Coverbild

Klaus Bittermann

Alles schick in Kreuzberg

Unter Touristen, Pennern, Gentrifizierten

FUEGO

- Über dieses Buch -

Und wieder versucht Klaus Bittermann herauszufinden, wie weit die Gentrifizierung in seinem Viertel in Kreuzberg gediehen ist. Er beobachtet eine wundersame Vermehrung junger Franzosen, Engländer und Spanier, er ist den »Miethaien« auf der Spur, die sich als harmlose Rentner tarnen, er bestaunt eine Schießerei auf dem Spielplatz vor seiner Tür, in der es sehr alttestamentarisch zugeht, er schlägt sich im Wellness-Bereich des Berliner Zolls durch, er isst kontaminiertes Sushi, um erleuchtet zu werden, er lernt einen Mann kennen, der mit Teelichtern heizt, er demonstriert vor dem Springer-Hochhaus, wo Bild die rote Karte gezeigt wird, und er recherchiert in einem Tätowierstudio. Einen Reim kann er sich nicht darauf machen, aber er weiß ganz sicher: Das alles wird sich irgendwann mal aufklären.

»Für jemanden, dem vor Berlin so graut wie mir, ist dieses Buch ein Quell der Freude: Berlin kann ja auch komisch und menschlich sein!!! Mit Bittermanns Blick fahre ich jetzt wieder gern hin.«

Elke Heidenreich

»Bittermann schreibt, wie Zille zeichnete. Und das liest sich, als würde man Tom Waits hören. Wunderbare Miniaturen des Alltags. Klaus Bittermann ist ein manchmal melancholischer Chronist, der grinsend durch sein Berlin streift.«

Bernd Gieseking

»Bittermann setzt der Welt, wie sie ist, eine Haltung des unbeugsamen Eigensinns entgegen. Bittermann, der ewig junge, rebellische Weltzuschauer, schweift umher und beweist im absichtslosen Nebenbei, wofür das Leben wirklich lohnt.«

Brigitta Lindemann, WDR

Für Tania

Bierflaschenhalter

Seitdem mich jemand als einen »Walter Benjaminschen Flaneur« bezeichnet hat, bin ich etwas gehemmt, denn meine Kontrollgänge durch das Viertel sind ganz profan, außerdem geht ein richtiger Flaneur mit einer Schildkröte an der Leine spazieren, während ich es meistens recht eilig habe. Ich wüsste gar nicht, wo ich so eine Schildkröte herkriegen sollte. Ich meine eine Galapagos-Schildkröte, die ein bisschen auffällt, denn sonst denken die Leute nur: »Steht halt ein Mann rum«, weil sie die Schildkröte gar nicht sehen, oder sie denken, wenn sie die Schildkröte doch sehen: »Was macht denn die Schildkröte auf der Straße?«

Ich versuche mich trotzdem mal als Walter Ben­jamin’scher Flaneur. Als Erstes fällt mir auf, dass in einigen Ecken unauffällig Rentner sitzen. Sie bewegen sich nicht, befinden sich aber in Begleitung eines Hackenporsches. Es ist sehr kalt, weshalb ich denke, dass die Rentner ganz schön abgehärtet sind. Die jüngere Generation ist das nicht. Sie ist nicht zu sehen, nicht mal auf der Admiralbrücke, obwohl man dort inzwischen bequem seine Bierflasche in einen Bierflaschenhalter stecken kann und die Hand wieder in die warme Hosentasche.

Der Bierflaschenhalter kann mindestens zwanzig Bierflaschen halten und ist angekettet, damit ihn niemand mitnehmen kann. Er erinnert mich an den Flaschentrockner von Marcel Duchamp, aber zu dieser Berühmtheit wird es der Bierflaschenhalter wohl nicht bringen.

Am Kanal treffe ich doch noch Einen aus der jüngeren Generation. Er trägt Bart und lange Haare und ist ebenfalls unauffällig, bis er auf einmal anfängt, wild mit den Armen zu rudern und tänzelnde Schritte zu machen, wobei beide Bewegungen eher disharmonisch sind. Mit einer Schildkröte hätte ich mir das jetzt genau angu­cken können, ohne dass es aufgefallen wäre, so aber will ich nicht einfach stehenbleiben und den Mann anglotzen, der dann wahrscheinlich denken würde, ich hätte sie nicht mehr alle.

