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Hans-Ulrich Regius

M a r t i n

Das enthüllende Buch

Wie der einzelne Schweizer den Reichtum der Finanzelite mitfinanzieren muss. Ein Insider deckt die unsichtbare Milliardenausbeute auf und zeigt, wie wir uns mit hohem Engagement und Zusammenhalt nachhaltig dagegen wehren können.

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Copyright: © 2016 Cameo Verlag GmbH
Christiane Lober, D – Halle (Saale)
Umschlag: Cameo Verlag GmbH
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-906287-27-0

Editorial

Es gibt Menschen, die glauben, alles zu wissen. Es gibt Menschen, die glauben, alles besser zu können. Und es gibt Menschen, die nicht aufgeben, nach besseren Lösungen zu suchen.

Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, dass die grosse Mehrheit der Staaten überfordert ist, die Aufgaben zum Wohle ihrer Bevölkerung wahrzunehmen. Sachlich betrachtet, ist dies nur teilweise eine Frage des politischen Systems. Vielmehr und offensichtlicher denn je geht es in erster Linie um die Wahrung der Interessen der verantwortlichen Menschen – egal ob Politiker, Wirtschaftsvertreter oder Bürger eines Landes. Es trifft zwar zu, dass es diese Interessenkonflikte schon immer gegeben hat und sie wohl auch in Zukunft immer wieder zu meistern sind. Entscheidend wird aber sein, ob dies ausgewogen und nachhaltig zugunsten der Bevölkerung erfolgt.

In der modernen Welt mit der globalen digitalen Kommunikation und der vernetzten Wirtschaft sind zusätzliche Herausforderungen, etwa neue Terrorformen, Kriege und zunehmende Migration, stetig gewachsen. Trotz dieser gefährlichen und dynamischen Entwicklung verfügen selbst die grossen und mächtigen Staaten bis heute über keine auch nur in Ansätzen erkennbare Strategie zur erfolgreichen Lösung. Sie reagieren wiederholt erst dann, wenn tragische Ereignisse in grossem Ausmasse schon eingetreten sind. Bedauerlicherweise lernen sie aber kaum aus diesen Erfahrungen und unterlassen es weiterhin fahrlässig, in die Ursachenbekämpfung zu investieren. Dies ist umso erstaunlicher, weil die heutige Führung in den meisten einflussreichen Staaten über so viele Mittel und Handlungsoptionen verfügt wie noch nie eine Generation zuvor. Warum hinterfragen wir diese Fehler der Verantwortlichen so wenig? Sind wir nicht mitverpflichtet, unseren Beitrag zu einer friedvollen und solidarischen Nutzung unserer Ressourcen und damit für eine Chancenangleichung unter den Kontinenten, Ländern und Bevölkerungsschichten zu leisten?

Inakzeptabel ist es auch, wenn die politischen und wirtschaftlichen Verantwortlichen die fatalen Handlungsdefizite oder gar das Ertragen von Problemen als Führungsqualität schönreden. Sie verhindern durch ihre Passivität oder durch ihren Widerstand, dass brachliegende Lösungen und Veränderungen realisiert werden und sich dadurch Schritt für Schritt unsere Gesellschaft nachhaltig weiterentwickeln kann. So türmen sich die Problemfelder wie einseitige Verteilung von Ernährung und Arbeit, mangelnde Perspektiven für eine Mehrheit der Weltbevölkerung, Ressourcenverschwendung, Umweltschädigung usw. immer höher auf. Viele Verantwortliche glauben immer noch, genügend Zeit zu haben und damit die Spielräume für ihre eigenen Interessen nutzen zu können. Und wenn es wirklich dann nötig werden sollte, also später – so glauben sie –, dann könnten sie immer noch handeln, und meinen damit wohl, die Problemlösungen mit ihrem Kapital kaufen zu können.

