Cover

Nicole Deitelhoff/Michael Zürn

Lehrbuch der
Internationalen
Beziehungen

Per Anhalter durch
die IB-Galaxis

C.H.Beck


Zum Buch

Nicole Deitelhoff und Michael Zürn navigieren in diesem ebenso kurzweiligen wie informativen Lehrbuch durch die komplexe Geschichte und die Theorienlandschaft der Internationalen Beziehungen. Das Fach präsentieren sie als eine Galaxis, die durch eine Vielzahl von Planeten bevölkert ist. Sie beherbergen unterschiedliche Zivilisationen, die man gemeinhin als Theorieschulen und Einzeltheorien kennt und die in ihrer Entwicklung jeweils in spezifische historische Kontexte eingebettet sind. So wie die IB-Galaxis in der Zeit der Weltkriege vor allem durch die Frage nach Krieg und Frieden bestimmt war, so stehen heute die Möglichkeit einer globalen Ordnung und eines globalen Regierens im Zentrum der Auseinandersetzungen. Konkrete zeithistorische Probleme führen zu spezifischen Fragen und Theorien, die jeweils für eine Weile dominieren, bevor neue Theorieangebote sie überlagern, ohne sie jedoch komplett zum Verschwinden zu bringen. Seien Sie angesichts dieser Komplexität gewarnt: Sollten Sie noch nie einen Schritt in diese Galaxis gewagt haben, könnten Sie eine leichte Reisekrankheit verspüren, die nur der Genuss einer grundständigen Einführung in die IB-Theorien nachhaltig heilen kann.

Über die Autoren

Nicole Deitelhoff ist Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungspolitik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Michael Zürn ist Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Internationale Beziehungen an der FU Berlin.

Inhalt

Vorbemerkung und Danksagung

Prolog

Teil I: Internationale Beziehungen als Anarchie

Kapitel 1: Geschichte des internationalen Systems und Theorien der Internationalen Beziehungen

1.1. Die Entstehung und Konsolidierung des internationalen Staatensystems

1.2. Industrialisierung, Imperialismus und die großen Kriege

1.3. Die Urzivilisationen

Realismus

Liberalismus

Marxismus

1.4. Die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Der Kalte Krieg

Nord-Süd-Konflikt und die Marxisten

Liberale Renaissance: die Phase der Détente

Neue Politikfelder und Akteure: die Sozialkonstruktivisten

1.5. Zusammenfassung

Kapitel 2: Krieg und Frieden

2.1. Die Etablierung des Fachs Internationale Beziehungen in der Zeit der Weltkriege

2.2. Kalter Krieg und Realismus

2.3. Im Schatten des Kalten Krieges: Liberale Friedensansätze

2.4. Ausblick

Kapitel 3: Ungleichheit und strukturelle Gewalt: Vom Kolonialismus zur Unterentwicklung

3.1. Kolonialismus und Imperialismus

Kolonialismus

Der Imperialismus

3.2. Die Imperialismustheorien

Zeitgenössische Imperialismustheorien

Moderne Imperialismustheorien

3.3. Dekolonisation und der Nord-Süd-Konflikt

3.4. Dependenztheorien und das kapitalistische Weltsystem

Kapitel 4: Internationale Kooperation und Institutionen

4.1. Vom Friedens- zum Kooperationsparadigma

4.2. Internationale Institutionen und ihr Beitrag zur Kooperation

4.3. Rationalistische Theorien zur Entstehung internationaler Institutionen

4.4. Institutional Choice

Rational Design

Prinzipal-Agent-Theorie

Verrechtlichung

Internationale Regimekomplexe

4.5. Zur Wirksamkeit internationaler Institutionen

4.6. Präferenzen und Grenzen (in) der rationalistischen Institutionentheorie

Kapitel 5: Ideen und Werte in der internationalen Politik: Von der Problemlösung zur Normativität