Miethaie raus

Fup und ich stehen am Straßenrand und gaffen. An uns vorbei ziehen Demonstranten, die gegen Mieterhöhung in Kreuzberg demonstrieren. Die Demonstranten rufen: »Leute, lasst das Gaffen sein, kommt herunter, reiht euch ein!« Also lassen wir das Gaffen sein und reihen uns ein. Bleibt einem ja nichts anderes übrig, denke ich, obwohl das natürlich nicht stimmt, aber früher habe ich das selbst mal gerufen, und weil da nie jemand auf mich gehört hat, denke ich, muss jemand mal mit gutem Beispiel vorangehen. Zum Beispiel ich. Und Fup. Schließlich will man ja die Demons­tranten nicht unnötig frustrieren, indem man ihnen demonstrativ zeigt, dass man einfach weiter gafft.

Früher waren es allerdings »Bürger« statt »Leute«, die man aufgefordert hat, sich einzureihen, und bei den Bürgern ist es eigentlich kein Wunder, dass sie nicht auf mich gehört haben, denn die wollten, dass ich »nach drüben« ginge. Inzwischen gibt es kein »drüben« mehr, und außerdem habe ich den Eindruck, dass es auch keine Bürger mehr gibt.

Wir laufen hinter einem Wagen her, auf dem Hip-Hop gespielt wird. Das gefällt Fup. Aber es werden auch politische Ansprachen gehalten. Alle sollen in ihren Wohnungen bleiben dürfen, auch die Alkoholiker, nur die »Miethaie« sollen verschwinden. Und Parolen werden gerufen: »Mieten­stopp – hopphopphopp!«

Die Anarchisten der FAU tragen rote Fahnen, auf denen schwarz FAU steht. Die SDAJ hat auch rote Fahnen mit ihrem Namen drauf, damit man sie nicht verwechselt. Viele Leute tragen aber lieber Pappschilder. Auf denen steht »Miethaie raus« und »Die verdammte Miete ist zu hoch«.

Fotografie

Am Straßenrand stemmt sich ein etwas nachlässig gekleideter Mann gegen den Demonstra­tionszug und verteilt ganz kleine blaue Zettel, auf denen er für ein »Gratiseinkommen« eintritt. Ein Mann in bunten Freizeithosen trägt mit seiner Freundin ein Transparent, das von hinten aussieht wie eine Tapete, vorne aber steht drauf: »Bonze, wir wissen, wo dein Auto steht!« Bonze? Von dem habe ich ja schon lange nichts mehr gehört. Bestimmt schon seit dreißig Jahren nicht mehr. Der war so tot wie der Bürger heute. Und jetzt fährt er plötzlich wieder Auto. Und die Leute wissen sogar, wo es steht. Verrückt, denke ich, aber irgendwie auch toll.

Fup gefällt Hip-Hop immer noch.

Bis es knallt

Nach viereinhalb Stunden mit der Deutschen Bahn bin ich reif für ein Sanatorium. Ich bin mit Hertha-Fans in einem Abteil eingepfercht. Die Klimaanlage ist ausgefallen, vielleicht aber schafft sie es einfach nicht mehr, die ganzen Ausdünstungen zu entsorgen, die sehr viele Hertha-Fankörper absondern. Viele liegen auf dem Boden herum und essen aus kleinen Schachteln und Tüten, auf denen McDonald’s steht. Noch mehr haben Bierdosen in der Hand, und wenn sie auf dem Boden keinen Platz mehr gefunden haben, lehnen sie sich an andere Hertha-Fans, die auch Bierdosen in der Hand halten, zur Not lehnen sie sich auch an Reisende, die so aussehen, als würden sie zum ersten Mal mit Hertha-Fans zu tun haben und bei denen es unschwer zu erraten ist, dass ihnen unablässig: »Das Grauen, das Grauen«, durch den Kopf geht, obwohl sie Joseph Conrad gar nicht kennen.

Ein Hertha-Fan, der dieser Vorstellung vom Grauen sehr gut entspricht, hat sein Hertha-Shirt ausgezogen und zeigt seine zahlreichen Tätowierungen. Sein Gesicht ist scharf geschnitten, und wenn er grinst, kommt eine intakte Zahnleis­te mit viel Gold zum Vorschein. Er erzählt mir etwas, aber ich verstehe ihn nicht. Ich nicke zustimmend mit dem Kopf, weil es mir nüchtern schwerfällt, mich mit jemandem zu unterhalten, der breit wie ein Moschusochse ist. Zusätzlich wird unsere Kommunikation dadurch erschwert, dass ich nach fünf Versuchen der Kontaktaufnahme immer noch nicht weiß, worum es geht. Als sich unsere Wege trennen, ruft er mir hinterher: »Ich hab heute noch Sex. Und zwar jaaanz lange.« Dabei zeigt er seine Zähne und lacht.

