Stine Marg, Lars Geiges, Felix Butzlaff, Franz Walter (Hg.)

Die neue Macht der Bürger

Was motiviert die Protestbewegungen?
BP-Gesellschaftsstudie

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Bürger in Bewegung

Zur Einführung

Wie erforscht man Protest?

Forschungsdesign und Methodik

Einzelinterviews

Gruppendiskussionen

Teilnehmende Beobachtung

Dokumentation und Auswertung

Verweise und Literatur

«Wir lassen nicht mehr alles mit uns machen!»

«Für ein anderes Leben» – Hamburg und das «Recht auf Stadt»

Stuttgart 21 – «Es ist so viel Verbitterung in der Stadt»

Das Kirchliche im Protest – Freising und der Münchner Flughafenausbau

Vor Ort die Welt verbessern – drei Vorstellungen von Demokratie und Gesellschaft

Verweise und Literatur

«Wenn man was für die Natur machen will, stellt man da keine Masten hin»

Die Engagierten im Sichtfeld: Wer ist aktiv?

Natur und Familie – Triebfedern des Engagements

Vermitteln, vereinen, verkaufen – die Organisation der Wirkmächtigkeit

«Wolfsgesellschaft» und «Raubtierkapitalismus» – mehr als bloße Projektkritik

Planen, rechnen, kalkulieren: Der objektive Experte als idealer Entscheider

Verweise und Literatur

«Und jetzt versuchen sie durchzusetzen, was sie sich schon achtundsechzig vorgenommen haben»

Ein Lager, aber zwei Lebenswelten

Älter als vierzig, viele Pädagogen und überdurchschnittlich weiblich

Auch weiterhin aktiv – wie sich Protest «fortpflanzt»

Verweise und Literatur

«Ohne Organisation geht’s nicht»

Ausreichend Zeit, viel Erfahrung, Ü45: die Befragten

Man kennt sich, man trifft sich – Organisation und Netzwerke

«Schmerzfrei» – der Umgang mit Politik und Parteien

Kraft des Widerstands und Rückzug ins Lokale

Castor-Transport als Pulsschlag der Bewegung

Verweise und Literatur

«Wir hatten es irgendwann nicht mehr im Griff»

«Ich war nicht erschöpft. Ich war wie aufgeputscht» – Die Errichtung der Camps

«Asam-bla-blas» und «Trunkenbolde im Ordnerzelt» – Alltag in den Camps

«Eine typische Attitüde von Linksradikalen, den anderen zu erklären, wie es wirklich geht» – Occupy und das linke Lager

Gut ausgebildet, der Heimat verbunden und «kritisch» – Wer sind die Camper?

«Die Welt fängt an zu brennen – jetzt musst du was tun»

Werte statt Bündnislogik

Verweise und Literatur

«Jeder hat Angst, seinen Besitzstatus zu verlieren»

Vitale Fragmente – das Protestspektrum

Dienstleistende Männer mit Abitur – die Protestierenden

Währungsalbträume in der EU-DSSR – Systemkritik

Parteien, Staat, Berufspolitiker – die Gegenspieler

Die Lust am Tabubruch – ein Identifikationsmerkmal

Breites Spektrum, wenig Schlagkraft

Verweise und Literatur

«Es gibt ja bloß das Hier und Jetzt»

Ungebunden, spaßorientiert und freiheitsliebend

«Demokratur» und «Rattenfängerei»

Kreative Freigeister mit flexibler Positionierung

Verweise und Literatur

«Vernetzt euch – das ist die einzige Waffe, die man hat»

Crowdsourcing und andere Formen von Internetprotesten

Die beiden Protestgruppen des Cyberspace

Bubble-Aktivismus – das Selbstbild der Protestierenden

Lobbykritische Demokratie-Idealisten – zur gemeinsamen Identität

Spontan und punktuell – Organisation und Mobilisation

Vom Stammtisch über Facebook auf die Straße – elektrisierter Protest

Verweise und Literatur

Bürgerlichkeit und Protest in der Misstrauensgesellschaft

Konklusion und Ausblick

Magister, Doktoren und Ingenieure

Partizipation – Katalysator der Ungleichheit

Männer, Mythen und Milieus

Für die Demokratie, aber gegen Lobbyisten, Medien und Parteipolitiker

Frühwarnsystem oder Albtraum?

Demokratisierung der repräsentativen Demokratie?

Verweise und Literatur

Dank

Vorwort

Die neue Macht der Bürger – Was motiviert die Protestbewegungen? lautet der Titel des vor Ihnen liegenden Buches. Was motiviert ein Unternehmen wie BP – ein Unternehmen, welches selbst Ziel von Protesten war und ist –, Grundlagenforschung zu Protestbewegungen zu fördern?

Die BP kennt ihre Rolle in der Gesellschaft: Unsere Hauptaufgabe besteht darin, sicher und kostengünstig Energie für Mobilität und Wärme zu liefern. Ohne diese Energie ist unsere moderne Gesellschaft und hochentwickelte Wirtschaft nicht lebens- und arbeitsfähig. Dafür arbeiten wir bei BP engagiert jeden Tag.

Als Unternehmen sind wir vor allem durch unsere Mitarbeiter tief in der Mitte der Gesellschaft verankert. Wir hören und spüren, was um uns herum vorgeht. Trotzdem wissen wir noch zu wenig über die neuen Formen der Bürgerproteste. Dieses Phänomen muss unsere Gesellschaft – also Politik, Unternehmen, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft – verstehen. Wir spüren, dass sich hier etwas aus der Gesellschaft heraus artikuliert. Was treibt unsere Mitbürger, die sich selbst bisher oft als ruhige Bürger empfunden haben, in den Protest gegen eine Baumaßnahme, gegen eine Schulpolitik, gegen fossile wie erneuerbare Energien?

Diesen Fragen kann ein Unternehmen selbst nicht nachgehen. Das ist Aufgabe der Wissenschaft. Was wir leisten können, ist, die Forschung zu Bürgerprotesten zu fördern. Wir ermöglichen damit der Wissenschaft – in dieser Studie dem Göttinger Institut für Demokratieforschung –, diese Proteste zu untersuchen.

Das ist mit der nun vorliegenden Studie vortrefflich gelungen. Wir schulden dem Institut von Herrn Professor Franz Walter und seinem Team großen Dank dafür, dass sie sich engagiert mit dem Thema Bürgerprotest auseinandergesetzt haben. Dazu mussten Brücken gebaut werden, weil nach unserem Eindruck Unternehmen und politikwissenschaftliche Institute bisher noch über keine große Tradition der Zusammenarbeit verfügen. Umso mehr freuen wir uns, dass es mit dieser Studie geglückt ist, hier mit gutem Beispiel voranzugehen.

