben sich weitere Steuerungsprobleme, die in nachfolgenden Gesetzen angegangen wurden.

Ein weiterer Meilenstein war die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung mit dem Pflege-Versicherungsgesetz vom 24. Mai 1994, das seither in mehreren Gesetzen weiterentwickelt wurde. Allein in dem hier zur Diskussion stehenden Zeitraum seit dem Jahr 2001 wurden über 50 Bundesgesetze zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung verabschiedet (Knieps und Reiners 2015: 321 ff.). Die wichtigsten Reformgesetze davon waren:

Das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) vom 14. November 2003 führte den Grundsatz der evidenzbasierten Medizin als Kriterium für die Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ein und gab dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zeitliche Vorgaben für diese Prüfungen. Außerdem erhielten erstmals Medizinische Versorgungszentren (MVZ) mit angestellten Ärzten die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung.

Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vom 26. März 2007 führte den Gesundheitsfonds mit einem allgemeinen Beitragssatz ein, der für alle Krankenkassen gilt und gesetzlich festgelegt wird. Die Krankenkassen erhalten aus dem Gesundheitsfonds pro versicherte Person einen nach Alter, Geschlecht und Morbidität gewichteten Betrag. Kommt eine Krankenkasse mit dieser Zuweisung nicht aus, muss sie einen Zusatzbeitrag erheben.

Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 28. Mai 2008 führte Leistungen für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz (z. B. Demenzkranke) und Pflegestützpunkte für das Fallmanagement ein.

Das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) vom 22. Dezember 2010 gab den Krankenkassen die Möglichkeit, mit den Herstellern neu zugelassener Medikamente in Preisverhandlungen zu treten, und baute die Rabattverträge der Kassen für Arzneimittel weiter aus.

Hinzu kommen Gesetze, die im Befragungszeitraum (2010 bis 2015) erst kurze Zeit Geltung hatten. Zu nennen sind das Erste Pflegestärkungsgesetz (PSG I) vom 17. Dezember 2014, das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) vom 22. Juli 2015 sowie mehrere im Oktober und November 2015 verabschiedete Gesetze (Krankenhausstrukturgesetz – KHSG, Pflegestärkungsgesetz II – PSG II, Hospiz- und Palliativgesetz – HPG).

Diese wachsende Regulierungsdichte ist nicht das Ergebnis von Politikversagen, sondern Konsequenz der komplizierten Strukturen des Gesundheitswesens (z. B. föderale Steuerung, Einfluss von Verbänden, Krankenkassen, Leistungserbringern), die für die meisten Bürger undurchschaubar bleiben. Diese interessieren sich eher für die persönlich spürbaren Auswirkungen der Gesundheitspolitik, weniger für deren meist nur Fachleuten zugänglichen Abläufe.

Dieser Beitrag geht den folgenden Fragestellungen nach und knüpft damit an eine frühere Veröffentlichung des Gesundheitsmonitors an (Braun und Gerlinger 2008):

Gibt es im Verlauf von anderthalb Jahrzehnten nennenswerte Veränderungen in den Urteilen der Bevölkerung? Wie gezeigt, wurden in diesem Zeitraum mehrere Gesundheitsreformen mit spürbaren Konsequenzen für Versicherte und Patienten verabschiedet. Die Frage ist, ob und wie sich diese Reformen in den Urteilen der Versicherten niederschlagen.

Lassen sich markante Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen in der Beurteilung der Versorgungsstrukturen und Finanzierungsmodalitäten im Gesundheitssystem finden? Zeigen sich beispielsweise in der Bewertung der Versorgungsstrukturen signifikante Unterschiede zwischen chronisch Erkrankten und Gesunden, zwischen GKV- und PKV-Versicherten? Oder unterscheiden sich bei der Bewertung der Solidarprinzipien in der GKV die Versichertengruppen voneinander, etwa Alleinstehende von Gesunden, Besserverdiener von Jüngeren?

Sind die Bewertungstendenzen für das Gesundheitssystem mit allgemeinen Wertorientierungen und Kenntnissen in der Bevölkerung verknüpft? Beeinflussen Kenntnisse über das Gesundheitswesen oder das System der Patientenrechte auch deren Bewertung? Welchen Einfluss haben Moralvorstellungen oder Gerechtigkeitsprinzipien auf die Bewertung von Solidarprinzipien in der gesetzlichen Krankenversicherung?

