Cover

Die magische Welt von Alzheimer

Widmung

Eine Mutter kann sich um zwölf Kinder kümmern, aber zwölf Kinder müssen alle Register ziehen, um sich um eine Mutter zu kümmern.

Darum widme ich dieses Buch meinen acht Brüdern und drei Schwestern sowie allen zwölf Partnern. In der Reihenfolge ihres Alters sind dies:

Henk und Miek

Jan und Ellie

Laurens und Mia

Nelly und Herman

Anja (meine Partnerin)

Paul und Gert

Wil und Henriette

Rieky und Jos

Fons und José

Marianne und Ton

Marcel und Debby

Guus und Colette

Inhalt

Vorwort

1 Informieren Sie sich über Demenz

2 Sprechen Sie über die Vergangenheit

3 Vermeiden Sie Ja-nein-doch-Diskussionen

4 Benutzen Sie den Spiegel im Gehirn

5 Es geht vor allem darum, wie man etwas sagt (Der Ton macht die Musik)

6 Hinter Wut verbergen sich oft andere Gefühle

7 Warum Geschichten stimmig sein müssen

8 Langsam ist manchmal am schnellsten

9 Reagieren Sie auf das Gefühl, nicht auf den Inhalt

10 Mit Humor geht alles leichter

11 Bitte keine Kritik

12 Überrasch mich nicht

13 Jeder möchte sich nützlich machen

14 Das Bedürfnis nach Liebe bleibt!

15 Wer tröstet mich?

16 Genießen Sie die Kreativität

17 Reize richtig dosieren

18 Ich bin berühmt

20 Musik als Fenster in die Vergangenheit

21 Ein Spatz als Haustier

22 In drei Schritten Kontakt aufnehmen

23 Hören Sie nie auf, zu reden

24 Setzen Sie zuerst die eigene Sauerstoffmaske auf

25 Leben Sie kurzsichtig

26 Verabschieden Sie sich von Schuldgefühlen

27 Was du verschenkst, ist dein

28 Nicht auf alle Fragen gibt es eine Antwort

29 Werden Sie zum Anwalt des Dementen

30 Ein immerwährendes Geschenk an alle Pflegenden: der gute Abschied

Wenn ich später selbst dement bin – ein persönliches Nachwort

Literatur

Theoretische Anmerkungen

Über den Autor

Vorwort

»Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?« Wenn ich anlässlich einer Neuveröffentlichung interviewt werde, ist dies die am häufigsten gestellte Frage. Oftmals ist es sogar die erste Frage. Ich möchte sie daher sogleich beantworten.

Vor einigen Jahren sagte jemand in der Pause eines Vortrags zu mir: »Ich habe vor Kurzem Ihr Buch Demenz und Alzheimer verstehen gekauft und gelesen. Und war davon so begeistert, dass ich es meinen zwei Brüdern und meiner Schwester geben wollte, aber alle sagten: ›Gibt es kein dünneres Buch?‹ Sie erklärten mir, dass sie keine Zeit und Geduld hätten, um ein 280 Seiten dickes Buch zu lesen. Ich denke, meine Geschwister sind da nicht die Einzigen. Können Sie nicht ein Buch schreiben, das nur halb so dick ist und das vor allem Tipps zum Umgang mit Alzheimerpatienten enthält?«

So hat alles angefangen. Ursprünglich wollte ich ein ganz dünnes Buch schreiben. Es sollte 25 Tipps enthalten, die ich in jeweils höchstens vierzig Zeilen erläutern wollte. Als ich diesen Plan umgesetzt hatte, stellte sich heraus, dass das Buch in der Tat dünn war, sich aber auch ziemlich langweilig las. Die Theorie und die Erläuterungen zu den Tipps waren nicht lebensnah und daher auch nicht so klar und einleuchtend, wie ich es mir vorgestellt hatte. Da kam mir mein bereits vor vielen Jahren verstorbener Vater zu Hilfe.

