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Kapitel_1.tif

Die Herbstluft war dünn, es lag ein Hauch von Gletscherkälte darin. Joseph folgte dem steinigen Weg nach oben. Ich bin zweiundzwanzig, dachte er, in meinem Alter sollte ich auf einem Bein den Berg hochhüpfen. An einer verkrüppelten Tanne blieb er stehen und hielt sich die Seiten. Vor ihm standen einige breite Bauernhäuser mit tief herabhängendem Dach, umgeben von Ställen und Scheunen. Das Haus, das er suchte, sollte anders aussehen. „Eine Keusche“, hatten sie ihm in Stranach gesagt, und als er nicht verstand: „Ein kleines Holzhaus mit ein bisschen Acker drum herum, nicht genug zum Leben und nicht genug zum Sterben. Was suchen Sie denn beim alten Keuschler?“

Er habe Grüße auszurichten, hatte er gesagt. Eine Lüge.

Drei Kühe am Hang hoben die Köpfe. Ihre Halsglocken läuteten. Er stieg weiter hinauf.

Er wusste, er gehörte nicht hierher. Ein Musiker und Theologe, ein Dichter und Hilfspriester aus der Stadt, was hatte er in den Bergen verloren? Die Waden und die Oberschenkel brannten unangenehm, er würde morgen Muskelkater haben.

Diese Berge! Wie klein und unbedeutend war man als Mensch angesichts ihrer Größe, kaum mehr als ein Floh, der ihnen über den Körper kroch. Für gewöhnlich lebte man in seiner Straße in seiner Stadt und vergaß die Weltmeere, die Wälder und die gewaltigen Berge. Heute zwangen sie ihn, ihre Majestät zu respektieren, und spendeten zum Lohn kalte Bergluft voller Wachheit und Frische.

Ein Haus hinter der Wegbiegung. Dunkle, feuchte Holzwände, der Gemüsegarten von einem schiefen Zaun umgeben. An zwei Stellen waren die Pflöcke umgesunken, dort lehnte der Zaun am Gebüsch. Im Unterstand am Haus lagen Fichtenscheite bis unter das Dach gestapelt, der Bewohner rechnete offensichtlich mit einem langen Winter. Eine Ziege war auf der Wiese angebunden. Sie kam neugierig näher, bis der Strick sich spannte.

Das musste die Keusche sein. Aufregung schoss durch seine Glieder wie ein süßer Strom. Vielleicht beobachtete man ihn bereits durch das Fenster. Er ging zur Tür und klopfte. Seine Handflächen begannen zu schwitzen. Er wischte die Hände an der Hose ab und klopfte erneut.

Niemand öffnete. Beinahe war er erleichtert. Er wandte sich der Ziege zu. Im kreisrunden Bereich, den sie vom Pflock aus erreichen konnte, war das Gras kurz gefressen. Er kauerte sich nieder, rupfte lange Halme vom Wiesenrand und hielt sie ihr hin.

Gierig fasste sie mit den haarigen Lippen danach, zog das Gras mit der Zunge in ihr Maul und kaute es. Ihre gelben Augen musterten ihn streng. Mit einem trockenen Meckern forderte sie weiteres Gras.

„Wenn du sie stehlen willst“, sagte eine brüchige Stimme, „musst du sie schon vorher losbinden.“

Joseph stand auf und drehte sich um.

Ein groß gewachsener Greis stand da, das Gesicht zerfurcht wie die Rinde einer Jahrhunderteiche. Auf dem Rücken trug er eine Kiepe mit Holz.

„Ich will sie nicht stehlen“, sagte er. „Habe ihr nur etwas Gras gegeben.“

Der Alte setzte die Kiepe auf dem Boden ab. „Was willst du hier? Verkaufst du Bürsten oder Knöpfe? Ich brauche nichts. Deinen Plunder kannst du behalten.“

Hundertmal hatte er sich diese Begegnung vorgestellt, hatte sich überlegt, was er dem Alten sagen würde. Aber dass er für einen Bürstenkrämer gehalten werden könnte, war ihm nicht in den Sinn gekommen. „Ich bin kein Teilacher. Man hat mich als Mitarbeiter im Pfarrdienst hierher versetzt.“

„Der neue Hilfspriester! Hab davon gehört.“ Der Alte streckte sich, dass die Knochen knackten. „Kommen Sie in ein paar Jahren wieder. Ich habe noch nicht vor zu sterben.“

„Sind Sie Joseph Mohr?“

Der Alte hob misstrauisch eine Augenbraue. Dann nickte er.

Hitze ergoss sich in Josephs Bauchraum und jagte anschließend hinauf in den Kopf. Wegen Ihnen habe ich mich hierher versetzen lassen, wollte er sagen, nur damit ich heute hier stehe. Beide hatten sie wasserhelle Augen. Und die Form der Ohren war ähnlich. „Ich heiße genauso“, sagte er. „Joseph Mohr. Ich glaube, Sie sind mein Großvater. Ihr Sohn, Franz, war mein Vater.“

Schlagartig verfinsterte sich das Gesicht des Alten. „Hören Sie auf mit dem Unsinn.“ Er ließ die Kiepe stehen und wandte sich zur Tür. „Wenn Franz einen Sohn gehabt hätte, wüsste ich das. Ihre Hirngespinste können Sie an der Wirtshaustheke erzählen. Bei mir sind Sie damit falsch.“ Er machte sich am Schloss zu schaffen.