Wir hoffen, dass die Ergebisse Anlass zu vielen Diskussionen in Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft geben wird.

 

Michael Schmidt

Vorsitzender des Vorstands der BP Europa SE

Bürger in Bewegung

Zur Einführung

Franz Walter

 

Unlängst beherrschten noch Bilder von der revoltierenden Jugend mehrerer europäischer Metropolen die Titelseiten und Homepages der Medienwelt. Brennende Autos, plündernde Demonstranten, Straßenschlachten mit Polizisten, das waren visuelle Leckerbissen für die journalistischen Profis an den Newsdesks. Dahinter traten dann die hierzulande zuvor vielbeachteten «Wutbürger» ein wenig zurück. Denn der bundesdeutsche Wutbürger galt gegenüber dem jungen englischen «Sozialrebellen» oder den französischen jeunes de banlieus eher als schon etwas gesetzter, nicht so aufregender Typus.

Doch die Protest- und Partizipationsbürger zwischen München und Hamburg sind nicht verschwunden, auch wenn es zuletzt etwas leiser um sie wurde. Sie gehen weiterhin auf die Straßen der Republik, demonstrieren gegen Stromtrassen, Flugzeuglandebahnen und Windräder. Sie organisieren Kampagnen gegen Bildungsreformen und mobilisieren gegen die Macht der Atomindustrie. Die Bürger sind in Bewegung – nur wie und wohin sie sich bewegen, darüber weiß man noch sehr wenig.

Dabei dürfte ihre Zeit gerade erst begonnen haben. Im alternden Deutschland der nächsten Jahrzehnte werden die Bürgerprotestler (vermutlich) noch stärkere Rollen als Organisatoren der Unzufriedenheit spielen. Ein bisschen salopp orakelt: Spätestens zwischen 2015 und 2035 werden sich Hunderttausende hochmotivierter und rüstiger Rentner mit dem gesamten Rüstzeug der in den Jugendjahren reichlich gesammelten Demonstrationserfahrungen in den öffentlich vorgetragenen Widerspruch begeben. Das Altern der Republik wird also keineswegs zu Gleichgültigkeit in den öffentlichen Angelegenheiten führen – im Gegenteil. Doch wohin genau sich das alles politisch sortiert, ob sich die einzelnen Elemente des Dissens etwa gegen spezifische Großprojekte vereinheitlichen oder aber durch verschiedenartige Interessen auseinanderstreben, ist 2013 noch keineswegs deutlich, nicht seriös zu prognostizieren. Festhalten jedenfalls lässt sich ein Doppelbefund: Auf der einen Seite schwinden gesellschaftliche Integrationskräfte von Parteien, Verbänden und Kirchen, auf der anderen Seite entwickelt sich anscheinend eine rege Zivilgesellschaft mit postkonventionellen Partizipationsformen, um Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen. Irgendwo dazwischen finden wir auch viel ziellosen Verdruss einer typischen Misstrauensgesellschaft. Dies alles wird – sollte es sich verstetigen – unser Zusammenleben nachhaltig beeinflussen.

Dabei erscheint das Spektrum der Proteste nach wie vor unübersichtlich. Die Formen des Einspruchs reichen von kleinen Kampagnen über Mahnwachen bis hin zu Großdemonstrationen. Und diejenigen, die hier aktiv werden und Resistenz organisieren, passen anscheinend nicht mehr in die überkommenen Vorstellungen. Doch was sind eigentlich die entscheidenden Charakteristika dieser Proteste, die sich gegenwärtig an den unterschiedlichsten Themen an verschiedensten Orten in der Republik mit ganz variierender Intensität entzünden? Welche Motive treiben diejenigen an, die demonstrieren, campieren, sich an Gleise ketten, mit Sternmärschen und Lichterketten, Platzbesetzungen oder satirischen Happenings auf sich aufmerksam zu machen versuchen?

In ihrer Bürgerlichkeit jedenfalls setzen die Protestler der Jahre 2010 ff. eine dominante Tradition aus dem vergangenen halben Jahrhundert fort. Die markanten Protestwellen mindestens seit den sechziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland waren ganz überwiegend von bürgerlichen Teilnehmern durchwirkt. Die Achtundsechziger-Rebellen, später die erzürnten Bürger und Bauern auf dem Bauplatz in Wyhl, entstammten nicht dem Proletariat. Auf den Friedensmärschen und in den Alternativbewegungen der späten siebziger, frühen achtziger Jahre, aus denen die Grünen anfangs Antrieb und Personal zogen, sah man viel Nachwuchs des deutschen Bildungsbürgertums.

Bald fünfzig Jahre ist das her. Und natürlich haben sich gesellschaftliche Problemlagen gravierend verändert, die Bedingungen, die Protest umrahmen und mitbegründen, haben sich ungleich gewandelt. Die drängenden übergeordneten, auch unbeantworteten Fragen sind jedoch gestern wie heute dieselben: Was bewegt die Bewegungen? Was motiviert die Protestler? Was treibt sie an? Darum ging es den Autoren dieses Buchs. Sie fragten nach Wertvorstellungen, Sozialmoral und Tradition, die Deutschlands Aktivisten verbinden und letztlich in Bewegung versetzen. Welche Ressourcen, Wissensbestände und Routinen bringen sie in die Arbeit rund um die Bürgerinitiative, den Verein oder das Netzwerk mit ein? Welche zurückliegenden Erfahrungen mit zivilgesellschaftlichem Engagement, herkömmlichen politischen Institutionen oder gesellschaftlichen Strukturen haben diese Menschen gemacht? Wie wirken sich diese Erfahrungen auf ihre gegenwärtige Einstellung und ihr Handlungsrepertoire innerhalb des Protests aus? Gibt es Lernprozesse, die sich tradieren lassen? Verbindende Emotionen, die angesprochen werden? Narrative des Protests? Welche Vorstellung von Demokratie, Parteien, Politik und Gesellschaft leiten die Aktivisten? Was verbinden sie mit bestimmten, für unsere Gesellschaft zentralen Werten wie Verantwortung, Gerechtigkeit, Gleichheit oder auch Freiheit? Und was erwarten sie generell vom Staat und der Politik? Schließlich ermittelten wir auch, wie sie sich organisieren, wie sie Entscheidungen in informellen Gruppen treffen, welche Hierarchien, Strukturen und Organisationsrealitäten sich ausbilden.