Als ich Psychologie studierte und meinem Vater einmal etwas erklären wollte, das ich gerade gelernt hatte, sagte er zu mir: »Erklär es mir noch einmal, und dieses Mal so, dass ich es verstehe. Du musst es auch jemandem erklären können, der wie ich nur neun Jahre die Schule besucht hat. Wenn du das nicht kannst, war das ganze Geld, das ich in deine Ausbildung gesteckt habe, verschwendet.« Damals wurde mir klar, dass ich meinem Vater Dinge am besten anhand von Beispielen oder Geschichten erläutern konnte.

Und so beschloss ich, seinen Rat auch beim Verfassen dieses Buchs zu beherzigen. Das Buch würde zwar umfangreicher werden, aber wenn sich dadurch das Lesevergnügen steigern ließe, wollte ich das gerne in Kauf nehmen. Ich wusste auch gleich, welche Beispiele und Geschichten ich verwenden wollte. Was ich damit meine, möchte ich kurz erklären.

Mehr als die Hälfte meines Lebens war ich in meiner direkten Umgebung mit Demenz konfrontiert. Der erste Betroffene war mein Opa, der Vater meiner Mutter. Obwohl er hundert Meter von uns entfernt bei seinem jüngsten Sohn wohnte, war er die letzten 15 Jahre seines eigenständigen Lebens tagsüber meistens bei uns. Ich muss ungefähr 15 gewesen sein, als sich bei ihm die ersten Anzeichen von Demenz zeigten. Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag, an dem er meinen Eltern erzählte, dass er in einem Pflegeheim untergebracht werden sollte. Sein jüngster Sohn, bei dem Opa wohnte, hatte ihm gesagt, dass er und seine Frau seine Pflege nicht mehr bewerkstelligen könnten und dass sie ihn deshalb in einem psychogeriatrischen Pflegeheim angemeldet hätten. Weinend flehte Opa meine Eltern an (»Ich gebe euch mein ganzes Geld«), ihn doch bitte im Lernschuppen hinter unserem Haus wohnen zu lassen. Manche Gemüsebauern oder Hühnerzüchter im Dorf hatten ihren Hühnerstall für ihre 16- bis 22-jährigen Kinder zur »Saufbude« umgebaut. Mein Vater hatte in einem Teil des großen, hölzernen Hühnerstalls ein provisorisches Lernzimmer eingerichtet. Meine Eltern konnten Opas inständiger Bitte nicht nachkommen, und sei es nur, weil es nachts zu kalt war im Hühnerstall. (Ich lernte damals, dass Familienangehörige von Demenzkranken immer mit Schuldgefühlen kämpfen müssen und dass ausgerechnet diejenigen, die am meisten tun und ihre Angehörigen am meisten lieben, am meisten unter der Krankheit leiden.)

Als mein Vater 58 Jahre alt war, erkrankte er an Parkinson. Einige Jahre später kam auch noch Demenz hinzu. Bis zu seinem 73. Lebensjahr hat er zu Hause gewohnt, und genau wie Opa hat er die letzten fünf Jahre seines Lebens in einem Pflegeheim verbracht. Meine Mutter, die versucht hatte, meinen Vater so lange wie möglich zu Hause zu pflegen, besuchte später ebenfalls die Tagesbetreuung des örtlichen Pflegeheims. Bei ihr zeigten sich mit 82 Jahren die ersten Anzeichen von Demenz.

Dies ist mein fünftes Buch über Demenz. Bis auf ein (harmloses) Beispiel habe ich es in früheren Büchern nicht gewagt, Erfahrungen aus meinem Privatleben zu verwenden. Ich schämte mich dafür. Dass ich mich hier nun doch traue, hängt mit einem Buch (Nu begrijp ik je – Jetzt verstehe ich dich) zusammen, das ich vor einigen Jahren geschrieben habe und das von Beziehungsstreitigkeiten sowie den verborgenen Erwartungen und Wünschen zwischen Männern und Frauen handelt. Da es mir damals unaufrichtig und feige erschien, mich bei diesem Buch selbst auszunehmen, verwende ich nun zum ersten Mal Beispiele aus meinem eigenen Leben. Da mir insbesondere Menschen aus meinem direkten Umfeld zusprachen, wage ich es nun doch, meine Schamgrenze zu überwinden.