Die Grundlagen der Analysen bilden durchweg Befragungsergebnisse des Gesundheitsmonitors – für das Kapitel »Kontinuität und Veränderungen 2001 bis 2015« aus den Jahren 2001 bis 2015. Hier liegen den vorgestellten Befunden insgesamt 22 Datensätze mit jeweils über 1.500 Befragten im Alter von 18 bis 79 Jahren zugrunde. Die Datensätze sind repräsentativ hinsichtlich der Merkmale »Lebensalter«, »Geschlecht«, »Bildungsniveau« und »regionale Verteilung«. Da zwischen erster und letzter Erhebung rund 15 Jahre liegen, wurden für die Analyse im Kapitel »Einflussfaktoren und Gruppenunterschiede« nur Daten der Gesundheitsmonitor-Wellen 2010 bis 2015 verwendet, für einige spezielle Fragestellungen auch nur zwei Datensätze.

Kontinuität und Veränderungen 2001 bis 2015

Strukturreformen im Gesundheitswesen haben ein größeres Echo bei den Versicherten, wenn sie unmittelbaren Einfluss auf den Alltag der Menschen haben. Das aber ist eher die Ausnahme als die Regel. Ein Beispiel ist das GKV-Modernisierungsgesetz aus dem Jahr 2003, das zwei wichtige Neuerungen brachte: ein effektiveres Verfahren zur Kosten-Nutzen-Beurteilung von medizinischen Innovationen sowie die Zulassung Medizinischer Versorgungszentren (MVZ) mit angestellten Ärzten zur vertragsärztlichen Versorgung.

Die Effekte dieser Neuerungen sind für die Patienten und Versicherten nicht direkt spürbar – im Unterschied zu der mit demselben Gesetz eingeführten Praxisgebühr und der Umstellung der Zahnersatzleistungen der Krankenkassen von einer Sachleistung zu einem Festzuschuss. Die Proteste gegen diese Leistungskürzungen übertönten das zudem auch nur verhaltene Lob der Fachwelt für die verbesserte Qualitätssicherung der von der GKV gebotenen medizinischen Leistungen. Bei den Bürgern erweckte zudem der in der Politik entfachte Streit über das Gesetz den Eindruck, das Gesundheitswesen sei marode. Das wiederholte sich beim GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, das im März 2007 nach fast einjährigen Kontroversen in der damaligen Koalition aus Union und SPD verabschiedet wurde. Mittlerweile werden die Auseinandersetzungen über Gesundheitspolitik etwas moderater geführt, was sich in einer etwas besseren Beurteilung der Reformbedürftigkeit des Gesundheitswesens niederschlägt (Abbildung 1).

Diese empfindliche Reaktion der Bürger auf politische Kontroversen zeigt sich auch bei den Befürchtungen für die zukünftige Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung (Abbildung 2). Die Angst, keine ausreichende medizinische Versorgung im Alter zu haben, hatten Anfang der 2000er-Jahre auf dem Höhepunkt der öffentlichen Debatte über einen angeblich nicht zu finanzierenden Sozialstaat fast 80 Prozent der Befragten. Die Quote liegt aktuell bei unter 40 Prozent, ein zwar immer noch hoher Wert, aber doch ein Indikator für eine verringerte Furcht vor einer schlechteren gesundheitlichen Versorgung im Alter.

Abbildung 1: Gesamtbeurteilung der Reformbedürftigkeit des deutschen Gesundheitswesens (2001 bis 2015)

Angaben in Prozent der Befragten; je nach Erhebungswelle n = 1.409 bis 1.780

Eine generelle Reduzierung der Krankenkassenleistungen fürchten zwar nach wie vor etwa 65 Prozent der Befragten, aber auch dieser Wert ist seit Anfang der Gesundheitsmonitor-Erhebungen deutlich gesunken. Behandlungsfehler und lange Wartezeiten spielen in der Beurteilung der Bürger zur Qualität des Gesundheitswesens ebenfalls eine abnehmende Rolle. Auffällig ist die in den letzten Jahren wieder zunehmende Bedeutung der Datensicherheit. Sie steht möglicherweise im Zusammenhang mit der Einführung der Gesundheitskarte sowie den Skandalen im Bereich der IT-Sicherheit wie der Abhörpraxis von Geheimdiensten.