Unverständlicherweise zucken auch immer wieder belesene Historiker und selbst renommierte Wissenschaftler angesichts dieser offensichtlichen Fehlentwicklung und trotz der vorliegenden Lösungsoptionen nur fatalistisch mit den Schultern, statt sich für die notwendigen Veränderungen zu engagieren. Dieses Schweigen und die Passivität weiter Kreise sonst sehr angesehener und erfolgreicher Persönlichkeiten senden verhängnisvolle Signale der Resignation und des immer dominanteren Egoismus an die Bevölkerung. Viele Menschen ziehen aufgrund wiederkehrender Erfahrungen vermehrt die Schlussfolgerung, dass man ohnehin nichts gegen die globalen Wirtschaftsvertreter oder gegen die mächtige Finanzelite ausrichten könne. Die einen entscheiden dann, sich auch nur noch nach ihren Vorteilen zu orientieren, und fördern so den Egoismus mit, andere wiederum ziehen sich vollkommen auf ihre vermeintlich schützende Insel zurück.

Heute beobachten wir eine weitverbreitete Resignation, ein politisches Desinteresse und die gefährliche Schwächung der in jeder funktionierenden Zivilisation so unabdingbaren Solidarität. Das Misstrauen gegenüber dem politischen und wirtschaftlichen Establishment nimmt ständig zu und ist bereits stark ausgeprägt. Hand aufs Herz: Haben Sie sich im Alltag nicht auch schon ertappt, weggeschaut oder unkorrektes Tun stillschweigend hingenommen zu haben? »Warum soll ich mich einmischen oder mich für die Zukunft engagieren? Ich habe ja doch keinen Einfluss.« So oder ähnlich versuchen wir, unser schlechtes Gewissen zu beruhigen. Passivität ist aber keine Option für eine positive Zukunftsgestaltung. Das wissen wir alle.

Mit meinen Büchern versuche ich durch die Schilderung aktueller Ereignisse, mit kritischen Kommentaren und unbequemen Fragen aufzurütteln, hinzuschauen und auf brachliegende Lösungen hinzuweisen. Manchmal nehme ich die Zukunftsentwicklung voraus, weil sie mich interessiert und ich mich mitverantwortlich fühle. Inspiriert werde ich dabei immer wieder von Menschen, die vorbildlich Probleme anpacken und so entscheidende Entwicklungen erfolgreich beeinflussen. Schön, dass Sie sich auch kritisch mit unserer Gesellschaft auseinandersetzen, sich auf diese Lektüre einlassen und mithelfen, Lösungen zu suchen und Schritt für Schritt zu realisieren. Jede Stimme zählt.

 

Hans-Ulrich Regius

Martin holt die Realität ein

Mehr als sechs Monate waren vergangen, seit Tobias, Martin Gronos Bruder, unerwartet und aus bisher ungeklärten Gründen gestorben war. Es gab Zeiten, da dachte Martin, der als Arzt beruflich stark eingespannt war, wenig an seinen Bruder. An manchen Tagen jedoch war Tobias plötzlich sehr präsent – so auch an diesem Sonntagmorgen.

Martin kaufte sich am Kiosk die SonntagsZeitung. Darin wurde der Präsident der Nationalbank in grossen Lettern zum Schweizer des Jahres erkürt. Der darunter stehende Titel »Der Mann, der den Mut hatte, Milliarden zu vernichten« war dann für Martin, der sonst ein so gelassener und überlegter Mann war, der Auslöser für einen spontanen, derben emotionalen Ausruf. Irritiert las er weiter und vermutete vorerst, einen zynischen Text vor sich liegen zu haben. Aber tatsächlich wertete eine der renommiertesten Schweizer Sonntagszeitungen die Tätigkeit des Nationalbankpräsidenten als hervorragend, mutig und als beste Jahresleistung eines Wirtschaftsführers trotz der Milliardenverluste und der gravierenden Schäden, die seine Geldpolitik verursacht hatte. Martin, der die Begründung für diese Wahl zur Auszeichnung im Text suchte, fand groteskerweise nur die Wiederholung des Titels erklärt – dieser Mann habe Mut bewiesen, der globalen Schuldenwirtschaft und der damit verbundenen Geldmengenausweitung zu widerstehen und für die Schweiz eine eigenständige Geldpolitik zu fahren.