Zu all diesen Fragen suchten wir in einer großangelegten Studie nach Antworten. Wir näherten uns den unterschiedlichen Protestformen über teilnehmende Beobachtungen auf Demonstrationen und Versammlungen, über Einzelinterviews und ausgedehnte Gruppengespräche. Um hier auch regional in die Breite zu gehen, Typen, Eigenarten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken, sind die Autorinnen und Autoren von Nord bis Süd, von Ost bis West der Republik unterwegs gewesen. Wir waren in urbanen Metropolen wie im ländlichen Raum. Wir haben ökonomisch boomende Regionen besucht und Gegenden, in denen der demographische wie betriebliche Wandel deutliche Spuren hinterlassen hat. Da die Studien ein möglichst breites Themenfeld abdecken sollen, bereisten wir die wahrlich weite bundesrepublikanische Protestlandschaft. Wir machten uns kundig in den Camps von Occupy, bei den Opponenten gegen Infrastrukturprojekte, bei den Organisatoren der Einsprüche gegen diverse Vorhaben im Kontext der Energiewende, den Kontrahenten von Schulreformen, den Aktivisten von Internetkampagnen und der Fronde gegen den Euro sowie den Protagonisten satirischer Protestgruppen. Wir hoffen, den Protest dieser Jahre dadurch verständlicher gemacht zu haben, ohne dabei in die Rolle der positiven Identifikation oder schroffen Distanzierung geschlüpft zu sein.

Die Studien sind am «Institut für Demokratieforschung» der Universität Göttingen entstanden. Über mehrere Jahre hatten wir dort bereits Untersuchungen zu historischen Sozialoppositionen durchgeführt. Nun gingen die Forschungen in die Beobachtung gegenwärtiger Bürgerproteste über. Förderer des konkreten Projekts war die BP Europa SE. Eine solche Kooperation war alles andere als selbstverständlich. Auf unserer Seite, der Sozialwissenschaft, existierten einige Unsicherheiten über Motive und Interessen des Förderers. Aber er hielt, was er von Beginn an versprach, und nahm keinen Einfluss auf Forschungsfragen, Methoden und die hier als Buch vorliegende Präsentation der Ergebnisse. Unter diesen Bedingungen halten wir weitere «Gesellschaftsstudien» für wünschenswert und lohnend.

Die nachfolgende Darstellung beginnt mit einer akkuraten Präsentation der Forschungsinstrumente und -ansätze. Die wissenschaftliche Forschung und Debatte verlangt das, gewiss mit einigem Recht. Doch nicht jeder Leser dürfte ein drängendes Interesse an dergleichen fachwissenschaftlichen Reflexionen und Diskursen verspüren. Wem die Details von Methodik und Begründung nicht allzu wichtig sind, muss sich der Lektüre dieses Abschnitts nicht aussetzen. Man kann sich auch gleich «ohne alle Mühsal akademischer Vorbauten und Umwege» (Dolf Sternberger) unmittelbar auf das Feld der sicher etwas anschaulicheren Protestermittlungen begeben.

Wie erforscht man Protest?

Forschungsdesign und Methodik

Stephan Klecha/​Stine Marg/​Felix Butzlaff

 

Wer protestiert, fällt auf. Denn Widerstand wird nicht im Stillen artikuliert, sondern meist laut und öffentlich – vor den Rathäusern, auf den Straßen und Marktplätzen. Schon deshalb sind die Protestbürger der vergangenen Jahre kaum zu übersehen gewesen. Man hört und liest von ihnen und von ihren Anliegen beinahe tagtäglich, wobei das Wissen über ebendiese Bürger auf den Barrikaden und ihren Protestformationen erstaunlich gering ist. Daher: Wie erforscht man Protest?

Zunächst einmal können politische Teilnahme im Allgemeinen und Protest im Besonderen als Symptome einer Legitimations- und Partizipationskrise des politischen Systems begriffen werden oder – positiv gewendet – als Ausdruck der politischen Emanzipation und somit als Potenzial für eine demokratische Revitalisierung verstanden werden. Darüber hinaus gilt: Politische Partizipation ist anstrengend. Und deswegen erzielen vergleichsweise einfach zu realisierende Maßnahmen wie die Teilnahme an Wahlen, die Diskussion im Freundes- oder Bekanntenkreis oder die Eingabe einer Petition unverändert hohe bis höchste Beteiligungswerte. Demgegenüber ist politisches Engagement abseits von Wahlen mit größerem Aufwand und zahlreichen Hürden verbunden und wird demzufolge von deutlich weniger Menschen regelmäßig wahrgenommen.1 So verlangen alle Formen der politischen Mitwirkung jenseits der einfachen Aktivitäten den Beteiligten ein höheres Maß an Verbindlichkeit ab und setzen mitunter andere Ressourcen und auch Fähigkeiten voraus.2 Bei genauerer Betrachtung der Entwicklung in Deutschland ergibt sich gegenwärtig ein zweischneidiges Bild: Während die Wahlbeteiligung rückläufig ist, nimmt der Grad des Engagements in anderen Bereichen stetig zu und verändert sich zugleich. Spiegelbildlich dazu schwindet die Legitimität der durch Wahlen gestützten repräsentativen Demokratie, ohne dass neue Legitimitätsdepots bislang dafür einen Ersatz schaffen können.

Doch die Krise der Repräsentation muss nicht zwangsläufig zur Krise der Demokratie erklärt werden. Man kann die wachsende Bereitschaft, sich jenseits des Wahlakts politisch einzusetzen, auch als mögliches Element der Neubelebung von Demokratie begreifen. Wenn die repräsentative Demokratie hinterfragt wird und bürgerschaftliches Engagement sich dezidiert mit politischen Anliegen hervortut, so steckt darin ein immenses Potenzial der demokratischen Emanzipation. Aber das hat ebenfalls eine Kehrseite: je anspruchsvoller die politische Partizipation an sich, desto ungleicher die Teilhabe.3 Eben weil die komplexeren Angebote und Forderungen ganz bestimmte individuelle Ressourcen voraussetzen, findet auf dieser Ebene eine soziale Ausgrenzung der Teilhabenden statt, die vielleicht nicht so viel Wissen einbringen können.

Ob diese Feststellungen für die Initiatoren der Anti-ACTA-Demonstrationen (ACTA = Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen), Occupy-Camper oder die Proteste gegen Windkraftanlagen Geltung beanspruchen darf, ist eine Frage der vorliegenden Studie.