5.1. Die Auseinandersetzung mit dem Rationalismus: Welcome to the Magic Kingdom

5.2. Die Rolle und Wirkung sozialer Normen

5.3. Die handlungstheoretische Fundierung von Wandel und Kooperation («Arguing» und «Bargaining»)

5.4. Jenseits der Via media

Teil II: Jenseits der Anarchie

Kapitel 6: Global Governance

6.1. Globalisierung als Herausforderung für nationalstaatliche Politik

6.2. Das Konzept «Global Governance»

6.3. Die Entwicklung von Global Governance

6.4. Transformation der Staatlichkeit

6.5. Merkmale des globalen Mehrebenensystems

6.6. Ausblick: Strukturprobleme der Global Governance

Kapitel 7: Autorität und Legitimität in der Weltpolitik

7.1. Herrschaftssoziologische Grundlagen

Rationalistische Ansätze

Konstruktivistische Ansätze

Neogramscianische und poststrukturalistische Ansätze

Reflexiver Ansatz

7.2. Autorität im 21. Jahrhundert

Autorität als Kompetenzzuweisung

Eine Typologie öffentlicher Autorität

7.3. Eine Typologie politischer Legitimität

Politische Legitimität als gemeinwohlorientierte Praxis öffentlicher Autoritäten

Quellen politischer Legitimation

7.4. Autoritätsmuster im Wandel

Kapitel 8: Herrschaft und Widerstand: Die Rückkehr der kritischen Theorien

8.1. Institutionelle Dynamiken – Institutionelle Unruhe

Institutionelle Dynamiken

Institutionelle Unruhe

Widerstand

8.2. Die Vielfalt von Widerstand

Staatlicher Widerstand

Nichtstaatlicher Widerstand

8.3. Machtübergang, Politisierung und Resistance: Widerstand in der Theorie

Realistische und liberale Ansätze

Kritische Theorien

Neogramscianische Theorien

Poststrukturalistische Theorien

Kapitel 9: Schlussbetrachtung oder: Alles auf 42!

9.1. Von Krieg und Frieden über Kooperation zu Fragen politischer Ordnung

9.2. Reale Ordnung – Theoretisches Durcheinander

9.3. Alles auf Zweiundvierzig

Anmerkungen

Prolog

Teil I: Internationale Beziehungen als Anarchie

Kapitel 1: Geschichte des internationalen Systems und Theorien der Internationalen Beziehungen

Kapitel 2: Krieg und Frieden

Kapitel 3: Ungleichheit und strukturelle Gewalt: Vom Kolonialismus zur Unterentwicklung

Kapitel 4: Internationale Kooperation und Institutionen

Kapitel 5: Ideen und Werte in der internationalen Politik: Von der Problemlösung zur Normativität

Teil II: Jenseits der Anarchie

Kapitel 6: Global Governance

Kapitel 7: Autorität und Legitimität in der Weltpolitik

Kapitel 8: Herrschaft und Widerstand: Die Rückkehr der kritischen Theorien

Kapitel 9: Schlussbetrachtung oder: Alles auf 42!

Literaturverzeichnis

Register

Vorbemerkung und Danksagung

Das vorliegende Lehrbuch verbindet einen Überblick mit einer Stellungnahme. Im ersten Teil des Buches zeichnen wir die Entwicklung der Theorien der Internationalen Beziehungen sowohl mit Blick auf das historische Umfeld als auch auf die Debatten und Dynamiken in der Disziplin nach. Es entsteht im Ergebnis eine Darstellung der realistischen, liberalen (oder institutionalistischen) und marxistischen (oder kritischen) Theorie jeweils in ihren rationalistischen und konstruktivistischen Varianten. Diese Darstellung beinhaltet eine vergleichende und eine historische Dimension. Wir versuchen also die Plausibilität und Erklärungskraft der Theorien vergleichend zu diskutieren, sie zugleich aber in den jeweiligen historischen Kontext zu stellen. Selbst die größte Kritikerin des Realismus wird anerkennen müssen, dass das Europäische Staatensystem zu Ende des 17. Jahrhunderts ganz erheblich durch blanke Machtauseinandersetzungen mitgeprägt war; umgekehrt bleibt auch den härtesten Realisten nichts anderes übrig als zu konzedieren, dass in den 1990er Jahren viele Entscheidungen getroffen wurden, die nicht der Logik der Machtpolitik entsprangen – was vor allem in den USA durch öffentliche Kritiken an der vorherrschenden Politik bewirkt wurde. Diese historische Einbettung der Theorieentwicklung ist uns daher besonders wichtig, ohne die aktuellen Differenzen zwischen den Theorien damit fortzuhistorisieren.