»So weit, so gut«, dachte Martin. Jetzt wurde jemand schon zum Mann des Jahres erkürt, wenn er anders war als die andern. Wieso wurden die Auswirkungen dieser Strategie der Notenbank in Bezug auf Vor- und Nachteile nicht erörtert? Warum wollte man die bereits eingetretenen Schäden nicht wahrhaben? Milliarden an Anlagevermögen der sozialen und privaten Altersvorsorge wurden vernichtet, die Sparer mussten auf Zinsen verzichten, die Margen der exportabhängigen Wirtschaft, im Detailhandel und im Tourismus sanken massiv, und viele Unternehmen arbeiteten bereits in der Verlustzone oder drohten, dorthin abzurutschen. Martin fragte sich besorgt, warum von den Medien nicht die Wahrheit über die Ursachen und die voraussichtlichen Folgen dieser Entwicklung berichtet wurde. Es war doch offensichtlich: Wegen des zu hohen Preisniveaus der Schweiz mussten immer mehr Anbieter ihre Preise senken, um gegen die internationale Konkurrenz bestehen zu können. Dass dies nicht möglich war, ohne ohne die Gestehungskosten anzupassen, war nachvollziehbar. Aber warum untersuchte kaum jemand, welche Konsequenzen die dynamisch steigende Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland mit sich brachte? Was bedeutete es für die Zukunft, wenn die Industrie-Arbeitsplätze mehrheitlich ins Ausland verlagert und Schritt für Schritt auch die Dienstleistungen im Ausland eingekauft wurden? Trieben die Schweizer ihr Kostenniveau nicht noch stärker in die Höhe, wenn sie immer mehr Menschen in staatsnahen Betrieben beschäftigten und sich immer stärker vom Ausland abhängig machten? Was wäre zu tun, wenn durch geldpolitische Massnahmen die Konkurrenzfähigkeit weiter und sogar existenziell beeinträchtigt werden würde? Warum wollte man einfach nicht wahrhaben, dass diese Entwicklung bereits voll im Gange war, obwohl man wöchentlich von schlechten Firmenergebnissen und massiven Arbeitsplatzverlusten erfuhr? Weshalb gelang es der Nationalbank, der Finanzelite und namhaften Volkswirtschaftsprofessoren trotz anderweitiger Realität, die Irrlehre, wonach ein dynamischer Strukturwandel zur Stärkung des Wohlstandes wichtig sei, weiterhin zu verbreiten und als übergeordnete Maxime der Wirtschafts- und Geldpolitik zu begründen? Wer übernahm die Verantwortung für die schmerzhaften Folgen für die Betroffenen? Wer sorgte dafür, dass die junge Generation Perspektiven hatte und die über 50-Jährigen weiterhin in den Arbeitsprozess integriert blieben?

Alle diese Fragen löste dieser Zeitungsartikel bei Martin aus. Er konnte einfach nicht verstehen, weshalb die Medien und die Politik die dynamisch wachsende Veränderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, hervorgerufen durch die Globalisierung der Märkte, und deren grosse Risiken für die Zukunft der Schweiz nicht wahrhaben wollten. Dieses Wegschauen und Verdrängen, obwohl massive negative Auswirkungen schon eingetreten waren, war für Martin unakzeptabel und unverantwortlich.

»Tobias hatte also doch recht«, seufzte Martin vor sich hin, sodass es seine Partnerin Nicole, die ihm gegenübersass und ebenfalls in der Sonntagspresse las, hörte.

»Was liest du gerade?«, fragte sie interessiert.

»Du wirst es nicht glauben: Der Präsident der Nationalbank wurde zum Schweizer des Jahres erkoren, und die Journalisten begründen das mit dem Mut unserer Nationalbank, eine im Vergleich zu den mächtigsten Zentralbanken der Welt gegenteilige Geldpolitik zu betreiben, auch wenn diese viele Milliarden vernichtet habe und der Ausgang und damit der Erfolg noch ungewiss sei! Das ist doch vollkommen grotesk und schizophren! Man ist sich also der Milliardenverluste und der weiteren bestehenden Risiken im Wesentlichen bewusst. Weil man sich offensichtlich nicht mit potenziellen Alternativen auseinandersetzen will respektive weitgehend unkritisch der Argumentation der Nationalbank folgt, zieht man sogar das voreilige und trügerische Fazit, durch die Geldpolitik der Nationalbank sei eine verlustreichere Entwicklung geschickt abgewendet worden, und belobigt diese Strategie als mutig und verdienstvoll. Tobias hatte also doch recht mit seiner Meinung über die oft nur noch kurzfristig ausgerichteten, marktschreierischen und populistischen Medienbeiträge.«