Trotzdem habe ich lange gezögert, und zwar aufgrund eines Dilemmas, dem ich mich ausgesetzt sah: Sollte ich außer meinem Vater und meiner Mutter nur mich selbst erwähnen oder auch meine acht Brüder und drei Schwestern? Im ersten Fall würde ich meinen Geschwistern nicht gerecht werden: Meine Brüder tun und taten nicht weniger für meine Eltern als ich, meine Schwestern sogar viel mehr. Wenn ich jedoch meine Geschwister mit Vor- und Nachnamen nennen würde, könnten sie sich möglicherweise auch zurückgesetzt fühlen, weil sie sich in meinen Erzählungen nicht vollständig wiedererkennen würden. Letztendlich habe ich mich für die zweite Option entschieden. Nicht alle meine Geschwister habe ich das Buch vor der Veröffentlichung lesen lassen. (»Wenn man jeden alles lesen lässt und über die passende Formulierung mitentscheiden lässt, kann man kein Buch mehr schreiben«, las ich neulich in einem Buch, in dem einige bekannte Sachbuchautoren interviewt wurden.) Aber wenn ich bei bestimmten Passagen Zweifel daran hatte, ob ich nicht zu weit gegangen war, dann habe ich diese der betreffenden Person vorgelegt und ihr Einverständnis eingeholt.

Weil Sie meinen Brüdern und Schwestern an vielen Stellen in diesem Buch begegnen werden, möchte ich Ihnen die Familie, in der ich aufgewachsen bin, kurz vorstellen. Ich tue das nicht selbst, sondern möchte einen Freund zitieren, den Vorsitzenden des Gemeinderats meines Geburtsorts Hegelsom (eines kleinen Dorfs in der Nähe von Venlo, nahe der deutschen Grenze), der vor nicht allzu langer Zeit zu mir sagte: »Ich kenne keine Familie, in der die Kinder in jeder Hinsicht so verschieden sind. Zunächst einmal, was das Äußere betrifft: Vier haben dunkelblonde, vier hellblonde und vier rote Haare. Dann in Bezug auf den Charakter: Einige sind redselig, andere dagegen zurückhaltend. Und schließlich sind da noch die großen Unterschiede in Ausbildung und Beruf. Denk mal darüber nach: Vier deiner Brüder sind Bauarbeiter, drei haben einen akademischen Grad (zwei sind Juristen und du bist Psychologe), eine ist Vollzeithausfrau, einer ist Sozialarbeiter, ein anderer medizinisch-technischer Assistent, ein Dritter hochbegabter Techniker bei einem multinationalen Konzern und wieder andere sind Sekretärin und Verkäuferin. Ihr könntet kaum unterschiedlicher sein. Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass niemand geschieden ist und dass alle mindestens eine Tochter haben. Es ist schon eine Leistung, dass ihr trotz dieser Unterschiede bei der Pflege eurer Mutter alle an einem Strang zieht.«

Ich bin dankbar, dass ich acht Brüder und drei Schwestern habe. In dem monumentalen Roman Luitenant-kolonel de Maumort (2008) sagt die Hauptperson und das Alter Ego des französischen Schriftstellers Roger Martin du Gard (der 1937 den Nobelpreis für Literatur erhielt):

»Teil einer großen Familie zu sein, wie Blaise es war, schien mir ein beispielloser Segen zu sein, das größte Glück, das man bei der Geburt haben konnte, die wahre Form von Glück, ein unvergleichlicher Lebenstraum. Die Wärme einer kinderreichen Familie schien mir das Begehrenswerteste überhaupt.«

Ich füge hinzu: Es ist nicht nur ein Segen, in einer großen Familie aufwachsen zu dürfen, es ist auch ein Segen, Pflege und Sorgen mit so vielen teilen zu können, wenn Vater, Mutter oder beide Elternteile pflegebedürftig werden.