Die Stellungnahme erfolgt im zweiten Teil des Buches. Dort machen wir einen – wiederum durch Veränderungen in der Weltpolitik mitverursachten – Quantensprung der Theorieentwicklung aus. Die Vorstellung von der internationalen Politik als einem anarchischen System wird in vielen theoretischen Arbeiten – oft implizit – abgelöst durch die Vorstellung einer globalen Ordnung, die in normative Strukturen eingebettet ist. Demnach wird das Kooperationsparadigma durch das Ordnungsparadigma abgelöst! Das ist eine Stellungnahme, die keinesfalls von der Disziplin als Ganzes geteilt wird. Wir begründen diese Stellungnahme aber und machen deutlich, dass eine solche Perspektive auf die Weltpolitik nicht mit sozialromantischen Harmonievorstellungen verwechselt werden sollte. An vielen Stellen erlaubt es eine solche Perspektive erst, die vielfältigen Unter- und Überordnungsbeziehungen in der Weltpolitik, erschreckende Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten – und die damit verbundenen Konflikte – offenzulegen. Wer heute noch die Weltpolitik primär als durch einen Machtkonflikt zwischen den USA und dem aufstrebenden China geprägt sieht, dem entgeht einfach zu viel.

Das Buch hat länger gebraucht, als vorgesehen war. Es wäre aber ganz bestimmt heute noch nicht fertig ohne die tatkräftige Unterstützung anderer. An erster Stelle sind dabei Georg Simmerl und Tobias Wille zu nennen. Sie haben die einzelnen Textabschnitte intensiv bearbeitet, geglättet und in Zusammenhang miteinander gebracht. Sie haben beide zudem theoretische Perspektiven eingebracht, die uns weniger nah sind als andere. Kurz: Sie haben weit mehr getan, als man von einer solchen Unterstützung erwarten kann und sollte. Darüber hinaus hat Christopher Daase viele Kapitel kritisch kommentiert und uns wertvolle Hinweise zur Überarbeitung gegeben. Weiterhin haben Jelena Bellmer, Lydia Both, Felix Große-Kreul, Miranda Loli, Rebecca Majewski, Alexander Passaro, Anne Reiff und insbesondere Katinka von Kovatsits, die u.a. mit Bettine Josties das Sachregister erstellt hat, tatkräftig und effizient an diesem Buch mitgewirkt. Ihnen gebührt viel Dank und hohe Wertschätzung. Nicht zuletzt wollen wir uns bei den Studierenden und Doktorandinnen und Doktoranden in Berlin und Frankfurt bedanken, die wir als Versuchsobjekte benutzen und die sich mit Vielem von dem, was sich in diesem Buch wiederfindet, in früheren und manchmal allzu unfertigen Versionen auseinandergesetzt haben.

Prolog

Die Erde muss einer galaktischen Hyperraum-Umgehungsstraße weichen. So beginnt die berühmte Geschichte von Douglas Adams «Per Anhalter durch die Galaxis».[1] In dieser Geschichte sind die Vogonen, eine besonders hässliche und übellaunige Spezies damit beauftragt, die Erde zu pulverisieren, um Platz für besagte Umgehungsstraße zu schaffen. Die Hauptfigur der Geschichte, Arthur Dent, ein relativ unbedeutender, langweiliger Bewohner der Erde, hat das Glück, dass Ford Prefect, ein Redakteur des «Anhalters durch die Galaxis», eines unverzichtbaren Reiseführers, seit einigen Jahren auf der Erde gestrandet ist. Er rettet Arthur, indem er ihn durch eine List auf eines der vogonischen Raumschiffe bringt. Es folgen eine absurd-aufregende Reise zu den verschiedensten Planeten und Begegnungen mit den unterschiedlichsten Zivilisationen, bei denen der «Anhalter durch die Galaxis» und seine beruhigenden Worte «KEINE PANIK» ihnen immer wieder durch brenzlige Situationen helfen.

Dieses Buch ist keine Weiterentwicklung der Geschichte über den Anhalter und Sie müssen sie auch nicht kennen, um dieses Buch verstehen oder, wie wir hoffen, mit Gewinn lesen zu können. Die Geschichte des Anhalters bot uns allerdings viel Anschauungsmaterial, wie man sicher und dennoch mit einem Sinn für Abenteuer und Vergnügungen durch die komplexe Geschichte und die Theorienlandschaft der Internationalen Beziehungen navigieren könnte. Ähnlich wie die Galaxis, eigentlich Galaxien, im Buch lässt sich auch die akademische Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) als Galaxis vorstellen, in der eine Vielzahl von Planeten umherschwirren, die unterschiedliche Zivilisationen beherbergen, die wir gemeinhin als Theorieschulen und Einzeltheorien kennen. Und auch dort hilft angesichts einer bisweilen überbordenden Komplexität: KEINE PANIK!

Es gilt, so eine zentrale Einsicht aus «Per Anhalter durch die Galaxis», die Antwort auf das Leben, das Universum und alles zu beachten. Diese Frage, so weiß der Anhalter zu berichten, stellte vor langer Zeit eine Rasse hyperintelligenter pandimensionaler Wesen einem eigens dafür konstruierten Superrechner namens Deep Thought. Deep Thought benötigte genau siebeneinhalb Millionen Jahre für seine Antwort.