Dazu müssen die Bedingungen betrachtet werden, aus denen heraus eine Unzufriedenheit mit dem politischen System, mit seinen Leistungen oder Strukturen entsteht, und wie dieses dann in politische Aktion und zivilgesellschaftlichen Protest umschlägt. Und: welche Vorstellungen von Gesellschaft und Demokratie in den Protestformationen präsent sind, welche Aufgaben die Aktivisten den Parteien und Politikern zuschreiben, welche Erwartung sie an «die Politik» haben und welche Rolle sie «der Wirtschaft» zugestehen – all das ist nicht unbedeutend, wenn man über Wirkung und Folgen des gegenwärtigen Protests und des latent vorhandenen Protestpotenzials in unserer Gesellschaft nachdenkt. Weil seit einiger Zeit das bürgerschaftliche Engagement «außerhalb der konventionelle(n) Organisationsverfassungen und -formen»4 wächst, ist diese Fragestellung gerade im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Protestsektor zu erforschen. Zu klären ist dabei, unter welchen Umständen der Einzelne bereit ist, Energie, Herzblut, Zeit und Geld im politischen Feld für eine ihm dringliche und wichtig erscheinende Frage aufzuwenden.

Proteste an sich sind kein neues Phänomen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Noch vor den studentischen Protestkampagnen der späten sechziger Jahre gab es beispielsweise Demonstrationen gegen die Nutzung der Atombombe («Kampf dem Atomtod») oder die ersten Ostermärsche. Nach der Spiegel-Affäre 1962, bei der die Öffentlichkeit sich für die Pressefreiheit einsetzte, rollte bereits eine regelrechte Protestwelle durch das Land. Und auch der vermeintliche Höhepunkt 1968 stellt sich im Rückblick eher als Ouvertüre einer anhaltenden Protestgesellschaft dar, als die sich die Geschichte der Bundesrepublik ebenfalls deuten ließe: von den Anti-AKW-Demonstrationen über die Bewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss bis hin zu den Massenkundgebungen gegen den Golfkrieg – um nur einige Ereignisse zu nennen. Wenn man die ostdeutsche Friedensbewegung und natürlich die Umbrüche vom Herbst 1989 einbezieht, kann man Protest sogar als eine gesamtdeutsche Erfahrung auffassen. Demzufolge stellt das Thema mittlerweile auch ein eigenes Forschungsfeld innerhalb der Sozialwissenschaften dar. Diese Disziplinen operieren, um Protest, Demonstrationen, Partizipationsbegehren und Ähnliches zu fassen, vorzugsweise mit der Begrifflichkeit der «sozialen Bewegung» und skizzieren diese als ein «Netzwerk von Gruppen und Organisationen, gestützt auf eine kollektive Identität, eine gewisse Kontinuität des Protestgeschehens … das mit dem Anspruch auf Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels verknüpft ist …».5 Es stehen also Kollektivakteure und Protestnetzwerke mit ihrer geteilten Identität, dem Mobilisierungspotenzial und Deutungsstrategien im Forschungsfokus, während die individuelle Ebene, die biographische Prägung der Akteure und ihre Motivation vernachlässigt werden.6 In diese Lücke wollen wir mit unserem Forschungsprojekt stoßen und so zu einer umfassenden Erklärung des Protestes beitragen.

Aus dieser Perspektive ist unsere Untersuchung auch ein Beitrag zum Stand der Protestforschung in der Bundesrepublik. Wir erfassen Protest nicht mit quantitativen Methoden oder mittels der Auswertung von Polizei- und Zeitungsberichten,7 sondern nähern uns dem Feld mit einer breiten qualitativen Studie. Wir führten Gespräche mit zentralen Akteuren und Aktivisten (insgesamt achtzig Einzelinterviews) und arrangierten achtzehn Gruppendiskussionen mit jeweils sechs bis elf Teilnehmern. In diesen zwei bis drei Stunden dauernden Gesprächsrunden konfrontierten wir die Gesprächspartner mit Szenarien, Plan- und Kreativspielen, um ihre latenten Einstellungen und Werthaltungen herauszufiltern. Aus diesen Interviews und Fokusgruppen ergaben sich circa 1300 Seiten transkribiertes Material, das dann analytisch aufgearbeitet und verdichtet wurde. Somit konnten neueste und hochaktuelle Kenntnisse über die Träger des gegenwärtigen zivilgesellschaftlichen Prozesses gewonnen werden. Unsere Stichprobe umfasst insgesamt 200 Personen, deren politische Aktivitäten wir methodisch geleitet in Einzelinterviews, Gruppendiskussionen und mittels teilnehmender Beobachtung verstehend analysiert haben. So können wir – jenseits der pauschalisierenden Diskussionen über den Wutbürger – einen fundierten Einblick in die aktuellen Protestbewegungen bieten.8

Gerade die gegenwärtig so heterogene Protestlandschaft der Bundesrepublik ist allerdings analytisch schwierig zu fassen. Welche Protestzusammenhänge wählt man aus, mit welchen Aktivisten führt man ein Interview, wen lädt man in die Gruppendiskussionen ein, auf welche Veranstaltungen fährt der Sozialwissenschaftler als Beobachter und demzufolge auch: Was bezieht man nicht in die Untersuchung mit ein? Zunächst einmal ist diese Frage ganz pragmatisch zu beantworten: Auch eine Studie dieses Umfangs ist abhängig von Rahmenbedingungen, die das Forscherteam zwingen, abzuwägen, auszuwählen und schließlich zu ignorieren. Vor allem die Betrachtung aktueller Phänomene hängt vom Untersuchungszeitraum ab. Dieser erstreckte sich hier auf die erste Hälfte des Jahres 2012. Ziel des Projekts sollte das Verstehen und Erklären der gegenwärtigen und auch neuen Formen sein, die die gesellschaftspolitische Diskussion seit den Protesten um den Stuttgarter Bahnhof bestimmen. Auch deshalb standen die Aktivisten gegen Bauprojekte und die Hamburger Schulreform, die Organisatoren der Occupy-Camps und der Internetkampagnen in unserem Fokus und weniger die – in der Protestgeschichte schon beinahe etablierten – Ostermärsche, die Aktivitäten der Friedens- sowie Umweltbewegung oder die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus.

Eine Ausnahme bilden in diesem Feld die Anti-Atom-Proteste. Wir haben diese jedoch bewusst mit einbezogen, weil die zahlenmäßig starken Demonstrationen seit dem Reaktorunfall im japanischen Fukushima ein aktuelles Phänomen darstellen und gleichzeitig die Aktivisten aus diesem Bereich eine Art Kontrollgruppe unseres Untersuchungsgegenstands repräsentieren. Denn fragt man nach individuellen Antriebskräften für Engagement und Protest, nach biographischen Prägungen, Organisationsformen, Wertefundamenten und politischen Einstellungen, ist davon auszugehen, dass Menschen mit einer langen Karriere als Vorkämpfer in etablierten Konfliktarenen andere Werthierarchien, Präferenzen und vor allem Erfahrungen haben als diejenigen, die schwungvoll und mit viel Elan die erste Demonstration ihres Lebens organisieren, und das womöglich in einem neu entstandenen Konfliktfeld. Indem wir also ebenfalls die Protagonisten der Anti-Atom-Proteste befragt haben, stellten wir gleichzeitig sicher, auch Aktivisten einzubeziehen, die über eine jahrzehntelange Erfahrung im Protestsektor verfügen. Somit ließ sich nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden etablierter und neu engagierter Akteure fahnden.