An der Bushaltestelle stehe ich mit jungen Leuten zusammen, die gerade eine Polizeiausbildung machen. Einer erzählt, wem er als Erstem »die Fresse polieren« würde, und dass er in der Gosse gelandet wäre, wäre er nicht bei der Polizei gelandet.

Im Bus steigen drei ältere Herren in Freizeitkleidung hinzu. Sie befinden sich gerade auf der Rolle. Sie sind Vertreter auf der Suche nach ein bisschen Spaß. Ein Vertreter erklärt dem anderen Vertreter, wie man Bus fährt: »Und jetzt das Ding ganz langsam in den Schlitz schieben, bis es knallt.« Die drei lachen, und einer wiederholt zur Sicherheit noch mal: »Bis es knallt.« Und dann lachen sie noch mal.

Draußen in der Dunkelheit rauscht ein großes Plakat vorbei, auf dem mich Wowereit angrinst und behauptet, er würde »Berlin verstehen«. Viel Spaß, denke ich, und schließe Augen und Ohren.

Kontaminiertes Sushi

Ich sitze bei einem Japaner auf dem Kottbusser Damm und bestelle kontaminiertes Sushi. Eigentlich nur Sushi, ohne Kontaminierung, aber die soll es ja angeblich gratis dazugeben. Und noch eigentlicher bestelle ich weder Sushi noch kontaminiertes Sushi, sondern die 140. Sechs Stück. Vor dieser 140 sitze ich also, ein bisschen in der Erwartung, erleuchtet zu werden, was natürlich Quatsch ist, aber man passt sich der Gegend an, in der man sich gerade befindet. Und wenn ich mich auf dem Kottbusser Damm befinde, dann gehen mir eben solche völlig unnützen Gedanken durch den Kopf. Und auf dem Kottbusser Damm wiederum befinde ich mich, weil ich ja auch ab und zu aus dem »Graefekiez« raus muss, in dem jeder Zweite die Grünen wählt und sogar der neben mir wohnende Müntefering einer Minderheit angehört, und ich als PARTEI-Wähler noch mehr, obwohl die PARTEI mit 2,8 Prozent im Viertel ein Traumergebnis erzielt hat.

»Haste mal 50 Cent? Ick hab heute noch nichts gegessen«, sagt eine Frau, die man nicht für eine Bettlerin halten würde, wenn sie nicht bettelte. Sie wiederholt ihren Spruch mit einer kaum kaschierten Aggressivität und in erstaunlicher Geschwindigkeit, als wollte sie sich keinen der zahlreich an ihr vorbeihastenden Passanten durch die Lappen gehen lassen.

Ich schiebe mir gerade das zweite Stück 140 in den Mund, als es auch mich erwischt, aber da ich kein 50-Cent-Stück habe, blicke ich nur kurz auf und hebe bedauernd die Schultern. »Biste ‘n Spanner, oder wat?«, sagt sie und geht weiter. Das gibt mir zu denken, aber ich komme zu keinem Ergebnis.

Schließlich kommt sie zurück. Ich gehe in De­ckung. Sie steht vor einer Haustür und drückt auf Klingeln. Ein älterer Türke kommt heraus. »Wie kommt man denn hier rein, wenn man in dem Hotel hier wohnen will?«, fragt die Bettlerin. Hotel? Bettelt, um sich ein Hotelzimmer leisten zu können? Warum nicht, denke ich.

Kaum aber hat der Türke den Mund aufgemacht, zischt sie: »Mit Ausländern will ich ja jetzt echt nix zu tun haben«, und verschwindet ein weiteres Mal.

Gottseidank hatte ich keine 50 Cent dabei. Die kann ruhig noch ein bisschen hungern.