Der Anteil der Befragten, die das deutsche Gesundheitswesen für grundlegend reformbedürftig beziehungsweise einschneidende Maßnahmen für erforderlich halten, war vor allem Anfang der 2000erJahre sehr hoch. Ähnlich hohe Werte gab es 2004/2005, als der Bundestagswahlkampf bevorstand, in dem die Gesundheitspolitik eine wichtige Rolle spielte. Hervorzuheben bleibt parallel dazu das insgesamt sehr hohe Niveau der Befürchtungen, was die künftige gesundheitliche Versorgung angeht. Auch wenn hier in den vergangenen Jahren eine gewisse Beruhigung zu beobachten ist, werden Verschlechterungen wie der Ausschluss von Leistungen durch die Krankenkassen oder eine schlechtere Versorgung Älterer noch immer von mehr als zwei Dritteln der Versicherten befürchtet.

Abbildung 2: Befürchtungen für die künftige Entwicklung ausgewählter Versorgungsmerkmale (2001 bis 2015)

Angaben in Prozent der Befragten; je nach Erhebungswelle n = 1.374 bis 1.778

Die Debatte wurde von der auch innerhalb der rot-grünen Koalition nicht unumstrittenen Agenda 2010 von Bundeskanzler Gerhard Schröder bestimmt, die einen Umbau des Sozialversicherungssystems vorsah und sich zunächst auf die Arbeitslosenversicherung (»Hartz-Reformen«) konzentrierte. Nach dem Vorbild der für die Arbeitsmarktpolitik gebildeten Hartz-Kommission setzte die Gesundheits- und Sozialministerin Ulla Schmidt eine nach ihrem Vorsitzenden Bernd Rürup benannte Kommission ein, die Vorschläge für eine Reform der Renten- und Krankenversicherung erarbeiten sollte. Sie lieferte kontroverse Reformvorschläge ab, die mangels politischer Mehrheiten nicht umsetzbar waren. Das galt auch für die parallel mit dem gleichen Ziel von den Unionsparteien unter Leitung des Altbundespräsidenten Roman Herzog eingesetzte Kommission, deren Empfehlung, die einkommensbezogene Beitragsfinanzierung der GKV durch eine Kopfpauschale mit einem steuerfinanzierten Sozialausgleich zu ersetzen, schon innerhalb der Union nicht konsensfähig war. Überprüft man das Gesamturteil der Versicherten über das Gesundheitswesen und bezieht dabei auch Leistungs- und Finanzierungsaspekte mit ein, zeigt sich etwa bis 2007/2008 eine verhaltene Kritik und danach eine steigende Zufriedenheit, die bei der letzten Erhebung knapp über 60 Prozent »zufriedene« oder sogar »sehr zufriedene« Versicherte umfasst (Abbildung 3). Als »sehr unzufrieden« zeigt sich umgekehrt seit Beginn der Befragung Anfang der 2000erJahre nur eine kleine Minderheit von unter fünf Prozent. Weitere fünf bis zehn Prozent waren »etwas unzufrieden«. Dieser harte Kern von Kritikern lag zuletzt (2015) bei unter zehn Prozent.

Abbildung 3: Zufriedenheit mit der Gesundheitsversorgung insgesamt bei GKV-Versicherten (2001 bis 2015)

Angaben in Prozent der Befragten; je nach Erhebungswelle n = 1.418 bis 1.785

Damit wird der Gesundheitspolitik implizit ein besseres Zeugnis ausgestellt, als die Antworten zur Frage nach der Reformbedürftigkeit angedeutet haben. Die in den letzten Jahren gestiegene Zufriedenheit mit der medizinischen Versorgung kann allerdings auch mit der relativ guten wirtschaftlichen Lage in Deutschland zusammenhängen, die zu einer generell größeren Zufriedenheit mit der Lebensqualität führt.