Die Antwort auf die Frage nach allem, so antwortete Deep Thought ruhig und getragen, sei zweiundvierzig. Die Antwort stellte die Fragenden nicht eben zufrieden und so wurde in der Folge ein neuer organischer Rechner gebaut, der die Erde war … aber das muss Sie gar nicht interessieren.

Zweiundvierzig ist auch die richtige Antwort (oder zumindest Eine aus der Menge der richtigen) auf die Frage, welche der Theorien der Internationalen Beziehungen die richtige ist, um die internationalen Beziehungen zu erklären. Es kommt – wie Deep Thought etwas altklug anmerkte – auf die richtige Frage an, um eine brauchbare Antwort zu bekommen.

Unterschiedliche Theorien erklären unterschiedliche Aspekte der internationalen Politik. Die Vielfalt der Theorien ist aber nicht allein der Komplexität der internationalen Beziehungen geschuldet. Die Theorienvielfalt verdankt sich auch den konkreten historischen Umständen. Theorien entwickeln sich in Reaktion auf zeitgeschichtliche Prozesse, Ereignisse und intellektuelle Strömungen. Ereignisse wie die Kubakrise 1962 brachten beispielsweise die ersten Kooperationstheorien hervor, die auch eine Antwort auf die Frage darstellten, wie die Probleme der nuklearen Abschreckungsdoktrin behoben werden konnten.

Theorien entstehen darum selten am Reißbrett, sondern sind in konkrete zeitgeschichtliche Kontexte eingebettet. Diese bringen Forschungsparadigmen hervor, die nicht so sehr theorie- als vielmehr themengesteuert sind. Mit anderen Worten: Konkrete historische Entwicklungen gehen auch mit spezifischen Erkenntnisinteressen einher. So wie die IB-Galaxis in der Zeit der Weltkriege vor allem durch die Frage nach Krieg und Frieden bestimmt war, so stehen heute Fragen nach dem Charakter und den Effekten der Ordnung des globalen Regierens im Zentrum der Auseinandersetzungen. Diese Paradigmen überlagern einander und treiben die Theoriebildung voran. Sie werden in bestimmten Phasen dominant, ohne alternative Paradigmen jemals vollständig verdrängen zu können. Darum ist unser Anhalter keine sterile Abhandlung über die einzelnen Theorien und Theorieschulen, sondern eine Reisebegleitung, die hilft, den Theorien in ihrer konkreten zeitgeschichtlichen Entwicklung über die Herausbildung der Forschungsparadigmen nachzuspüren.

Anders als Thomas S. Kuhn, für den der Begriff des Paradigmas einen allgemein anerkannten Konsens über theoretische Grundannahmen und die Architektur von Erklärungsmodellen, d.h. eine «Lehrmeinung», wiedergibt,[2] verstehen wir hierunter ein vorherrschendes Verständnis über die wichtigsten Gegenstände und Fragen in den Internationalen Beziehungen: Ein Wissenschaftsparadigma wäre demnach ein zusammenhängendes, von vielen Wissenschaftlern geteiltes Bündel von Fragestellungen und Methoden, das einigermaßen nachhaltig ist (vgl. Kapitel 7).

Die unterschiedlichen Theorien, die sich wiederum in Theorieparadigmen (Urzivilisationen) und Einzeltheorien (Subzivilisationen) auffächern, bevölkern recht unterschiedliche Planeten und diese stehen in komplexen Beziehungen zueinander. Da lässt sich mancher Krieg beobachten – erinnert sei beispielsweise an den berühmten Neo-Neo-Krieg zwischen den Realisten und den Institutionalisten in den 1980er Jahren. Aber auch fragile Friedensschlüsse lassen sich nachzeichnen. Davon zeugen die Versuche zwischen moderaten Konstruktivisten und moderaten Rationalisten, eine via media bzw. den viel beschworenen middle ground zu finden, was zugleich zu neuen Scharmützeln an den Rändern der IB-Galaxis führte, weil radikale Konstruktivisten dies für den Ausverkauf konstruktivistischer Grundgedanken hielten (vgl. dazu Kapitel 5). Die Geschichte und Topographie jedes einzelnen Planeten darzustellen, bietet Raum für eigene Bücher, die es auch zur Genüge gibt. Wenn Sie diese nicht jeweils einzeln studieren wollen, sondern sich bisweilen auch gern mit anderen Dingen neben den IB beschäftigen – soll es ja geben –, dann möchten wir Ihnen hier einen Reiseführer andienen, der Sie durch die Galaxis der IB führen kann. Aber seien Sie gewarnt: Sollten Sie noch nie einen Schritt in diese Galaxis gewagt haben, könnten Sie eine leichte Reisekrankheit verspüren, die nur der Genuss einer grundständigen Einführung in die IB-Theorien nachhaltig heilen kann.[3]