Hit the Road, Jack

Morgens zur Zeitungslesezeit begebe ich mich zu »Monsieur Ibrahim«, um Zeitung zu lesen, diesmal jedoch nicht die übliche Presse, sondern das neueste Journal von Miss Trixie. Vierfarbig, klein­formatig und in nur einem Exemplar verfügbar. Ich lese in »Vermischtes«:

»In China stürzte sich ein Mann von einem siebenstockwertigen Hochhaus runter. Süchater hatten sich 4 Jahre lang um ihn gekümmert. Dass er wieder Lust am Leben hat. Die Süchater waren Profis und haben sich sehr Mühe gemacht. Experten fragen sich nun, warum es nicht geholfen hat. Wahrscheinlich war er unbeliebt, auch in der Schule. Man glaubt auch, dass er kranke Verwandte hat und sich Sorgen gemacht hat. Polizisten versuchen jetzt auch was herauszufinden.«

Ich bin hingerissen und deprimiert zugleich. Da versuche ich, lustige und hinterhältige Texte zu schreiben, und dann kommt eine zehnjährige Göre daher, noch dazu meine eigene Tochter, und zeigt mir mal ganz nebenbei, wie ein lustiger und hinterhältiger Text aussieht. Ich glaube, jetzt könnte ich auch einen Süchater gebrauchen.

Aber den könnten hier viele gebrauchen. Zum Beispiel der Mann vor Kaiser’s, der die Motz feilbietet wie ich das sonst nur von den Zeugen Jehovas kenne. Er hält sie stumm vor seine Brust wie ein Mahnmal der Anklage. Obwohl, bei dem würde ein Süchater auch nichts nützen. Geld würde schon reichen. Auch bei dem Mann, der aus einem Abfallkorb einen Coffee-to-go-Papp­becher herausfischt, den Deckel abmacht, den Kaffeerest ausschüttet und den Becher dann mitnimmt. Nur am Geld kann das nicht liegen, jedenfalls nicht im Sinne von: »Ich bräuchte jetzt einen Pappbecher, kann mir aber keinen leisten.«

In der U-Bahn-Linie 1 entern drei Spanier den Waggon. Zwei haben Trompeten dabei, einer ein Plastikharmonium, und dann haben sie auch noch eine fette Box mit Anlage dabei, die sie auf einem Hackenporsche hinter sich herziehen. Einer sagt irgendwas auf Spanisch, das ich nicht verstehe, außer »bruta«, und dann dröhnt »Hit The Road, Jack« von Ray Charles aus der Box. Sie tun so, als ob sie mitspielen würden, aber nur ein bisschen. Dann geht einer mit einem Coffee-to-go-Pappbecher herum. Es dämmert mir. Klar, wofür sonst braucht man auch einen gebrauchten Coffee-to-go-Pappbecher.

Als sie den Waggon wieder verlassen, verste­cken sie ihre Trompeten unter der Jacke.

Hey Yo! Was geht ab?

Ich bin gerade angefixt und gucke die amerikanische Fernsehserie »Wire« am Stück weg. Sie spielt in Baltimore, einer Hafenstadt an der Ostküste. Sie hat die höchste Mordrate und ist voller Drogen. Und die Nigger, die sich in der Serie alle mit »Nigger« dissen, tragen XXXXL-Übergrößen und sagen, wenn sie auf der Straße herumlungern, immer »Hey Yo!« Das versuche ich jetzt auch Fup beizubringen. Besser, Baltimorisch zu sprechen als zu Ballinern.

Bei Fup hört es sich allerdings mehr nach »Hejo!« an. Sonst ist er auf einem guten Weg, sich »Respekt« zu verschaffen. Als er nach Hause kommt, ich mich zu ihm herabbeuge und ihn begrüße mit »Hey Yo! Was geht ab?«, antwortet er »Hejo!«, und schon habe ich eine kleben. So war das eigentlich nicht gedacht, aber wie soll man das einem Zweieinhalbjährigen erklären?

Auf der Elendsmeile Kottbusser Damm, die hier in der Gegend Baltimore noch am nächsten kommt, werden wir von einem Platzregen überrascht. Wir stellen uns unter die Markise eines Ramschladens, wo von Türken bevorzugte bunt glitzernde Klamotten auf 15 Euro reduziert sind. Der Besitzer ist Thailänder oder sowas ähnliches und lungert im Eingang seines Ladens herum. Ich sage, dass heute wohl niemand mehr kommt. Die letzten paar Stunden sei das auch schon so gewesen, sagt er. Gegenüber hätte vor Kurzem noch ein Laden aufgemacht, alles würde immer billiger und überhaupt, die Krise. Ich nicke verständnisvoll. Fup sagt: »Hejo!«

Auf dem Spielplatz redet eine Mutter ihrem Sohn, der gerade ein paar unsichere Schritte gehen kann, ins Gewissen. »Ich habe mich so auf dich gefreut. Wir könnten es so schön haben, und jetzt schlägst du deine Mutter!« Der Junge steht da, als hätte er sich in die Hose gemacht. Mit seinem schlechten Gewissen kann er als Versager später dann mal nach Baltimore gehen und an Ecken herumlungern, falls das hier in Berlin nichts wird.