»Das ist wirklich erstaunlich und der offensichtliche Widerspruch zum Eigenbild der Medien«, entgegnete Nicole. »Ich habe soeben einen Leitartikel des neuen Chefredaktors dieser Zeitung gelesen – da verkündet er lauthals seine Strategie, wonach er mit seinem Journalistenteam den Mächtigen auf die Finger schauen will, um für das Korrektiv und damit für das Funktionieren der vierten Gewalt im Staat zu garantieren.«

»Ja, das ist wirklich sehr viel heisse Luft und zeigt deutlich, wie wenig selbstkritisch gerade diejenigen sind, die eine bedeutende Rolle in der Meinungsbildung der Öffentlichkeit ausüben«, kommentierte Martin.

»Hast du eigentlich nichts mehr vom Staatsanwalt oder von der Kartellbehörde zu Tobias’ Aufzeichnungen gehört?«, wollte Nicole von Martin wissen.

»Nein. Eine Vorprüfung habe ergeben, so teilten sie mir mit, dass keine offensichtlichen, strafbaren Handlungen vorlägen. Daher wurde die Angelegenheit ad acta gelegt. Damit musste ich rechnen; und wen interessiert Tobias’ Tod heute noch?«, bemerkte Martin betroffen.

»Ja, das ist die bittere Realität. Aber vielleicht würden die Medien Tobias’ fundierte Kritik an den Machenschaften der Finanzelite jetzt, da so vieles eingetroffen ist, wie er es in seinem unerwünschten Buch beschrieben hatte, aufgreifen. Tobias hatte ja immer wieder auf diese Mechanismen hingewiesen. Vorerst muss ein Schaden offensichtlich, das heisst unmittelbar, bevorstehen, unabwendbar oder gar schon eingetroffen sein – erst dann nehmen sich die Medien des Themas an. Ich gebe zu, heute sehe ich das auch so wie Tobias. Es bedarf des grossen Engagements von Persönlichkeiten, die sich getrauen, die Wahrheit aufzudecken, damit weiterer Schaden verhindert werden kann«, warf Nicole ein. Sie gab mit dieser Haltung erstmals zu erkennen, dass sie ihre Meinung geändert hatte. Noch im letzten Sommer war sie es gewesen, die Martin überzeugt hatte, die Angelegenheit Tobias doch ruhen zu lassen und zum Alltag zurückzukehren.

»Übrigens treffe ich diese Woche Daniel wieder einmal zu einem Lunch«, bemerkte Martin. »Bin gespannt, was er zur Entwicklung der Wirtschaft und den Auswirkungen der Geldpolitik meint.«

Martin schmunzelte. Er fühlte sich durch die Aussagen seiner Partnerin bestärkt, es musste gehandelt werden. Diese Einsicht und der Wille, seinen Beitrag zu leisten, waren in den letzten Wochen gereift. »Übrigens treffe ich diese Woche Daniel wieder einmal zu einem Lunch«, bemerkte er. »Bin gespannt, was er zur Entwicklung der Wirtschaft und den Auswirkungen der Geldpolitik meint.« Mehr wollte er Nicole zu diesem Zeitpunkt noch nicht verraten.

Daniel, ein versierter Ökonom, hatte Tobias, der sich intensiv für eine nachhaltige Wirtschafts- und Geldpolitik der Schweiz engagierte, in den letzten Jahren massgeblich geholfen, die Grundlagen der Mechanismen zwischen der Nationalbank, der Politik und der Finanzaufsicht aufzuzeichnen. Als Tobias plötzlich starb, lernte Martin anlässlich seiner Nachforschungen zur Todesursache Daniel kennen und schätzen. Nun wollten sie wieder einmal zusammensitzen und sich austauschen.

Sie trafen sich in einem gemütlichen und ruhigen Altstadt-Restaurant in Zürich. Martin wählte bewusst den Mittwochmittag, weil er jeweils an diesem Nachmittag keine Patienten zu empfangen pflegte, um sich auf die Operationen vom Donnerstag vorzubereiten und die unvermeidbare Administration zu erledigen. Sie gönnten sich zum Mittagslunch ein Glas Rotwein, um auf das soeben begonnene neue Jahr anzustossen.