„Franz Mohr ist mein Vater“, sagte er, „Musketier im Dienst des Fürsterzbischofs von Salzburg und letztes Jahr gestorben.“

„Ich weiß, wann mein Sohn gestorben ist. Was wollen Sie? Mich beerben? Hier gibt es nichts zu holen.“ Er trat ins Haus und warf die Tür hinter sich zu. Staub rieselte aus den Holzfugen.

Joseph hörte, wie der Riegel von innen vorgeschoben wurde. Dass ihn der Großvater in die Arme schloss und freundlich als Familienmitglied willkommen hieß, konnte er nicht erwarten. Aber derart harsch zurückgewiesen zu werden, machte ihm zu schaffen. Er drehte sich um und sah auf die Gipfel der Großen Tauern. Die Felswände verschwammen vor seinen Augen. Er wischte die Tränen fort und wandte sich wieder zum Haus um. Er klopfte.

„Ja, was denn noch?“, ertönte es von drinnen. Der Riegel wurde fortgeschoben und die Tür öffnete sich um einen Spalt. „Franz hatte keine Kinder, und damit basta. Lassen Sie mich in Ruhe.“

„Ich bin unter Frauen aufgewachsen“, sagte er leise. „In Salzburg, in drei armseligen dunklen Kammern, zwanzig Stufen hoch von der Straße. Meine Mutter, meine Großmutter, meine Halbschwester und meine Base, vier Frauen – das war meine Familie. Aber sie war nur halb, immer nur halb. Ich habe meinen Vater vom ersten Tag meines Lebens an vermisst.“

Der Alte starrte ihn an.

„Die Mutter hat neben mir noch drei weitere Kinder, jedes von einem anderen Mann. Jedes Mal musste sie ihr Verbrechen in einem demütigenden Fornikationsprotokoll vor dem Stadtgericht bekennen und die Strafe für Hurerei bezahlen. Aber sie hat uns zur Welt gebracht und uns aufgezogen, dafür sitzt sie vom ersten Lichtstrahl an bis zur letzten Abendsonne am winzigen Fenster und näht. Wenn Sie mich fragen, ist Näherin der hässlichste Beruf auf dieser Erde. Sie hat die Lungenschwindsucht und näht doch weiter und weiter, zersticht sich die Finger und macht sich die Augen kaputt bei dem schwachen Licht. Als sie jung und gesund war, ist ihr der Musketier Franz Mohr begegnet. Aus dieser Begegnung bin ich entstanden.“

„So etwas hätte mein Sohn niemals getan“, sagte der Alte durch den Türspalt. „Ihre Mutter hat Ihnen irgendwas erzählt, damit Sie aufhören zu fragen. Franz war ein gestandener Kerl. Wenn er eine Frau geschwängert hätte, dann hätte er sie geheiratet.“

„Ich habe als kleiner Junge das Pfeifen gelernt und davon geträumt, es meinem Vater zu zeigen. Ich habe gelernt, einen Stein über das Wasser springen zu lassen, und die Anzahl der Sprünge gezählt und mir aufgeschrieben, wie viele es waren, um es eines Tages meinem Vater zu erzählen. Als mich der Domvikar unter seine Fittiche nahm und ich an das Akademische Gymnasium durfte, habe ich Latein gelernt für Vater. Ich habe Geige geübt, um eines Tages für Vater zu spielen. Ich wollte ausgerechnet dem Mann gefallen, der aus meinem Leben verschwunden war. Verstehen Sie das?“

Der Alte schwieg.

„Philosophie, Musik, Theologie – das habe ich alles für ihn studiert. Und dann, als ich endlich meinte, gut genug zu sein, um von ihm geliebt und akzeptiert zu werden, und mich mithilfe meiner Mutter auf die Suche nach ihm gemacht hatte, musste ich hören, dass er gerade gestorben war. Er ist gegangen, ohne mir Lebewohl zu sagen. Ohne mich auch nur einmal anzusehen, bloß anzusehen, und seinen Sohn zu nennen.“

Der Alte schluckte. Er kratzte sich am Hals und sah betreten zu Boden.

„Ich habe Fragen. Ihm konnte ich diese Fragen nie stellen. Sie sind der einzige Mann, der mein Fleisch und Blut ist. Wenn Sie mich jetzt wegschicken …“ Von ihm hatte sein Vater doch das Wegducken und Verschwinden gelernt. Was erwartete er? Es war bezeichnend für seine Familie.

„Was wollen Sie denn fragen?“ Die Stimme des Alten klang jetzt heiser.

Wortlos sahen sie sich an. Da öffnete der Alte die Tür und ließ ihn eintreten.