Noch einmal: Protest sollte in dieser Studie nicht über Organisation, Rahmbedingungen oder Kollektivakteure, sondern über die einzelne, im Feld tätige Person, über ihre Wertvorstellungen, Präferenzen und politischen Einstellungen erfasst werden. Doch nach welchen Kriterien wurden die jeweiligen Personen in unsere Untersuchung aufgenommen? Der Arbeitsbegriff unserer Studie war der des «Aktivisten». Wobei hier immer Männer und Frauen gemeint sind – Personen, die innerhalb des jeweiligen Protestzusammenhangs eine gewichtige Rolle einnehmen, wie zentrale Organisatoren oder auffällige Wortführer. Hätten wir uns jedoch auf diese Auswahlkriterien beschränkt, wäre die Gefahr sicher nicht klein, lediglich einen spezifischen Typus einzufangen: den nicht öffentlichkeitsscheuen, selbstbewussten Macher, während eventuell die stillen Strategen, leisen Vermittler oder gegebenenfalls radikaleren Typen vernachlässigt worden wären. Daher war der Arbeitsbegriff relativ offen formuliert und sollte ein breites Spektrum abdecken. Die im Protest Tätigen sollten jedoch ein «gewisses Aktivitätsniveau» aufweisen. Nur «Mitläufer» auf einer Demonstration kamen aber auch deswegen nicht in Betracht, weil sich ein weiterer Aspekt um die Frage nach gesellschaftlichen Veränderungspotenzialen und der persönlichen Motivation für das «kostenintensive Engagement» drehte. Unter welchen Bedingungen sind Menschen bereit, persönliche Ressourcen zu investieren, um sich für oder gegen etwas einzusetzen und damit die Gesellschaft mitzugestalten? Denn es macht tatsächlich einen Unterschied, ob jemand an drei Abenden in der Woche zu einer Versammlung der Bürgerinitiative geht, um die nächste Aktion vorzubereiten, oder ob man lediglich durch Anwesenheit bei der Aktion seinen Beitrag leistet.

Um diese verschiedenen Akteure mit einzubeziehen, sind wir in den jeweiligen Themenbereichen so vorgegangen: Durch Veranstaltungsbesuche sind wir mit «Wortführern» des Protests in Kontakt gekommen. Dabei haben wir diese als Gatekeeper angesehen. Über deren Weiterempfehlungen haben wir nach dem Schneeballprinzip oftmals weitere Gesprächspartner ausfindig gemacht. Bereits über diesen Zugang ließen sich Netzwerke und Machtbeziehungen identifizieren und sich somit der Protest als eigenständiges soziales Phänomen analysieren. Diese Methode der Rekrutierung für die Fokusgruppen und Einzelinterviews war zwar überaus aufwendig, jedoch auch erfolgreich.

Was schließlich einen Aktivisten ausmacht, ob er tatsächlich die Vorstellung einer offenen Zukunft, Selbstbewusstsein und Vertrauen benötigt,9 um sich zu engagieren, welche verschiedenen Typen an Aktivisten es in den unterschiedlichen Protestzusammenhängen gibt, welche Motivationen und Wertvorstellungen sie leiten, welche biographischen Prägungen mit größerer Wahrscheinlichkeit einen aktiven und gesellschaftspolitisch engagierten Bürger hervorbringen als andere, soll am Ende unserer Untersuchung stehen.

Einzelinterviews

Für eine erfolgreiche Anwendung des Instruments des Einzelinterviews bedarf es variierender Methoden, die offen sind für verschiedene Deutungsformen und die den Blick für die Bildung von Hypothesen weiten. In den Sozialwissenschaften sowie in einigen Kulturwissenschaften ist die Form des narrativen Interviews nach Fritz Schütze10 seit einiger Zeit etabliert und methodologisch weit entwickelt.11 Ausgehend von einem erzählgenerierenden Impuls, tätigt der Interviewte eine autobiographisch geprägte Haupterzählung, die ganz oder in Teilen die Lebensgeschichte des Befragten aus seiner eigenen Sicht reproduziert. Dabei sollen ausdrücklich subjektive Einstellungen, Werthaltungen und Interessen zum Ausdruck kommen. Deswegen ermuntert der Fragende seinen Gesprächspartner von Anfang an, Dinge zu vertiefen und auszuführen, die ihm selbst wichtig sind. Er zeigt also ein überaus starkes Interesse an der Person, mit der er sich unterhält, und an deren Geschichte. Die Offenheit und das Interesse kommen bereits in der Einleitung des Gesprächs zum Ausdruck und werden auch in den Nachfragen immer wieder deutlich. Der Interviewer knüpft dazu direkt an die Erzählung seines Gesprächspartners an, um noch nicht beantwortete Stellen zu schließen und um diesen zur Bilanzierung seines eigenen Handelns zu bewegen.12

Der Interviewer besitzt im Idealfall weder einen Leitfaden, noch versucht er, das Gespräch über den erzählgenerierenden Impuls hinaus auf Themen zu lenken, sondern stellt seine Frageweise darauf ab, den Gesprächsfluss am Laufen zu halten. Die Stärke dieses klassischen Verfahrens liegt darin, dass die Befragten sich gegenüber dem Interviewer öffnen und umfassend Auskunft geben, was den Blick auf hintergründige Argumentationsmuster und -zusammenhänge freigibt. Diese Gesprächsform generiert wegen ihrer größtmöglichen Offenheit in beträchtlichem Umfang Informationen, die Auskunft über vergangene Prozesse geben und darüber, wie sie der Interviewpartner wahrgenommen hat.13

Aus zwei Gründen war diese völlig offene Interviewtechnik aber für unsere Fragestellung nicht beziehungsweise nur eingeschränkt geeignet. Erstens gingen beide Seiten mit einer gewissen Vorerfahrung in das Interview. Die Auswahl der Gesprächspartner erfolgte nicht zufällig, da wir politische Aktivisten und Engagierte der verschiedensten Richtungen bewusst aufgesucht haben. Zwar wurde in der Gesprächsanbahnung wie in der konkreten Gesprächseröffnung nie der Begriff des «Aktivisten» verwendet, doch die Interviewpartner wussten von Beginn an, dass wir uns aufgrund ihres politischen Engagements für sie interessieren. Umgekehrt war den Studienteilnehmern bekannt, dass wir als Sozialwissenschaftler arbeiten – und auch ohne explizite Nennung unsererseits lassen sich die Arbeitszusammenhänge, in denen wir tätig sind, einfach erschließen. Insofern wäre bei allem Bemühen natürlich stets erkennbar, dass wir zielgerichtet interessiert sind. Mithin erhielten wir – was auch nicht zu erwarten war – nie die vollständige Lebensgeschichte beziehungsweise in Reinform das, was den Befragten als wesentlich erschien, sondern immer einen in Bezug auf das Engagement beziehungsweise auf die Demokratie hin thematisch gefilterten Ausschnitt.