»Was machst du zurzeit beruflich?«, fragte Martin Daniel.

»Ich begleite diverse kleine Projekte in Fachhochschulen. Aber eigentlich bin ich auf der Suche nach interessanten Aufgaben in der Finanz- oder Versicherungswirtschaft. Ich möchte mich gerne wieder in einem grösseren Projekt engagieren, womit ich mich identifizieren kann – so wie seinerzeit mit Tobias.«

»Ja, ich verstehe dich gut und immer besser«, quittierte Martin. »Die Geschichte mit Tobias holt mich auch immer wieder ein, zuletzt am Sonntag, als ich die SonntagsZeitung las und die Würdigung des Nationalbankpräsidenten zum Mann des Jahres zu verstehen versuchte.«

»Ja, das hat nicht nur dich gewundert«, entgegnete Daniel. »Die negativen Auswirkungen der Geldpolitik, wie wir sie vorausgesagt haben, treffen leider immer stärker ein, und groteskerweise entwickelt sich offenbar parallel dazu der Verdrängungsmechanismus bei den Verantwortlichen. Du musst nur einmal aufmerksam die Kommentare des grossen Bilanzverlustes der Nationalbank lesen und darauf achten, wie alles beschönigt wird und kaum jemand hinterfragt, was mit einer wirtschaftsfreundlichen und nachhaltigen Geldpolitik hätte erreicht werden können. Ich wundere mich immer wieder, weshalb nicht einmal die institutionellen Anleger wie Pensionskassen, die staatliche Altersvorsorge oder die betroffenen Wirtschaftsbereiche die massiven negativen Auswirkungen kritisieren und eine ausgewogenere und differenziertere Geldpolitik fordern. Die Wirtschaft selber steckt offenbar im Dilemma: Einerseits ist sie gerade in der jetzigen, schwierigen Zeit auf liberale Rahmenbedingungen angewiesen. Andererseits benötigt sie dringend die Einflussnahme des Bundes, damit die währungsbedingt stark eingeschränkte Konkurrenzfähigkeit wiederhergestellt werden kann. Nur bei gleich langen Spiessen kann sich die Wirtschaft auf Dauer im internationalen Markt behaupten und damit entscheidend zu unserem Wohlstand beitragen. Aber eigentlich wäre es gerade jetzt, da der durch die verfehlte Geldpolitik eingetretene immense Schaden immer offensichtlicher wird, Sache der Medien, kritisch und hartnäckig zu hinterfragen, die sich anbahnenden Szenarien aufzuzeigen und den Bundesrat und das Parlament aufzufordern, geeignete korrigierende Massnahmen zu ergreifen.«

»Kann das nicht daran liegen, dass die Medien bisher die Geldpolitik der Nationalbank und die vordergründigen Preisvorteile der Konsumenten zu sehr beschönigt haben und nicht gerne ihre Grundhaltung korrigieren?«, fragte Martin kritisch bei Daniel nach.

»Ja, schon, aber den Medien fällt es üblicherweise kaum schwer, ihre Meinung auch kurzfristig zu ändern. Für sie zählt oft nur das Kurzfristige, nämlich das Tagegeschäft und der News-Charakter.«

»Dann hätte ich vielleicht doch Tobias’ Aufzeichnungen den Medien zuspielen sollen. Vielleicht wären dann die Staatsanwaltschaft, die Kartellbehörde und die zuständigen Bundesräte von den Medien unter Druck gesetzt worden, und wir hätten die von Tobias so stark erwünschte und als notwendig erachtete Grundsatzdiskussion auslösen können«, bemerkte Martin.