Im ersten Teil unseres Anhalters werden wir damit beginnen, Sie – quasi mit Hyper-Unwahrscheinlichkeitsdrive – zu den Anfängen der IB-Galaxie zu führen und die Entwicklung der großen, das Fach lange prägenden IB-Theorieschulen und die Auseinandersetzungen zwischen ihnen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zu verfolgen (Kapitel 1). Da der Hyper-Unwahrscheinlichkeitsdrive, wie die Kenner unter Ihnen wissen, immer das Risiko beinhaltet, auf dem Planeten Magrathea als Petunientopf zu enden, und man dabei auch recht wenig von der Galaxis zu sehen bekommt, schalten wir danach jedoch auf normalen Antrieb herunter und zeichnen in den folgenden Kapiteln nach, wie sich das erste dominante Paradigma der IB-Galaxis mit der erkenntnisleitenden Frage, wie Krieg zu verhindern sei, herausgebildet hat (Kapitel 2 und 3) und wie dieses schließlich von einem Kooperationsparadigma, das die Frage nach den Bedingungen und der Ausgestaltung von Kooperation ins Zentrum stellt, überlagert wird (Kapitel 4 und 5). Während diese Entwicklungen sich noch einigermaßen mit dem klassischen Verständnis der internationalen Beziehungen als anarchischem System vertragen, zeichnen sich seit den 1990er Jahren durch enorme quantitative und qualitative Veränderungen der institutionellen IB – Landschaft Entwicklungen ab, die den anarchischen Charakter der internationalen Beziehungen unterlaufen. Diese Entwicklungen lassen sich, wie wir zu Beginn des zweiten Teils unseres Anhalters ausführen, als Herausbildung eines Ordnungsparadigmas begreifen (Kapitel 6). Das Ordnungsparadigma mit seinem Fokus auf institutionellen Regelungsstrukturen und ihren Effekten führt neue Themen und Theorien in die Galaxis ein, wie beispielsweise Fragen nach der Legitimität und Herrschaftsnatur der überstaatlichen Ordnung (Kapitel 7) und Widerstand gegen die und Kritik an den Ungleichheiten, die von der Ordnung reproduziert werden (Kapitel 8). Damit kommen wir dann zum vorläufigen Ende unserer Reise per Anhalter und fast zurück an den Ausgangspunkt, denn die Thematisierung von Fragen der Ungleichheit bringt uns zurück an die Anfänge der IB-Galaxis, in der die frühen Imperialismustheorien noch erheblichen Einfluss hatten: Zweiundvierzig, Sie wissen schon.

Jetzt wird es aber Zeit, unsere Reise zu beginnen, also schnallen Sie sich an: Es geht in den Hyperraum!

Teil I: Internationale Beziehungen als Anarchie

Kapitel 1:

Geschichte des internationalen Systems und Theorien der Internationalen Beziehungen

Die Geschichte jeder bedeutenden galaktischen Zivilisation macht drei klar und deutlich voneinander getrennte Phasen durch – das bare Überleben, die Wissensgier und die letzte Verfeinerung, allgemein auch als die Wie-, Warum- und Wo-Phasen bekannt.

Douglas Adams, «Per Anhalter durch die Galaxis»

Einleitungen in Lehrbücher über die Internationalen Beziehungen (IB)[1] beginnen zumeist mit einer Beschreibung der internationalen Politik als einem anarchischen System von souveränen Nationalstaaten. Zwar haben sich diese Merkmale seit den 1990er Jahren deutlich abgeschwächt. Souveränität als Kernmerkmal der Nationalstaaten wird zunehmend gebunden an die Einhaltung bestimmter Standards guten Regierens, insbesondere die Einhaltung grundlegender Menschenrechte; Anarchie als Ordnungsprinzip des internationalen Systems wird durch die Tätigkeit internationaler Organisationen und Institutionen deutlich abgeschwächt, wenn nicht in einigen Bereichen überwunden; und der Nationalstaat scheint seine Gestalt ebenfalls zu ändern. Im globalen Süden wird von zerfallender oder begrenzter Staatlichkeit gesprochen,[2] in der die zentralen Funktionen, die sich mit dem modernen Staat verbinden, gar nicht oder nicht mehr von diesem wahrgenommen werden. Während im globalen Norden zerfasernde Staatlichkeit diagnostiziert wird,[3] in der sich die einzelnen Funktionen auf unterschiedliche Regulierungsebenen verlagern, während der Staat nur mehr als Herrschaftsmanager deren Bereitstellung überwacht.[4]