Abbildung 4: Urteile über die Gerechtigkeit der Solidarprinzipien in der GKV (2001 bis 2015)

Antwortkategorien »vollkommen gerecht« oder »überwiegend gerecht«, Angaben in Prozent der Befragten; je nach Erhebungswelle n = 1.310 bis 1.662

Die relativ gute Beurteilung der allgemeinen Gesundheitsversorgung steht im Einklang mit dem großen Rückhalt, den die solidarische Finanzierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung in der Bevölkerung hat. Mehrere Ausgleichsmechanismen (nach Lebensalter, Verdienst, Gesundheitszustand) werden von mehr als drei Viertel der Befragten als »vollkommen« oder »überwiegend« gerecht bewertet (Abbildung 4). Lediglich der »Familienlastenausgleich« (»Alleinstehende unterstützen Familien«) wird mit 60 bis 70 Prozent Zustimmung weniger akzeptiert. Hervorzuheben ist allerdings, dass auch hier seit etwa 2007/2008 die Zustimmung wächst.

Diese gewachsene Betonung der Unterstützung der Familien durch Alleinstehende ist besonders bemerkenswert. Die Mitversicherung von Familienangehörigen war bei der Anfang der 2000er-Jahre laufenden Debatte um eine grundlegende Reform der GKV-Finanzierung einer der zentralen Streitpunkte, der aber heute offenbar keine entscheidende Rolle mehr spielt. Auf jeden Fall wird die solidarische Finanzierung der GKV seit dem Jahr 2001 ungebrochen und überaus breit von den Bürgern unterstützt.

Einflussfaktoren und Gruppenunterschiede

Die allgemeine Zufriedenheit mit dem deutschen Gesundheitswesen ist relativ hoch, wobei offenbleibt, inwieweit es zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen diskrepante Bewertungen gibt. Zwar liegt, um ein Beispiel zu nennen, die Zustimmung zu den Solidarprinzipien der GKV im Sommer 2015 überaus hoch (meist höher als 70 %), doch könnte es durchaus sein, dass hier einzelne Gruppen wie Besserverdiener oder PKV-Versicherte erhebliche Einwände haben und das bemerkenswert positive Urteil überwiegend durch Bewertungen jener zustande kommt, die von den finanziellen Ausgleichsmechanismen innerhalb der GKV profitieren.

Um den damit zusammenhängenden Fragen nachzugehen, wurde bei den folgenden Analysen einerseits der Zeithorizont etwas verengt, sodass nur jüngere Befragungsergebnisse (der Jahre 2010 bis 2015) berücksichtigt wurden. Gesucht wurde dann nach Differenzen zwischen Bevölkerungsgruppen hinsichtlich der Bewertung verschiedener Aspekte des Gesundheitswesens und der Versorgung. Als potenzielle Einflussfaktoren (unabhängige Variablen) wurden analysiert:

soziodemographische Merkmale: Lebensalter, Geschlecht, soziale Schichtzugehörigkeit (als Resultat von Bildungsniveau, Einkommen und bei Erwerbstätigen Stellung im Beruf), Familienstand (nur beim Urteil zu den Solidarprinzipien in der GKV)

Morbiditätsaspekte: Betroffenheit von chronischer Erkrankung, Behinderung (mit Handicaps), Selbsteinstufung des Gesundheitszustands

Versorgungserfahrungen (Häufigkeit der Hausarzt- und Facharztbesuche)

Wohnortgröße (als Indikator für die Arztdichte und -nähe)

Versichertenstatus (GKV, PKV, Beamte mit privater Zusatzversicherung)

Viele dieser Variablen hängen eng zusammen, wie etwa das Lebensalter mit dem Gesundheitszustand, Letzteres wiederum mit der Intensität der Versorgungserfahrungen. Es wurden daher multivariate Analyseverfahren eingesetzt, um den Effekt einzelner Einflussfaktoren zu überprüfen.

Erkannter Reformbedarf für das Gesundheitswesen

Trotz der im Prinzip positiven Gesamtbeurteilung des deutschen Gesundheitswesens artikuliert die Mehrheit der Versicherten auch in den Jahren 2010 bis 2015 eine eher kritische Sicht: Über die Hälfte hält einschneidende Reformen für nötig und knapp jeder zehnte Befragte votiert sogar für einen radikalen Neuaufbau des Systems. Es zeigen sich aber Differenzen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. Im Folgenden jeweils genannt sind Odds-Ratios (OR), die die Stärke des Zusammenhangs beziffern und zwischen null und unendlich schwanken können, sowie das jeweilige Signifikanzniveau (p).