»Ja, lieber Martin«, antwortete Daniel. »Ich habe mich schon gewundert, dass du im letzten Sommer nach deinen doch aufwendigen Recherchen die Sache hast ruhen lassen wollen. Aber wie so oft im Leben – Unbequemes und nicht Geklärtes holen dich immer wieder ein, und zwar so lange, bis du dich der Aufgabe stellst.«

»Diese Lebensphilosophie kannst du gleich für deine Reflexion berücksichtigen«, entgegnete Martin Daniel. »Du wolltest dich ja wegen der befürchteten Nachteile für deine berufliche Zukunft nicht länger in dieser Sache engagieren, und alleine fühlte ich mich überfordert mit der Aufgabe, Tobias’ Arbeit in irgendeiner Form fortzusetzen. Aber vielleicht siehst du es heute anders und bist bereit, mit mir ein Projekt zu realisieren?«

»Was meinst du damit konkret?«, wollte Daniel von Martin wissen.

»Ich fühle mich als Tobias’ Bruder verpflichtet, dafür zu sorgen, dass seine Erfahrungen und Erkenntnisse der Öffentlichkeit bekannt gegeben werden. Er wollte ja unbedingt, dass lösungsorientiert über die geeigneten Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, eine zielführende Geldpolitik unter Berücksichtigung der globalen Realitäten und über Erfolg versprechende Strategien zur erfolgreichen Zukunftsgestaltung unseres Landes diskutiert wird. Seine Arbeit sollte deshalb fortgesetzt werden. Das bedeutet für uns: Wir müssen eine Form suchen, die solch eine kritische und lösungsorientierte Diskussion, wie sie Tobias anstrebte, fördert und möglichst breit abstützt. Und in diesem Zusammenhang habe ich an dich gedacht!«

»Danke für dein Vertrauen, aber wie stellst du dir das vor?«, antwortete Daniel.

»Du kennst alle Grundlagen der Aufzeichnungen, die Tobias vorgenommen hat. Ihr führtet, wie du mir erzählt hast, unzählige Diskussionen über geeignete und risikoreiche Massnahmen. Zudem kannst du auf das Know-how deines Freundes Stefan als eines Bankers und ehemaligen Mitglieds der Direktion der Nationalbank zurückgreifen. Und du hast Zeit – im Gegensatz zu mir als vollbeschäftigtem Arzt.«

Daniel bat sich eine Bedenkfrist aus, und sie vereinbarten ein weiteres Treffen in einer Woche.

Martin begab sich am Nachmittag, wie er es mittwochs gewöhnt war, in sein Heimbüro. Hier konnte er ungestört arbeiten, sich mit den Krankengeschichten seiner Patienten befassen und sich auf die nächsten Operationen vorbereiten. An diesem Nachmittag jedoch war vieles anders. Das Gespräch mit Daniel hatte ihn aufgewühlt. Die Erinnerungen an Tobias, seinen Bruder, waren präsent. Er fragte sich kritisch, weshalb er einen Drang verspürte, dessen Arbeit so fortzusetzen, wie er es Daniel angekündigt hatte. Es wurde ihm immer klarer: Die Realitäten des Alltages hatten sich in den letzten Jahren verändert. Immer mehr Administration musste er für die verschiedensten Stellen des Gesundheitswesens leisten. Wertvolle Zeit, die er sonst für die Gespräche mit Patienten und qualitätssichernde Massnahmen einsetzte, fehlte zunehmend. Die Einführung des neuen Entschädigungssystems mit einer Fallpauschale für Spitalaufenthalte hatte den Medizinern viel Schreibarbeit beschert: Pro Patient musste ein vollständiges Datenerhebungsblatt zusätzlich zur Krankengeschichte geführt und zu vorgegebenen Terminen abgegeben werden. Eigentlich war es grotesk. Die Kosten stiegen und stiegen, weil ein immer grösserer Aufwand für unproduktive Prozesse betrieben werden musste, um gesetzliche Vorgaben zu erfüllen. Dem standen die erfreulichen Fortschritte im Bereich der Diagnosemethoden und Operationstechniken sowie Therapieverfahren und die Medikamenteninnovationen gegenüber. Martin verstand deshalb nicht, weshalb die offensichtlich falschen Verhaltensanreize im Gesundheitswesen nicht korrigiert wurden. Es wurde ihm wiederholt klar: In diesen Fragen ging es nicht darum, Effektivität und Effizienz zu fördern, sondern um die Vertretung politischer oder materieller Interessen. Änderungen waren nicht in Sicht, zu stark war die Lobby der Besitzstandswahrer und der Gesundheitsbehörden. Martin ertappte sich bei diesen analytischen Gedanken daran, dass er immer kritischer, ähnlich wie sein Bruder Tobias, hinterfragte: »Weshalb setzen sich die Kostenträger nicht stärker für die Interessen der Versicherten, ihrer Kunden ein? Weshalb vermögen selbst wir Ärzte, die eine hohe Akzeptanz und Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung geniessen, uns politisch nicht besser durchzusetzen? Weshalb wird nicht stärker in die Ausbildung von Ärzten und Therapeuten investiert, damit der Nutzen für die Patienten verbessert und die Wirtschaftlichkeit optimiert werden können? Ist es Bequemlichkeit, weil es den im Gesundheitswesen Tätigen mehrheitlich wirtschaftlich sehr gut geht und sie im Gegensatz zu den in der Privatwirtschaft Tätigen weder konjunkturellen Schwankungen noch einer nennenswerten Konkurrenz ausgesetzt sind?«