Dennoch bleibt die Idee des anarchischen Systems souveräner Staaten genereller Ausgangspunkt der Theorien und Theorieschulen der Internationalen Beziehungen, gegenüber derer Veränderungen bemessen und bewertet werden. Daher werden wir uns im ersten Teil unseres Anhalters durch die IB-Galaxis mit der Herausbildung der IB-Galaxis als intellektuelle Auseinandersetzung um die internationalen Beziehungen als anarchisches System beschäftigen, bevor wir im zweiten Teil die empirischen und theoretischen Veränderungen ausleuchten, die dieses System zunehmend in Frage stellen.

In diesem Kapitel beginnen wir unsere Reise mit dem Urknall der IB-Galaxis und rekonstruieren, wie die bedeutendsten Urzivilisationen: die Liberalen, die zunächst Idealisten, später auch gelegentlich Neoinstitutionalisten genannt wurden, die Realisten, die eigentlich immer so genannt wurden, und die Marxisten, die viele Namen trugen und tragen und zu denen keiner der Namen je so richtig passen wollte, sich entwickelt haben, und wie sie die Frage der ersten Phase jeder bedeutenderen galaktischen Zivilisation beantwortet haben: Wie überleben wir? Dies beginnt mit der Herausbildung des ersten dominanten Forschungsparadigmas der IB-Galaxis, der Frage, wie systemweite Kriege zu verhüten seien, und geht über in die Untersuchung von Kooperationserfordernissen als zweitem großen Paradigma, um der Anarchie einen ersten sanften Riegel vorzuschieben, aber beginnen wir mit dem Urknall.

1.1. Die Entstehung und Konsolidierung des internationalen Staatensystems

Die Form eines anarchischen Systems souveräner Nationalstaaten ist keine überzeitliche Konstante, sondern hat sich erst mit Beginn der Frühen Neuzeit in Konkurrenz zu anderen Organisationsformen, wie Imperialismus und Feudalismus, allmählich durchgesetzt und so die internationalen Beziehungen als Gegenstand und – deutlich später – die Internationalen Beziehungen als akademische Disziplin hervorgebracht. Ähnlich präzise und gut belegt wie die Einträge im «Anhalter durch die Galaxis», wird der Urknall der IB-Galaxis gemeinhin mit den Westfälischen Friedensverträgen von Münster und Osnabrück von 1648 in Verbindung gebracht, die die Religionskriege in Europa dauerhaft beendeten und erstmalig jene Prinzipien festschrieben, die als wesentliche Merkmale des internationalen Systems gelten sollten: Sie erkannten die jungen Staatsgebilde Europas an, indem sie ihnen interne und externe Souveränität, d.h. das Recht zusprachen, im Innern ohne Einmischung von dritter Seite zu walten und nach außen unabhängig und mit gleichen Rechten frei zu agieren. Es sollte eine wegweisende Entscheidung sein, dass sich mit dieser Anerkennung konkret die Erlaubnis verband, nach freiem Gutdünken Kriege zu erklären und Allianzen mit anderen Staaten einzugehen.

Mit den Verträgen von Osnabrück und Münster wurden mithin formal territoriale Staaten etabliert, deren Beziehung zueinander unabhängig von ihrer Größe oder Macht auf souveräner Gleichheit beruhen sollte, ohne dass über ihnen eine weitere Macht oder Autorität stand. Letzteres brachte das zentrale Ordnungsprinzip des internationalen Systems hervor: Anarchie, verstanden als Abwesenheit einer Autorität oberhalb der Staaten, die auftretende Konflikte zwischen ihnen verbindlich lösen könnte. Damit waren die wesentlichen Merkmale des internationalen Systems gegeben: Staaten, Souveränität und Anarchie. Gleichwohl ist der Westfälische Frieden eher eine entscheidende Wegmarke in der Entwicklung des modernen Staatensystems gewesen als seine Ursache, wenn diese Verknüpfung nicht sogar, wie manche meinen, einem modernen Mythos entspricht.[5] Die Herausbildung des modernen Staatensystems lässt sich eher im späten Mittelalter verorten, insbesondere in der Renaissance, die in Norditalien zu der Herausbildung von Stadtstaaten (statos) führte. Deren säkulare Herrscher schwächten den bis dato unangefochtenen Herrschaftsanspruch des Papstes und betrieben eine am Machtausbau des eigenen Staates orientierte Politik, der Niccolò Machiavelli in seiner berühmten Schrift über den «Fürsten» eine theoretische Unterfütterung gab. Die im 16. Jahrhundert einsetzende Reformation schwächte die päpstliche Vorherrschaft weiter und beförderte die Bildung von unabhängigen Kleinstaaten in Europa, die schließlich in die verheerenden Religionskriege führen sollte, die der Frieden von Westfalen formal beendete.