Geile Schlampe

Ich befinde mich gerade im Buchladen meines Lieblingsbuchhändlers, in dem es manchmal bienenschwarmmäßig zugeht wegen der vielen Touristen, die dort eine Postkarte kaufen, um sich später daran zu erinnern, dass sie in Berlin waren und sich eine Postkarte in Kreuzberg gekauft haben ... Ich bin also in Kisch & Co., als draußen auf der Oranienstraße die Feuerwehr erst in die eine Richtung fährt und dann wieder in die andere und dabei ohrenbetäubend lalüt. Fup ist ganz entgeistert. Und beeindruckt. Er sagt »Oh!«, und man hört das Ausrufungszeichen mit.

Kurz danach tut sich eine andere Lärmquelle auf. Ein Mann mittleren Alters hat sich breitbeinig mitten auf den Bürgersteig gestellt wie ein Comic-Cowboy vor dem Showdown. Er brüllt aus Leibeskräften: »Du verficktes Arschloch! Du dreckiges Warzenschwein!« Aber es steht ihm niemand gegenüber, wie sich überhaupt um ihn herum eine Art Sahelzone gebildet hat.

Nur ein Mann befindet sich in seiner Nähe, wenngleich in gebührendem Abstand. Auch er beachtet den Brüller nicht. Er schließt nur sein Fahrrad auf und fährt davon. Am Schreihals vorbei, der trotz eines offensichtlich ordentlichen Alkoholpegels erstaunlich behende beiseite tritt, nur um sofort wieder seine breitbeinige Shootout-Haltung einzunehmen, kaum ist der Fahrradfahrer an ihm vorbeigefahren. »Du Arschgesicht, du Drecksau, dich würd ick ja nich mal mit ‘ner Kneifzange anfassen!«, brüllt er dem Fahrradfahrer hinterher. Und dann plötzlich, wie in einem Moment der Erleuchtung und nicht mehr so laut: »Oder vielleicht doch?« Dann geht er im Zickzack-Kurs weiter.

Fup und ich gehen auch, schwanken aber nicht so. In der Adalbertstraße bewachen Polizis­ten eine Kundgebung. Schwarz gekleidete Menschen sind gegen die Gentrifizierung »und insbesondere für den Erhalt des bedrohten Werkstattprojekts ›Linienhof‹ in Berlin-Mitte«. Das liest ein schwarz gekleideter Mann mit schwarzer Baseballmütze vom Blatt ab. Ein anderer schwarz gekleideter Mann filmt ihn dabei. Die Polizisten, die nicht so schwarz gekleidet sind, lehnen sich lässig an das Absperrgitter. Sie filmen nicht.

Viele Leute sind nicht da. Vielleicht liegt das daran, dass es sich um ein Projekt in Berlin-Mitte handelt. Vielleicht auch, weil die schwarz gekleideten Menschen merkwürdige Dinge tun. Ein paar nageln aus Holzpaletten Bänke und Liegen zusammen, und auf einem Anhänger befindet sich eine provisorische Schmiede. Ein Stück Eisen wird in eine offene Feuerstelle gehalten, bis die Spitze glüht, und dann wird mit einem Hammer darauf herumgehämmert. Ich kann nicht herausfinden, ob nur einfach so auf dem glühenden Eisen herumgehämmert wird, oder ob irgend­etwas geformt werden soll. Das Ganze nennt sich »unkommerzielles Projekt«, und das sieht man dem Projekt auch überdeutlich an. Wer will sich schon eine Sitzlandschaft aus Paletten ins Wohnzimmer stellen?

Später stellt sich heraus, dass der Journalist Matthias Greffrath irgendwie in die Geschichte um die Hausräumung verwickelt ist, weil er das Haus offenbar gekauft hat, in dem das »unkommerzielle Projekt« untergebracht ist, das nun geräumt werden soll.