Diese und weitere Fragen wiederholten sich bei Martin immer stärker, ohne dass er Lösungen zur erfolgreichen Beeinflussung dieser kritischen Entwicklung hätte finden können. Er vermisste die teils sehr engagierten Grundsatzdiskussionen mit seinem Bruder Tobias – dessen Tod hatte ihm auch den Sparringspartner genommen.

Dora, die unbequeme Patientin

Wenige Tage nach dieser sonntäglichen Diskussion zwischen Martin und seiner Lebenspartnerin Nicole suchte Dora Huber Martin Grono in seiner medizinischen Sprechstunde auf. Martin hatte Dora Huber bisher noch nicht gekannt. Sie kam auf Empfehlung eines langjährigen Berufskollegen zu ihm. Dora Huber machte einen gepflegten Eindruck und konnte ihre Situation sehr gut beschreiben. Sie beklagte diffuse Schmerzen im Bewegungsapparat mehrheitlich im unteren Rückenbereich sowie über Schlaflosigkeit, die ihr immer mehr die Energie raube. In der routinemässigen Befragung der Patientin erfuhr Martin, Dora Huber befürchte, in absehbarer Zeit ihre Stelle zu verlieren.

»Welchem Beruf gehen Sie nach?«, fragte Martin Grono Frau Huber.

»Ich bin Programmiererin von Industriemaschinen. Unser Betrieb wurde vor einem halben Jahr von einer amerikanischen Firma übernommen und verlagert jetzt alle Produktionsprozesse ins Ausland. Es ist deshalb nur eine Frage der Zeit, bis auch wir die Kündigung erhalten. Dies kennen wir von anderen gleich gelagerten Firmenübernahmen. Zuerst wird viel versprochen, und einige Monate später gilt das alles nicht mehr.«

»Soviel ich weiss, sind Programmierer in der Industrie Mangelware – schauen Sie sich doch schon jetzt nach einer neuen Stelle um«, machte Martin seiner Patientin Mut.

Aus der weiteren Erfragung vernahm Martin, dass Dora Huber alleinerziehende Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern sei. Bei der nachfolgenden eingehenden medizinischen Untersuchung konnte Martin keine objektiven Befunde diagnostizieren. Er erklärte Dora Huber, dass er aufgrund seiner Untersuchungen keine Veränderungen der Wirbelsäule habe feststellen können und deshalb vermute, dass die Schmerzsymptome eine Reaktion auf ihre berufliche und private Stresssituation seien.

Dora Huber war enttäuscht. »Es kann doch nicht sein, dass Sie nichts feststellen, obwohl ich solche Schmerzen habe! Ich möchte, dass Sie eine Computertomografie durchführen.«

»Selbstverständlich werden wir weitere Abklärungen vornehmen, wenn wir weitere Anhaltspunkte haben, die das als sinnvoll begründen«, antwortete Martin ruhig auf diese Forderung. »Ich schlage ihnen deshalb vor, vorerst während mindestens einer Woche ein Beruhigungsmittel zu nehmen, damit Sie wieder zu Ruhe und Schlaf kommen. Sie können dann den Verlauf der Schmerzen gut beobachten und diese mir beim nächsten Besuch schildern. Sollten sich die Schmerzen aber verstärken, können Sie sich umgehend bei uns für weitergehende Untersuchungen melden.«

Mit diesem Vorgehen war Dora Huber einverstanden.