Das OR gibt für jede berücksichtigte Einflussvariable an, um welchen Betrag sich die Chance für das Auftreten eines bestimmten untersuchten Merkmals ändert, wenn sich die Einflussvariable um einen Betrag von 1 erhöht (bei Skalen) beziehungsweise wenn die Einflussvariable mit der Referenzgruppe verglichen wird (bei ordinalen Merkmalen). Bei einem OR von über 1 steigt die Chance, bei einem OR von unter 1 sinkt sie und bei einem OR von genau 1 ist das Verhältnis ausgeglichen – es gibt keinen Unterschied.

Jüngere (bis 39 Jahre) üben schärfere Kritik, was den Reformbedarf des Gesundheitswesens betrifft (OR 2,2; Vergleichsgruppe Ältere ab 60; p < 0,001).

Dieser Zusammenhang gilt in ähnlicher Form für die Schichtzugehörigkeit: Hier zeigen sich Unterschichtangehörige kritischer (OR 1,3; Vergleichsgruppe Oberschicht; p < 0,01).

Ebenso spielt der aktuelle Gesundheitszustand eine Rolle. Nicht überraschend zeigen sich hier die akut Erkrankten kritischer (OR 1,6; Vergleichsgruppe gesund; p < 0,001).

Auch der Versichertenstatus hat Einfluss: Während GKV- und PKV-Versicherte sich nicht signifikant unterscheiden, sind Beamte mit privater Zusatzversicherung deutlich zufriedener und sehen seltener einen größeren Reformbedarf (OR 0,5; Vergleichsgruppe GKV; p < 0,001).

Abbildung 5: Effekte von Lebensalter und Schichtzugehörigkeit auf die Bewertung der Reformbedürftigkeit des deutschen Gesundheitswesens (2010 bis 2015)

Urteil: hoher oder sehr hoher Reformbedarf, Angaben in Prozent der Befragten; n = 9.636

Hingegen haben persönliche Versorgungserfahrungen, die Arztdichte am Wohnort und auch dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen wie chronische Erkrankungen oder Behinderungen kaum Einfluss auf die Bewertung des Gesundheitswesens. Es ist bemerkenswert, dass dauerhaft Kranke (wie Behinderte oder chronisch Erkrankte) und Gesunde sich in ihren Urteilen nicht unterscheiden, ganz im Unterschied zur Schichtzugehörigkeit (Abbildung 5). Die größere Kritik der Jüngeren kann man wohl auf ihren im Vergleich zu Älteren eingeschränkten Erfahrungshorizont und die damit verbundenen geringeren Vergleichsmöglichkeiten zurückführen. Dieser Befund ist keinesfalls selbstverständlich, wenn man die Floskel »früher war alles besser« als eher seniorentypische Sichtweise betrachtet. Die stärkere Kritik der Unterschichtangehörigen könnte sowohl durch Finanzierungsaspekte (z. B. Beitragssteigerungen) als auch durch negative Versorgungserfahrungen und deren Rahmenbedingungen (z. B. Wartezeiten auf Termine) verursacht sein. Hierauf wird später noch eingegangen.

Zufriedenheit mit der Gesundheitsversorgung

Im Kontrast zum eher kritischen Gesamturteil für das Gesundheitswesen zeigt sich für die Gesundheitsversorgung, also die medizinische Infrastruktur und Qualität der Leistungserbringung, ein tendenziell positives Urteil. Nur ein kleiner Teil der Befragten hebt Schwachstellen hervor. »Sehr zufrieden« oder »eher zufrieden« äußern sich im Zeitraum 2010 bis 2015 insgesamt 52 Prozent, »etwas« oder »sehr unzufrieden« sind lediglich elf Prozent. Aber mehr als ein Drittel (37 %) nimmt mit dem Urteil »teils, teils« zumindest einige Mängel wahr.

Überprüft man die Differenzen zwischen den Bevölkerungsgruppen, zeigen sich ähnliche Befunde wie schon zuvor, wobei allerdings eine noch größere Zahl von unabhängigen Variablen signifikante Effekte zeigt. Als »kritisch« werden bei dieser Analyse die Urteile »sehr unzufrieden«, »etwas unzufrieden« und »teils, teils« zusammengefasst.

Ein markanter Einfluss zeigt sich erneut für das Alter, auch hier sind Jüngere kritischer (OR 2,1; Vergleichsgruppe Ältere ab 60; p < 0,001).