Bei Matthias Greffrath fällt mir aber immer nur ein, dass er mich mal am Telefon mit »Na, du kleine geile Schlampe!« angesprochen hat. Er meinte dann aber Gottseidank nicht mich, sondern jemand anderes. Glück gehabt, aber das prägt, das kriegt man nie wieder aus dem Kopf raus.

Imran muss geschlossen werden

Auf der Kottbusser Brücke treibt sich sehr viel Polizei herum. Ich glaube, es ist eine Art Einsatzpolizei. Und zwar unterschiedliche Einsatzpolizei. Ich sehe das daran, dass sie sich farblich ganz leicht unterscheiden. Eine Gruppe trägt mehr Olivgrün und hat eine vierstellige Nummer hinten drauf. Eine andere Gruppe scheint mehr ein Grün zu bevorzugen, das eine Nuance heller ist, und auf den Rücken haben sie sich eine andere vierstellige Nummer gepappt. Einige Polizisten tragen Camcorder, aber ich sehe nur einen, der auch filmt, und zwar seine Kollegen. Manche gehen im Gänsemarsch, was ein bisschen albern aussieht, vor allem, weil ein großer dicker Polizist direkt hinter einem kleinen dünnen läuft. Da hätte die Einsatzleitung ein Auge drauf haben müssen. Finde ich. Das muss ja schon ein wenig zusammenpassen.

Die Polizisten laufen neben ein paar Demons­tranten her. In der vordersten Reihe befinden sich nur Frauen. Sie tragen ein großes Transparent, auf dem steht: »Imran muss sofort geschlossen werden!« Imran? Imran Ayata etwa? Ich kenne Imran. Er hat gerade ein Buch veröffentlicht. Über das Berliner Nachtleben eines Türken, dessen Eltern im Lotto gewonnen haben. Aber warum muss der geschlossen werden? Ich gucke nochmal hin. Es ist gar nicht Imran, sondern »Imralı«, das sofort geschlossen werden muss. Falls Sie nicht wissen, was »Imralı« ist, googeln Sie doch selbst.

Kurden also, denke ich. Von den Parolen verstehe ich nur, dass die Türkei irgendwas Terroristisches ist. Hinter dem Frauenblock gibt es noch einen Frauenblock. Frauen mit Kopftüchern tragen eine sehr große, sehr grün-rot-weiß-ge­streifte Fahne. Sie tragen sie wie ein Sprungtuch.

Am nächsten Tag gibt es die gleiche Demo noch einmal. Ein lässig auf seinem Motorrad sitzender gelber Straßenabsperrpolizist sagt auf meine Frage, wer da demonstriert: »Keene Ahnung, wer da demonstriert. Irgendwelche Türken, denk ick mal.« Das war jetzt nicht schwer herauszufinden, denn es ist sehr viel junges Volk unterwegs, das sich in türkische Fahnen eingewickelt hat und laut schreit, dass die PKK irgendwas Terroristisches ist.

Wählt Guy Debord

»Was macht ihr auf meiner Brücke?«, fragt uns der Vorsitzende der PARTEI Martin Sonneborn, als wir über die Admiralbrücke gehen. »Wir müssen nur schnell was erledigen und kommen dann wieder zurück«, antworte ich. Das ist zwar keine Antwort auf seine Frage, aber die habe ich auch nicht verstanden.

Martin Sonneborn nickt freundlich und grinst chinesisch wie immer. Ein paar Meter weiter sagt mir Nadja, was Sonneborn wirklich gesagt hat. Daraufhin finde ich meine Antwort gar nicht so schlecht, denn ich mag es, wenn Leute aneinander vorbeireden.

Martin Sonneborn hat mit seiner PARTEI auf der Admiralbrücke plakatiert, z.B.: »[kriminelle] Touristen raus«. Warum eigentlich nur die kriminellen, frage ich mich? Nicht, dass ich etwas gegen Touristen habe. Einige meiner besten Freunde sind Touristen, zum Beispiel ich. Aber die reichen mir auch schon. Die ganzen anderen müssen jetzt nicht unbedingt sein!

Die Touristen stört das Plakat nicht. Nicht einmal die kriminellen Touristen. Sie haben sich auf Decken niedergelassen, machen Picknick und spielen Karten. Sie lassen sich durch nichts stören, auch nicht von den Plakaten der Grünen, auf denen sich jeweils ein Gesicht und ein Name befindet, wobei weder das eine noch das andere so beschaffen ist, dass man sie sich merken würde.