Bereits drei Tage später verlangte Dora Huber einen dringenden Untersuchungstermin bei Martin Grono. Die Praxisassistentin erfüllte den Patientenwunsch und bot ihr gleich am Folgetag einen Untersuchungstermin an.

»Die Schmerzen haben wesentlich zugenommen, Herr Doktor. Bitte klären Sie nun die Ursachen gründlich ab.«

Als Martin trotz gezielten Fragen weder einer Lokalisierung der Schmerzen noch mögliche pathologische Ursachen erkennen konnte, kam er dem Wunsch nach einer Computertomografie nach. Dieses aufwendige Diagnoseverfahren wurde sonst nur auf klare Indikationen hin eingesetzt. Da aber Martin nichts Objektives feststellen konnte, die Schmerzschilderungen und vor allem die zunehmende Intensität ihn aber beunruhigten, beschloss er, diese erweiterte Diagnostik durchzuführen. Er wollte sichergehen, nichts übersehen zu haben. Allerdings ergab auch dieses Verfahren keine Befunde. Martin war erleichtert und teilte dieses positive Ergebnis der Patientin mit.

Dora Huber war zu Martins Überraschung jedoch enttäuscht; »Das kann doch nicht sein! Ich habe starke akute Rückenschmerzen, und Sie können keine Besonderheiten an meiner Wirbelsäule und bei den Bandscheiben feststellen?«

»Nein, pathologische Ursachen können wir jetzt ausschliessen«, antwortete Martin, um die Patientin zu beruhigen und zuversichtlicher zu stimmen.

»Sie müssen mich aber jetzt an einen anderen Spezialisten überweisen, damit herausgefunden wird, woher meine Schmerzen kommen und was dagegen unternommen werden kann!«, insistierte Dora Huber.

Martin war über diese Reaktion konsterniert. Wieder einmal hatte er eine Patientin vor sich, die eigentlich froh sein müsste, dass keine schwerwiegende Erkrankung diagnostiziert wurde. Frau Huber musste also anderweitig stark belastet sein, anders konnte er sich die geschilderten Schmerzen nicht erklären. Martin kannte ähnliche Fragestellungen aus anderen Patientengeschichten. Oft gab es bei sogenannten »Schleudertraumata« – als Folgen von Auffahrunfällen – diffuse Schmerzen, die sich individuell ganz verschieden jeweils vom Kopf/Hals bis hinunter zum Becken, teilweise über eine sehr lange Zeit, bemerkbar machten und glaubhaft die betroffenen Patienten stark einschränkten, obwohl oft kein objektiver Befund diagnostiziert werden konnte. Auch sah er immer wieder Patienten, die starke chronische Schmerzen beklagten und bei denen sich leider erst viel später neurologische oder psychische Stresssituationen als Ursachen erwiesen. Aufgrund dieser Erfahrungen empfahl er Dora Huber, eine neurologische Abklärung vornehmen zu lassen. Dora Huber war zufrieden, dass sie an einen weiteren Spezialisten überwiesen wurde. Wie von ihr gewünscht, schrieb er sie vorerst für zwei Wochen arbeitsunfähig.

Nach gut einer Woche erhielt Martin einen Telefonanruf seines Kollegen aus der Neurologie. Er habe bei Dora Huber auch keine objektiven Befunde festgestellt, jedoch bei der Befragung einen sehr grossen Druck wegen drohenden Arbeitsplatzverlusts und der damit verbundenen sozialen Fragestellungen wahrgenommen. Er wollte wissen, ob diese Problematik in Martins Patientenbefragung auch bereits thematisiert worden sei. Martin informierte ihn über die von Dora Huber erhaltenen Auskünfte. Er sah sich in seiner Diagnose bestätigt – die diffusen Schmerzsymptome waren die körperliche Reaktion auf die Veränderungen am Arbeitsplatz aufgrund der kürzlich erfolgten Firmenübernahme und der damit verbundenen Zukunftsängste. Dora Huber war also in eine Stresssituation geraten, mit der sie sich nicht zurechtfand, sodass sie ihre körperlichen Reaktionen behandelt haben wollte.