Daneben ergab sich, zweitens, ein forschungspraktisches Problem. Durch die offene Gesprächsführung erhielt der Befragte viel Raum. Zugleich konzentrierte sich unser Forschungsinteresse aber nicht auf die Lebensgeschichte als solche, sondern auf die politische Lebensgeschichte in Bezug auf das aktive Engagement. Da die offene Methodik des narrativen Interviews erfahrungsgemäß schnell die vorhandenen zeitlichen Ressourcen hinsichtlich einer sachgerechten Auswertung übersteigt,14 hätten die auf diese Weise zusätzlich generierten Daten leicht den Rahmen des Projekts gesprengt. Daher bot sich eine stärker problemzentrierte Perspektive an.

Die amerikanischen Soziologen Robert K. Merton und Patricia Kendall15 haben dafür das fokussierte Interview in die Methodendebatte gebracht. Dieses versucht ebenfalls über Stimuli, den Gesprächspartner zum Erzählen zu bringen, es ermöglicht zugleich aber eine Engführung des Themas während des gesamten Gesprächs oder während einzelner Phasen. Zielsetzung des fokussierten Interviews ist, die subjektiven Erfahrungen auf der Grundlage einer konkreten Situation zu ergründen.16 Wiewohl alle Gesprächsteilnehmer in sehr unterschiedlicher Form aktiv sind, bildet ihr jeweiliges Engagement diese konkrete Situation und einen gemeinsamen Nenner. Möglicherweise sind sie aktiv geworden als Reaktion auf eine gewachsene oder grundsätzliche Unzufriedenheit mit der Funktionsweise der repräsentativen Demokratie und ihrer realen Einflussmöglichkeiten. Dieser von dem britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch unter dem Schlagwort «Postdemokratie»17 in die wissenschaftliche Diskussion eingeführte Gedanke könnte jedenfalls dem Handeln beziehungsweise Aktivwerden zugrunde liegen. Daher spricht einiges dafür, die Einstiegsfrage so zu wählen, dass überprüft werden kann, ob die Form der Aktivität sich als Reaktion auf ein gewandeltes Verhältnis zur Politik deuten lässt. Das wiederum setzt voraus, dass wir den Gesprächsteilnehmern die Gelegenheit bieten, sich erst in narrativer Form zu äußern. Nun plädieren Merton und Kendall aber sehr entschieden für die Verwendung eines Leitfadens, der ihnen schon alleine deswegen geboten erscheint, weil nur so die Vergleichbarkeit der Interviews gewährleistet ist.18

In der Konsequenz beider Anforderungen (Offenheit und Vergleichbarkeit) haben wir uns für eine Verbindung der Ansätze entschlossen, wie sie auch immer wieder empfohlen wird.19 Demnach gliedern sich unsere Interviews in einen stärker narrativen und einen fokussierten Teil. Die Einstiegsfrage soll dabei zur Erzählung anregen und will erkunden, wann unsere Gesprächspartner das erste Mal in Kontakt mit Politik gekommen sind. Dadurch setzen wir einen Startpunkt für die Erzählung. Hierauf aufbauend, wird nachgefragt, wie sich seitdem Einstellung und Beziehung zur Politik entwickelt haben. Das Gespräch wird also auf den Kontext Politik fokussiert, zugleich aber so strukturiert, dass dieser aus der eigenen Wahrnehmung heraus beschrieben wird. Die Narration dient dazu, die Interviewpartner zu veranlassen, ruhig gründlich und umfassend ihre Sicht der Dinge darzustellen. Wie im narrativen Interview üblich, werden Nachfragen dazu eingesetzt, den Redefluss zu unterstützen, ohne gleichzeitig diesen in Richtung des engeren Fokus zu steuern. Erst im späteren Verlauf des Gesprächs wird dann, soweit noch erforderlich, flexibel auf Leitfragen zurückgegriffen, um die Unterhaltung auf die drei Kategorien «Politisierung und Aktivismus», «Einstellung zu konventionellen Beteiligungsformen» sowie «Arbeit und Ziel in der konkreten Protestgruppe» zu lenken.

Gerade weil Protest von außen häufig mit Gesellschaftskritik identifiziert wird, begegneten uns die Studienteilnehmer mitunter vorsichtig bis skeptisch. Hier arbeiteten wir dann gezielt im Sinne des von Jean-Claude Kaufmann entwickelten verstehenden Interviews.20 Die Methode des französischen Sozialwissenschaftlers geht davon aus, dass das Gegenüber Anhaltspunkte braucht, um seine eigenen Äußerungen entwickeln zu können. Der Befragte muss in der Lage sein, den Fragenden einzuschätzen, um sich richtig auf die Gesprächssituation einlassen zu können. Daher sollte der Interviewer Empathie und Sympathie vermitteln und sich freundlich, positiv und offen für alles zeigen und somit auf den Gesprächspartner eingehen.21 Nur so können die angenommene Distanz zwischen Interviewer und Interviewtem durchbrochen22 und die offene Erzählung der jeweiligen politischen Biographie unterstützt werden.

Diese kombinierte Herangehensweise ermöglichte es, die insgesamt achtzig Interviews in den sehr verschiedenen Aktionsfeldern auszuwerten und auch miteinander vergleichen zu können, ohne dass es den Erkenntnisgewinn schmälerte. Auf dieser Grundlage ließen sich dann einige Thesen herausarbeiten und vertiefend analysieren.