Mit dem Friedensschluss selbst entstand aber noch kein modernes Staatensystem, geschweige denn eine Theorie der internationalen Beziehungen. Obgleich es große zeitgenössische Denker gab, wie Niccolò Machiavelli oder Thomas Hobbes, und außerdem historische Vorläufer, wie den antiken griechischen Historiker Thukydides, die insbesondere der spätere Realismus zu seinen Gründungsvätern zählen sollte, verstanden sich diese nicht als Theoretiker internationaler Beziehungen.[6] Das Staatensystem, das sich herauszubilden begann, war für die Zeitgenossen noch kaum zu erkennen: Staaten bildeten sich, zerfielen, spalteten sich auf oder vereinigten sich. Die Durchdringung des staatlichen Territoriums durch Regierungen war bestenfalls in Ansätzen zu beobachten und auch die Bevölkerungen in diesen Staaten zeigten kaum Ansätze von Bindung oder Loyalität zum Staat, die in die Nähe dessen kamen, was man später als nationale Identität bezeichnen sollte. Die Beziehungen zwischen den Staaten waren zudem eher sporadischer Natur und die Normen der formalen Gleichheit spielten in der Praxis kaum eine Rolle.

Große Bedeutung erlangte dagegen das Recht, Kriege zu führen. Die Konsolidierung der Staaten und des Staatensystems mit dauerhaften und wechselseitigen Beziehungen zwischen ihnen erfolgte erst in den folgenden Jahrhunderten, in denen die jungen Staaten praktisch jede sich bietende Gelegenheit nutzten, um sich jeweils gegenüber den anderen Staaten einen Machtvorteil zu verschaffen. Ausgehend von der verbreiteten Ansicht, nur der physische Besitz materieller Ressourcen (wie Land oder Rohstoffe) helfe die eigene Macht zu vergrößern und dadurch gegenüber den anderen Staaten zu bestehen, war Krieg ein probates und auch anerkanntes Mittel der Machtpolitik, so dass im 17. und 18. Jahrhundert jeder größere Staat mindestens einmal gegen einen der anderen größeren Staaten in Europa einen Krieg geführt hatte.[7] Praktisch wurde im 17. wie im 18. Jahrhundert nahezu alle drei Jahre ein neuer Krieg begonnen und die politische Landkarte Europas veränderte sich kontinuierlich.[8]

Schon in dieser Phase sogenannter Kabinettskriege zeigte sich ein Merkmal im Verhalten der Staaten zueinander, das die spätere Theorieschule des Realismus zum Kern ihrer Theorie machen sollte: die Idee eines Machtgleichgewichts. So ließ sich schon in dieser Phase beobachten, dass die Staaten nicht bereit waren, die Hegemonie eines Staates unter ihnen zu dulden, sondern Allianzen bildeten, um Hegemonieansprüchen, wie beispielsweise den Expansionsbestrebungen Napoleons nach der Französischen Revolution entgegenzutreten. Die nach einer langen Kriegsperiode geschlossenen Friedensverträge und insbesondere der Wiener Kongress von 1815 etablierten schließlich, nicht zuletzt durch eine massive territoriale Umverteilung, ein Gleichgewicht von fünf Großmächten in Europa: Großbritannien, Frankreich, Preußen, Österreich und Russland, das Hegemoniebestrebungen ausschließen sollte und half, eine regelmäßige Konferenzdiplomatie zu etablieren. Diese Politik von Diplomatie und Mächtegleichgewicht, bekannt geworden als Europäisches Konzert der Großmächte, brachte eine lange Phase ohne große Kriege – zumindest in Europa – hervor, die erst mit dem Krimkrieg 1853 ihr Ende fand.[9]

1.2. Industrialisierung, Imperialismus und die großen Kriege

Allerdings erledigten sich damit die Expansionsbestrebungen der europäischen Großmächte nicht. Sie verlagerten sich nunmehr in den außereuropäischen Raum, d.h. in die Eroberung überseeischer Kolonien, um deren Territorien und Rohstoffe die Großmächte konkurrierten und so neue Krisen und Kriege heraufbeschworen. Das Zeitalter des Imperialismus zog herauf (vgl. Kapitel 3). In gewisser Weise lag hierin bereits der Nukleus für die Ausdehnung des internationalen Systems, das bis dato ein rein europäisches war, denn – wenn auch nicht intendiert – exportierte Europa sein politisches Modell in die Kolonien, indem es diese zwang, sich in ihrem Kampf um Unabhängigkeit auf die «Spielregeln» Europas einzulassen.