Ebenso sind Unterschichtangehörige unzufriedener (OR 1,5; Vergleichsgruppe Oberschicht; p < 0,001).

PKV-Versicherte und Beamte mit Zusatzversicherung sind weniger unzufrieden als GKV-Versicherte (OR PKV 0,6; OR Beamte 0,5; Vergleichsgruppe für beide GKV; p für beide < 0,001).

Einen graduellen Einfluss hat die Ortsgröße als Indikator der Arzterreichbarkeit. Versicherte in kleineren Ortschaften (unter 5.000 Einwohnern) sind ein wenig unzufriedener (OR 1,3; Vergleichsgruppe Ortsgröße über 100.000; p < 0,01).

Ohne zusätzliche Informationen schwer zu interpretieren ist der Einfluss des Geschlechts: Frauen artikulieren häufiger ihre Unzufriedenheit (OR 1,3; Vergleichsgruppe Männer; p < 0,001).

Auch der aktuelle Gesundheitszustand zeigt Effekte. Wer seine Gesundheit aktuell eher als schlecht einstuft, ist unzufriedener (OR 2,5; Vergleichsgruppe gesund; p < 0,001).

Bei dauerhaft gesundheitlichen Beeinträchtigten (chronisch Kranke, Behinderte) zeigen sich keine Effekte.

Für die beiden Merkmale mit besonders deutlichem Einfluss, Lebensalter und Gesundheitszustand, zeigt Abbildung 6 den kombinierten Einfluss. Während der Effekt des Gesundheitszustands unmittelbar nachvollziehbar ist (Kranke sind unzufriedener), überrascht es, dass das Ausmaß an Unzufriedenheit bei gesunden Jüngeren ähnlich groß ist (46 %) wie bei Älteren mit eher schlechtem Gesundheitszustand (47 %).

Abbildung 6: Effekte von Lebensalter und Gesundheitszustand auf die Zufriedenheit mit der Gesundheitsversorgung (2010 bis 2015)

Urteil: weniger zufrieden, Angaben in Prozent der Befragten; n = 12.065

Befürchtungen zur künftigen Versorgung

Die Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung wurde in den Gesundheitsmonitor-Befragungen um fünf Fragen ergänzt, die mögliche Verschlechterungen in der Zukunft thematisieren. Auch wird nur der Befragungszeitraum von 2010 bis 2015 betrachtet. Unter dem Strich zeigt sich eine recht unterschiedliche Bewertung der verschiedenen Risiken. Nach der Häufigkeit ihrer Nennung sortiert, gibt es folgende Befürchtungen (Antwortkategorie »ja«; n > 8.516):

zunehmende Wartezeiten auf Therapien oder Operationen (80 %)

von der Krankenkasse nicht mehr übernommene Leistungen (71 %)

Einsicht Unbefugter in persönliche Gesundheitsdaten (51 %)

unzureichende medizinische Versorgung im Alter (44 %)

zukünftige medizinische Behandlungsfehler (35 %)

Bildet man einen Gesamtindex, der die fünf Risiken durch Addition zusammenfasst, zeigt sich zunächst, dass nur zehn Prozent der Befragten keinerlei Befürchtungen hegen. Umgekehrt finden sich bei gut einem Drittel (34 %) Befürchtungen, die vier oder sogar fünf der Aspekte betreffen. Eine multivariate Analyse für diese abhängige Variable zeigt: Höhere Befürchtungen finden sich bei jüngeren Befragten bis 39 Jahre (OR 1,6; Vergleichsgruppe Ältere ab 60; p < 0,001), für akut Erkrankte (OR 1,7; Vergleichsgruppe aktuell Gesunde; p < 0,001) und für GKV-Versicherte (OR 1,5; Vergleichsgruppe PKV; p < 0,01). Nun sind die angesprochenen Risiken nicht für alle Bevölkerungsgruppen gleich hoch. Es wurden die Effekte für alle fünf Aspekte überprüft (Tabelle 1).