Fotografie

Dennoch gibt es Menschen, die sich daran stören, und zwar eine Gruppe, die es schon lange nicht mehr gibt und die auch nicht in Berlin, sondern in Paris zu Hause war: die Situationistische Internationale. Ihr Anführer hieß Guy Debord und hat nie im Leben gewählt, weil er für Räte war und gegen die Delegierung von Macht. Jetzt ist die SI wieder auferstanden und überklebt die Grünenplakate mit »Wählt Guy Debord«. Den Touristen fällt das nicht auf. Nicht mal den französischen. Den Einheimischen aber auch nicht.

Ich hingegen finde das so aufregend, dass ich nach Hause eile, um meine Digitalkamera zu holen, um dieses Dokument festzuhalten. Dann gehe ich weiter in die Admiralstraße, wo die PARTEI bei der kpd/rz ihr Wahlbüro aufgemacht hat, um zu fragen, ob ich schon mal meine Stimme abgeben kann. Aber das Büro hat zu. Es hängen nur ein paar Plakate am Schaufenster. Vier PAR­TEI-Abgeordnete, die in Berliner Hinterhofecken strullen.

Guy Debord hätte das gefallen. Vielleicht aber auch nicht. Man kann ihn leider nicht mehr fragen. Er ist seit 1994 tot.

Letzte Worte

In der Dieffenbachstraße sagt eine Frau zu ihrer Freundin, dass es »hier nicht so geleckt« sei wie in anderen angesagten Bezirken. Stimmt. Zum Beispiel die Post. Seit sie sich in kleinen Ramschläden versteckt, muss ich meine Pakete zum Kottbusser Damm schleppen. Dort ist die Post bei McPaper untergeschlüpft. Ich stelle mich hinter einer Schlange an, deren Schwanz bis zur Straße hinausreicht, wo ich Passanten im Weg stehe. Vor dem Schalter habe ich die Muße, stundenlang pinkfarbene »Miss-Modell«-Produkte wie Kämmchen, Beutelchen, Spieglein zu bestaunen, alles eben, was eine Miss Modell so braucht, um eine Miss Modell zu werden.

Auf dem Weg zum Arzt komme ich beim türkischen Süpermarket Bolu vorbei, wo es Helâl et Pazari gibt. Die Obstauslage nimmt die Hälfte des Bürgersteigs ein. An einem Baum direkt daneben steht ein etwa fünfjähriger Junge und pinkelt. In zweiter Reihe parkt eine fette schwarze und glänzende Mercedes-Limousine. Die Beifahrertür steht offen. Hinter dem Steuer spricht ein dicker Türke auf Türkisch ins Handy. Auf der Rückbank sitzt eine Frau, die in einem Pelzmantel mit hochgestelltem Pelzkragen steckt. Der Junge zieht den Reißverschluss hoch und klettert auf den Beifahrersitz.

Beim Arzt sitze ich neben einem alten unrasierten Mann mit Gehhilfe. Sein Sohn bringt ihm Kaffee: »Hab ick von Kaiser’s jeholt. Die ham auch ne Bockwurst. Willste eene?« Der alte Mann will keine. Aber Kaffee schon. »Schmeckt jut, der Kaffee«, sagt er. »Ja«, sagt sein Sohn wieder, »is von Kaiser’s, aber kipp ihn nicht aus.« »Nene, mach dir mal keene Sorgen«, sagt der Alte. »Schmeckt echt jut, der Kaffee«, sind seine letzten Worte, dann kippt er um. Der Mann. Der Kaffee aber auch.

Nach Camus muss man sich diesen Mann als glücklich vorstellen. Er hat, glaube ich, in seinem Leben genug Felsbrocken vergeblich den Berg hochgerollt. Und der Kaffee hat ihm auch geschmeckt, obwohl das für Kaiser’s jetzt keine gute Werbung war.

Schönen Tag noch

Da geht man morgens trantütig zum Bäcker, um Mr. Fup ein Schokoladencroissant zu kaufen, auf das er zum Frühstück besteht, und schon muss man kurze Zeit später im Zeit-Magazin lesen, dass man irgendwen nicht gegrüßt hat.

Der Irgendwer heißt Harald Martenstein, dem im Zeit-Magazin