Gruppendiskussionen

Auf der Grundlage der Einzelinterviews lässt sich bestimmen, warum jemand aktiv wird. Gleichzeitig geben sie aber nur eingeschränkt Auskunft darüber, wie sich der Aktivismus real ausdrückt. So klafft zwischen dem Anspruch («Man müsste eigentlich etwas tun») und der Realität («Ich engagiere mich») trotz wachsender Bereitschaft eine Lücke. Hier kommen einige Faktoren ins Spiel, die den Einzelnen daran hindern, den Anlass für partizipatorisches Handeln in diejenige Aktion umzusetzen, die er selbst für geboten hält. Persönliche Hindernisse dürften dabei im Einzelinterview deutlich werden, etwa familiäre, ökonomische oder berufliche Restriktionen. Uns ging es aber nicht nur um eine individualisierte Betrachtung von Wut, Protesthaltung und möglicher Aktivität. Wir suchten bewusst Hinweise auf die Gesellschafts- und Gruppenprozesse, die eine latente Protesthaltung erst manifest werden lassen und die zu ihrer Mäßigung oder Radikalisierung beitragen können. Deswegen galt es, eine Erhebungsform zu finden, die den Ertrag der Einzelinterviews sinnvoll ergänzt.

Dabei ist einzubeziehen, dass Menschen sich in einem institutionellen Kontext bewegen, der zur Herausbildung politischer Aktivität essenziell ist. Institutionen werden von den Akteuren jedoch weder bewusst wahrgenommen noch rational durchdrungen. Es sind die formellen und informellen Regeln, die das Zusammenleben und Zusammenagieren von Menschen beeinflussen.23 Wenn Menschen sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen, setzen sie bestimmte Umgangsformen und Erwartungen. Sie tasten sich in den Prozessen, die in Gruppen stattfinden, vor und testen aus, ob ihre Vorstellungen mit denen ihrer Mitstreiter übereinstimmen. Sie übernehmen dabei bestimmte Muster oder versuchen, diese zu verändern. Anders ausgedrückt: «Die Meinungsstruktur eines Individuums … ist ein soziales Produkt von Interaktionen.»24

Bei der Rekonstruktion von Protestbewegungen und gesellschaftlichen Protestformen wird man kaum zweifelsfreie Informationen darüber erhalten, welche Institutionen das Handeln der Einzelnen in dem Augenblick seiner politischen «Erweckung» beeinflusst haben. Gruppendiskussion bieten sich an dieser Stelle aber als probates Mittel an, um diese Lücke zu schließen. Sie haben den Vorteil, dass sie im besten Fall eine Diskussion zwischen den Gesprächspartnern in Gang setzen, die den alltäglichen Meinungsbildungsprozess nachbildet und in der die Teilnehmer zumindest zeitweilig ohne Eingriffe der Forscher miteinander kommunizieren und dabei Ansichten, Einstellungen, aber eben auch Debattenformen in verschiedenen Protestkulturen deutlich zutage treten lassen.25 Dieses Vorgehen wird in der Markt- und Meinungsforschung gern verwendet, wohingegen in den Sozialwissenschaften der Einsatz lange Zeit eher selten war, weshalb die Methodologie immer noch als ergänzungsbedürftig eingeschätzt wird.26 Gleichwohl gibt es seit den fünfziger Jahren immer wieder entsprechende Forschungsansätze.27 In den letzten Jahren wird sogar eine wachsende Beliebtheit dieses Verfahrens konstatiert,28 und auch das Göttinger Institut für Demokratieforschung hat bereits in früheren Untersuchungen reichliche Erfahrungen mit dieser Methode gesammelt,29 auf die wir in diesem Vorhaben zurückgriffen.

Die zum Gespräch eingeladenen Teilnehmer bildeten zumeist keine gemeinsam agierende Realgruppe – bei diesem Projekt ging es nicht zentral um Meinungsbildung in Gruppen. Es existierte bei den Einzelnen aber doch ein Wertehintergrund, auf dem Erfahrungen im Engagement gemeinsam diskutiert werden konnten, der Austausch von bisher Erreichtem möglich war. Diese Herangehensweise bewegt sich weniger in der deutschen sozialwissenschaftlichen Tradition der offenen Gruppendiskussion, sondern ist eher an einem outputorientierten Vorgehen orientiert, das sich vor allem in der amerikanischen Forschung einer großen und wachsenden Beliebtheit erfreut.30 Fokusgruppen haben für unser Vorhaben den besonderen Vorteil, dass die Teilnehmer in ihnen versuchen müssen, ihrer Argumentation «einen gewissen Grad an Allgemeingültigkeit» zu verleihen.31 Dadurch ist es möglich, mit einem verhältnismäßig geringen Aufwand rasch Hypothesen und weitergehende Forschungsansätze zu erarbeiten. Bedingt durch die – allerdings nicht zwingend personenidentische – Kombination mit den Einzelinterviews, hat man auf diese Weise eine zusätzliche Reflexionsebene.

Sieben Untersuchungsgruppen wurden gebildet, bei denen wir je Protestfeld ein bis vier Fokusgruppengespräche geführt haben. In der konkreten Gruppendiskussion kam es dann darauf an, den Teilnehmern die Möglichkeit zu geben, modellhaft denkbare Arbeitsstrukturen und Protestformen zu entwickeln. Das heißt: Auch wenn wir wussten, dass die Personen miteinander aktiv sind oder sich zusammen für ein Thema engagieren könnten, wollten wir erreichen, dass sich, ausgehend von ursprünglich individuellen Bedürfnissen und Zielsetzungen, ein mögliches gemeinsames Interesse und Bewusstsein durch «wechselseitige(r) Bezugnahme und Herausforderung im (Gruppen-)Diskurs» herausbildet.32 Dabei ging es uns auch um die Erschließung gemeinsamer Sprach- und Argumentationsmuster, Erfahrungen und Schlüsselmomente, geteilter Analysen und Hoffnungen. Dadurch ergibt sich nicht nur ein tiefer Einblick in das «Innenleben» der Protestbewegung, sondern auch in ihre Selbstwahrnehmung, in Deutungen von Umfeld und Zusammenhängen, in Inszenierungs- und Mobilisierungstechniken.

Gruppendiskussionen im Allgemeinen folgen meist einer ganz bestimmten Grundstruktur: Aufwärmphase, Herausbildung von Rollenstrukturen, am Ende Ausklang der Debatte.33 Hinsichtlich der Reproduzierbarkeit der Ergebnisse wird auch hier – ähnlich wie bei den Einzelinterviews – eine «gewisse Standardisierung» als notwendig erachtet.34 Aus diesem Grund verwenden wir einen teilstandardisierten Leitfaden, der die gängige Grundstruktur abbildet und wie im fokussierten Interview den einzelnen Teilnehmer wie der Gruppe Freiräume zum Assoziieren und Erzählen bietet. Die Erfüllung dieser hohen Erwartungen hängt jedoch von der Leistung des Moderators beziehungsweise der Moderatorin ab. Gerade weil die anvisierten Themen in zweieinhalb bis drei Stunden diskutiert werden sollten, erschien uns der Einsatz eines Moderatorenteams sinnvoll. Hier entschieden wir uns für ein gemischtes Doppel in jeglicher Hinsicht: ein in das Themenfeld eingearbeiteter sowie ein «unwissender» Moderator, ein männlicher sowie ein weiblicher. Letztere war gerade für die unterrepräsentierten Teilnehmerinnen der Gruppendiskussionen immer ein guter Ankerpunkt. Die Moderatoren teilten sich im Vornherein ihre Parts auf, waren jedoch auf verabredete Zeichen hin auf die Intervention des Partners eingestellt. So konnten Nachfragen gezielter eingebracht werden.