Das Lebensalter und dann die Selbsteinstufung des aktuellen Gesundheitszustands haben den stärksten Einfluss auf Befürchtungen zukünftiger Risiken im Gesundheits- und Versorgungssystem. Es überrascht, dass Jüngere sehr viel häufiger Risiken wahrnehmen als Ältere. Ältere zeigen sich mit zunehmenden Erfahrungen auch gelassener, was die Bewertung zukünftiger Risiken betrifft. Maßgeblich könnte hier die Lebenserfahrung der Älteren sein – schließlich haben nicht wenige dieser Bevölkerungsgruppe (Jahrgänge 1936 bis 1955) noch den Zweiten Weltkrieg als Kinder miterlebt und als Jugendliche oder Erwachsene die Ära des Kalten Krieges.

Tabelle 1: Ergebnisse der fünf multivariaten Analysen (logistische Regressionen) zum Einfluss unterschiedlicher Merkmale auf wahrgenommene künftige Risiken im Gesundheitssystem

Antworthäufigkeit der Besorgten (Befragte, die Befürchtungen artikulieren), leere Tabellenzellen: nicht signifikante Effekte; in die Analysen einbezogene Befragte n > 6.032; Odds-Ratios (OR) und Signifikanzniveau: * p ≤ 0,05; ** p ≤ 0,01; *** p ≤ 0,001

Dass GKV-Versicherte häufiger als PKV-Versicherte eine schlechtere oder kostenträchtigere Versorgung befürchten, kann schon aufgrund der Berichterstattung in vielen Medien nicht wirklich überraschen. Nicht zu erwarten war indes, dass chronisch Kranke und Behinderte (auch solche mit größeren Handicaps) zukünftige Risiken kaum unterschiedlich einschätzen, wohl aber Versicherte, die ihren Gesundheitszustand schlechter bewerten. Offenbar wird eine chronische Erkrankung oder Behinderung von den meisten Befragten nicht als ein gravierendes zusätzliches Risiko für die eigene Gesundheit oder Daseinssicherung wahrgenommen.

Es liegt nahe, dass diese Einstellung mit zunehmenden persönlichen Erfahrungen erst heranwächst. Hier unterscheiden sich Chroniker und Behinderte von den akut erkrankten (oder gesundheitlich besonders sensiblen) Befragungsteilnehmenden, die offensichtlich größere Ängste und Unsicherheiten hinsichtlich ihrer Rekonvaleszenz empfinden. Dies ist als deutlicher Hinweis darauf zu interpretieren, dass das Urteil über das Gesundheitssystem und die Versorgungsstrukturen keine ausschließlich rationale und erfahrungsgesättigte Aussage darstellt, sondern auch beeinflusst ist von Ängsten und emotionalen Unsicherheiten.

Bewertungen der Solidarprinzipien in der GKV

Die Zeitvergleiche für die Zustimmung zu den Solidarprinzipien (Abbildung 4) machen deutlich, dass eine extrem hohe Zustimmung zu den Ausgleichsmechanismen der GKV besteht und diese Quote in den letzten Jahren noch gestiegen ist. Betrachtet man den Zeitraum 2010 bis 2015, finden sich folgende Häufigkeiten für die Urteile »vollkommen gerecht« oder »überwiegend gerecht«:

Bezieher hoher Einkommen unterstützen Bezieher geringer Einkommen (83 %).

Junge unterstützen Ältere (81 %).

Gesunde unterstützen Kranke (80 %).

Alleinstehende unterstützen Familien (68 %).

Die Zustimmung zum Lastenausgleich für Familien ist zwar niedriger als bei den anderen Merkmalen des Solidarprinzips, aber sie ist immer noch sehr hoch. Auch für diese Bewertungen wurde geprüft, ob die zustimmenden Urteile in allen Bevölkerungsgruppen vergleichbar groß ausfallen. Es wäre nachvollziehbar, wenn die Unterstützer (Gutverdiener, Jüngere, Gesunde, Alleinstehende) weniger Zustimmung äußerten als die von ihnen unterstützten Gruppen. Alle vier Urteile korrelieren sehr stark miteinander, sodass hier durch Addition der vier Urteile ein Gesamtwert und durch Zusammenfassung der Summen zwei Gruppen gebildet werden. Dabei kommen 80 Prozent der Befragten zum Gesamturteil »eher gerecht«, nur 20 Prozent urteilen »eher ungerecht«. Welche Bevölkerungsgruppen tendieren eher zu einer negativen Bewertung?