Kabinettskriege und der später einsetzende Kolonialismus hatten aber noch einen anderen Effekt, der sich im 18. und 19. Jahrhundert zunehmend bemerkbar machte. Sie stärkten und beschleunigten die Konsolidierung der Staaten. Um ihre Kriege führen zu können, wurde es für diese immer bedeutsamer, hinreichend Ressourcen zur Verfügung zu haben. Sie benötigten materielle Rohstoffe und Geld, um ihre Kriege zu finanzieren, und Soldaten, um sie bestreiten zu können. Um diese aber aus dem Staat selbst schöpfen zu können, etwa über Steuern oder Wehrpflicht, war es notwendig, die Loyalität der Bevölkerung zum Staat zu fördern und die heimische Wirtschaft konsequent zu unterstützen. Dafür war es erforderlich, die territoriale Kontrolle auszuweiten, eine effiziente Staatsbürokratie aufzubauen und verlässliche Regulierungssysteme zu entwickeln.[10] Daneben führte die Kolonialisierung zu erheblichen Gewinnen, die in die einsetzende Industrialisierung investiert werden konnten. Die Industrialisierung schließlich erhöhte nicht nur die soziale und geographische Mobilität der Bevölkerungen. Mit der Verlagerung vom primären auf den sekundären Wirtschaftssektor, d.h. von der Landwirtschaft zur verarbeitenden Industrie, wurde auch der zwischenstaatliche Handel wichtiger, da diese Form der kapitalistischen Wirtschaftsweise eine arbeitsteilige Produktion erforderte.[11] So entwickelten sich Schritt für Schritt regelmäßige Beziehungen, vor allem aber wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse bzw. Interdependenzen zwischen den Staaten, so dass tatsächlich von einem Staatensystem gesprochen werden konnte.[12]

Im Ergebnis halfen Kabinettskriege und Kolonialisierung damit letztlich jene Merkmale internationaler Politik zu etablieren, die lange Zeit als konstitutiv für den empirischen Gegenstand und mithin die Galaxis der IB-Theorien betrachtet wurden: Staaten sind die zentralen Akteure internationaler Politik. Sie besitzen die alleinige Souveränität über das von ihnen kontrollierte Territorium und sind insofern formal gleich. Die Beziehungen der Staaten untereinander bestehen in einem anarchischen System und sind durch Interdependenz geprägt.[13] Im Zuge dieser Entwicklung begann sich auch das erste Forschungsparadigma der IB-Galaxis herauszuschälen, das die Kernfrage einer anarchischen Ordnung als Grundproblematik internationaler Politik formulierte:

Wie lässt sich das Überleben eines Staates in einer Umwelt sichern, die keine übergeordnete Autorität kennt und in der daher alle anderen Staaten potenziell eine Gefahr darstellen? Mit anderen Worten: Wie lassen sich systemweite Kriege verhindern?

Die Überlebensfrage war keine abstrakte, die vergangenen Jahrhunderte hatten die Geburt und den Tod etlicher Staaten gesehen. Darüber hinaus hatte im Zuge der Konsolidierung der modernen Nationalstaaten auch ein systematischer Ausbau ihrer Verteidigungsfähigkeiten, etwa durch die Einführung der Wehrpflicht und stehender Heere, stattgefunden. Die Industrialisierung ermöglichte enorme Innovationsschübe in der Rüstungstechnologie, die die Zerstörungspotenziale von Konflikten in eine ungeahnte Dimension hoben. Dies wurde spätestens in den beiden Weltkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich, die die Folgen von Massenmobilisierung und totaler Kriegführung in aller Brutalität veranschaulichten. Allein im Ersten Weltkrieg starben mehr als 15 Millionen Menschen. Der Zweite Weltkrieg forderte dann geschätzte 50 Millionen Menschenleben, darunter die sechs Millionen Opfer des Massenmords an den europäischen Juden. Diese Erfahrungen fanden auch direkten Niederschlag in die Entwicklung der IB-Theorien.