Eine gelungene Moderation braucht Übung. Um als Moderator eine Gruppe steuern zu können, muss man den Themenleitfaden verinnerlicht haben, also frei agieren können und in der Lage sein, rasch mit Empathie auf Menschen zuzugehen und sich in bestimmten Situationen zurückzunehmen, um so den Gesprächsteilnehmern den Freiraum für die Entfaltung ihrer Gedanken sowie persönlichen Erfahrungen zu geben. Der Moderator sollte die gängigen Fragetechniken beherrschen, von der offen formulierten Einstiegsfrage zu vertiefenden Fragen übergehen, gezielt persönliche Erfahrungen und Einstellungen «ermitteln» und die anderen Teilnehmer zu einer Auseinandersetzung mit dem Gesagten animieren.35 Gerade das aktive Zuhören und Paraphrasieren ist eine Technik, die Moderatoren beherrschen sollten.36 Das Ziel innerhalb der jeweiligen Themenblöcke war die Selbstläufigkeit, das heißt, die Gruppe sollte idealerweise – möglichst ohne Intervention durch die Moderatoren – mit sich selbst im Gespräch sein und so Werthaltungen und Einstellungen offenlegen.37

Intime Informationen kommen in Gruppendiskussionen nur dann zur Sprache, wenn die Teilnehmer im Lauf der Unterhaltung die Laborsituation, in der sie sich befinden, nach und nach «vergessen». Daher musste gerade in diesem Fall die Auswahl des Raumes, in dem die Gruppendiskussion stattfinden sollte, sorgfältig getroffen werden. Üblicherweise werden Fokusgruppen in Marktforschungsstudios oder in ähnlich sterilen Räumlichkeiten durchgeführt. Hier sind die Kameras häufig unauffällig an der Decke fixiert, Tischmikrophone nehmen das Gesagte auf, und eine verspiegelte Scheibe ermöglicht den Beobachtern, versteckt das Geschehen zu verfolgen. Solche Studios befinden sich jedoch nur in (Groß-)Städten und schienen für Teilnehmer aus dem Protestmilieu auch nicht geeignet. Wir suchten, teilweise im wahrsten Sinn des Wortes, alternative Räumlichkeiten, zeichneten alles mit eigenen Kameras und Mikrophonen auf. Gelegentlich waren wir auch zu Gast bei den «Protestlern». Dies hatte den Vorteil, dass die sogenannte Aufwärmphase quasi übersprungen wurde, die Teilnehmer kaum mit der Örtlichkeit fremdelten und sich sofort in das Gespräch einfanden. Für die Moderation war es so aber mitunter schwieriger, die Gruppe auf unsere «Gesprächsregeln» beziehungsweise Rahmenbedingungen festzulegen. Es war aufwendiger, die Teilnehmer für die Dauer der Diskussionsrunde am Tisch zu halten, diese an die zuvor verabredeten Pausen zu binden und den Gegenstand der Diskussion anhand des Gesprächsleitfadens vorzugeben.

Neben Moderation und Räumlichkeit wurde auch die Gruppengröße erörtert. Während die sozialwissenschaftliche Literatur zu dieser Frage eine Spannweite von neun bis zwölf Teilnehmern angibt,38 empfiehlt der Arbeitskreis Qualitative Markt- und Sozialforschung des Berufsverbands Deutscher Markt- und Sozialforscher eine Größe von acht Teilnehmern.39 Auch hier würden wir aus unseren Erfahrungen für eine differenziertere Herangehensweise plädieren, das heißt: Die Gruppengröße sollte vom Themenkatalog und der angenommenen Nähe der Teilnehmer zu den Diskussionsgegenständen abhängen. Eine Gruppe mit politikfernen Gästen, die ausschließlich auf die Einstellung zu und Erwartungen an Politik fokussiert ist, kann sicherlich mit acht oder neun Teilnehmern durchgeführt werden. Befragt man allerdings – wie in unserem Fall – politisch aktive Menschen, die häufig über das nachdenken, was Gegenstand der Gruppendiskussion sein sollte, und die es überdies als Wortführer oder zentrale Personen innerhalb ihres Protestzusammenhangs auch gewohnt sind, sich und ihre Meinungen vor einer Gruppe zu präsentieren, ist eine deutlich kleinere Gruppengröße mit fünf bis sieben Teilnehmern ein ideales Setting.

Gruppendiskussionen bedürfen also einer gründlichen Vorbereitungszeit, einer genauen Rekrutierung, geschulte Moderatoren und zu guter Letzt einer überlegten Auswertung. Die Grundbedingungen von Fokusgruppen sollten sich dabei dem Untersuchungsgegenstand anpassen. Dies gilt nicht nur für die Räumlichkeit, die Gruppengröße oder die Anzahl der Moderatoren, sondern auch und vor allem für die Gesprächsmethoden, für die Begriffe, mit denen die Teilnehmer konfrontiert werden. Hier ist ein hohes Maß an ständiger Reflexion im Forschungsprozess erforderlich. Die Ambivalenzen, die diese Herangehensweise mit sich bringt, sollten keinesfalls ignoriert, sondern ständig bedacht und flexibel gehandhabt werden. Nur so kann man der Realität bestmöglich entsprechen und die Komplexität der Lebenswelten einfangen. Nur bei einem reflexiven, offenen und dem Forschungsstand angepassten Umgang bei Ausübung und Gestaltung der Rahmenbedingungen kann die Methode der Gruppendiskussion für die Sozialwissenschaften eine multiperspektivische Quelle darstellen.

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Anders als im fokussierten Einzelinterview erzeugten wir also gleichsam experimentell eine Situation, in der sich die Teilnehmer verorten sollten. Wir erhofften so, dass diese ihren individuellen Erfahrungshintergrund einbringen, um ihre Einstellungen und Positionen nicht nur in der Gruppe zu aktualisieren, sondern dass diese sich weiter herausstreichen lassen.42

-intention