Wie aus Tabelle 2 hervorgeht, weichen erneut Jüngere vom Mehrheitsurteil durch kritischere Bewertungen ab. Dies gilt auch für Alleinstehende und für Unterschichtangehörige sowie – recht überraschend – für Frauen. GKV-Mitglieder andererseits sind in ihrer Einstellung besonders positiv. In Tabelle 2 aufgeführt sind neben den Odds-Ratios der multivariaten Analysen auch für die fünf signifikanten Einflussfaktoren die Antworthäufigkeiten in Prozent für kritische Urteile (»überwiegend« oder »vollkommen ungerecht«). Es zeigt sich: Mit Ausnahme des Alters sind die Differenzen für die konträren Gruppen bei den übrigen Merkmalen eher gering. Doch auch in der besonders kritischen Gruppe der Jüngeren zeigen noch über zwei Drittel (70 %) eine positive, zustimmende Einstellung zu den Solidarprinzipien in der GKV.

Das kritischere Urteil von Alleinstehenden lässt sich so erklären, dass sie nicht von der finanziellen Bevorzugung von Familien in der GKV profitieren, sondern diese Leistungen in gewissem Umfang finanzieren müssen. Nicht ohne Weiteres zu erklären ist indes die Kritik der weiblichen Befragten sowie die der Unterschichtangehörigen – Letztere sind ja weithin Nutznießer der Solidarprinzipien. Möglicherweise lässt sich dieser Befund erklären mit geringeren Kenntnissen oder abweichenden Gerechtigkeitskriterien beider Gruppen. Darauf geht das nächste Kapitel ein.

Als Zwischenergebnis bleibt wieder festzuhalten: Der von der Mehrheit der Befragten konstatierte hohe Reformbedarf für das deutsche Gesundheitswesen betrifft offensichtlich nicht die Solidarprinzipien der GKV: Diese wurden mit gestiegener Tendenz im Zeitraum 2010 bis 2015 von über drei Viertel aller Versicherten als gerecht wahrgenommen. Es müssen also andere Merkmale sein, die die Versicherten als veränderungsbedürftig beurteilen.

Tabelle 2: Einfluss unterschiedlicher Merkmale auf die Gesamtzustimmung zu den Solidarprinzipien in der GKV (Befragte, die diese als »eher ungerecht« bewerten)

nicht signifikante Effekte; in die Analysen einbezogene Befragte n > 6.612; Odds-Ratios (OR) und Signifikanzniveau: * p ≤ 0,05; ** p ≤ 0,01; *** p ≤ 0,001

Effekte von Kenntnissen und Gerechtigkeitsprinzipien für die Bewertung des Gesundheitswesens

Im Folgenden werden Merkmale überprüft, die Kenntnisse, Verhaltensmerkmale und Wertorientierungen der Versicherten betreffen. Zur Analyse standen hier nur Daten aus den beiden Erhebungsjahren 2010 und 2015 zur Verfügung, sodass die Stichproben kleiner ausfallen als zuvor. Inhaltlich geht es um diese Aspekte:

Kenntnisse zur GKV/PKV: Es geht um Fragen wie etwa, ob sich jeder unabhängig vom Einkommen in der PKV versichern kann, ob in der GKV Alte und Kranke höhere Beiträge zahlen, ob Ärzte für Privatversicherte höhere Honorare abrechnen können. Vorgegeben waren die Rubriken »zutreffend« und »nicht zutreffend«.

Kenntnisse von Patientenrechten: Hier wurden in ähnlicher Weise grundlegende Kenntnisse erfragt, etwa ob Patienten grundsätzlich das Krankenhaus frei wählen und Einsicht in die Patientenakte verlangen können oder ob der Arzt Angehörige über den Gesundheitszustand der Patienten informieren muss.

Informationsverhalten und Interessen hinsichtlich gesundheitlicher Fragen: Hat man schon einmal (oder öfter) einen medizinischen Spezialisten gesucht, Wirkungen und Nebenwirkungen eines Medikaments recherchiert oder Informationen zu ablehnenden Bescheiden einer Krankenkasse bezüglich einer Leistung?

Gerechtigkeitsvorstellungen in verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren: Angesprochen wurde hier beispielsweise der im Vergleich zu Männern im Durchschnitt niedrigere Verdienst von Frauen, die um zehn Jahre höhere Lebenserwartung von Universitätsprofessoren im Vergleich zu Arbeitern oder die Millioneneinkommen von Fußballprofis.

Tabelle 3