Einem Außenstehenden erscheint die Welt eines Demenzkranken oft fremd, geradezu magisch. Mit diesem Buch möchte ich verdeutlichen, dass das Verhalten eines Dementen, so anders oder schwierig es manchmal auch sein mag, eine Bedeutung hat und dass das Wissen um diese Bedeutung Ihnen den Umgang mit ihm erleichtern kann. Und ganz nebenbei werden Sie, so hoffe ich, auch sich selbst besser verstehen lernen. Einige Kapitel dieses Buchs enthalten eine Reihe von Tipps, die Ihnen helfen sollen, die Pflege besser durchzuhalten.

Aus Gründen der Lesbarkeit werde ich vom Dementen in der männlichen Form sprechen. Selbstverständlich lässt sich das »er« durch »sie« ersetzen.

Vor fünf Jahren ist die erste Ausgabe dieses Buchs in den Niederlanden erschienen, ein Jahr später kam die deutsche Erstausgabe. Es schien einen Nerv zu treffen. Nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in Deutschland erschien es in mehreren Auflagen. Ich bin sehr glücklich über diesen zweifachen Erfolg. In keinem anderen meiner Bücher steckt so viel Herzblut.

Als mein niederländischer Verleger vor etwa einem Jahr fragte, ob ich das Buch nicht aktualisieren wolle, entgegnete ich: »Das möchte ich schon, aber das kann ich nicht. Der Inhalt ist zum Glück noch immer aktuell. Er ist noch nicht überholt, denn es liegen keine neuen Studien oder Erkenntnisse vor. Aber ich hätte eine andere Idee. Damals umfasste das Buch 25 Tipps, die das Leben mit Demenzkranken leichter und erfüllter machen. Es sollte ein dünnes Buch werden und 25 war eine schöne runde Zahl. Ich habe daher drei Themen weggelassen, über die ich eigentlich auch gerne geschrieben hätte. Einer neuen, etwas dickeren Ausgabe könnte ich diese Kapitel hinzufügen.

Und es gibt noch einen anderen Grund. Zur Veranschaulichung der Tipps in diesem Buch habe ich zusätzlich zu den Erlebnissen mit meinem Vater meine Erfahrungen mit der Demenz meiner Mutter genutzt. Sie ist vor zwei Jahren verstorben. In einer neuen Ausgabe möchte ich ihrer letzten Lebensphase ein Kapitel widmen. Und zu guter Letzt möchte ich auch ein Kapitel über das Abschiednehmen schreiben.«

Ich bin dem Verleger dankbar, dass er sofort meiner Meinung war.

Ich hoffe, dass Sie es nach der Lektüre auch sein werden.

Huub Buijssen,

Tilburg, im September 2016

1 Informieren Sie sich über Demenz

Meine Geschwister gingen sehr unterschiedlich mit meiner Mutter und meinem Vater um. Solche Unterschiede hängen zum einen mit dem Temperament und der Persönlichkeit des Einzelnen zusammen. Je ruhiger und gelassener jemand von Natur aus ist, desto reibungsloser gestaltet sich der Umgang mit einer dementen Person. Zum anderen spielt es auch eine Rolle, inwieweit der Einzelne die Demenz akzeptieren kann. Und wichtiger noch ist, ob und wann man die Krankheit erkennt. In Bezug auf Letzteres gab es bei uns große Unterschiede. Manche erkannten schon sieben Jahre vorher, dass Mutter geistig abbaute, andere erst drei, vier oder fünf Jahre später. Dieser Unterschied hing auch maßgeblich damit zusammen, wie viel der Einzelne über Demenz wusste. Dabei war es unerheblich, ob sie dieses Wissen durch die Lektüre von Büchern erworben oder es sich im Umgang mit Mutter (und zuvor Vater) selbst angeeignet hatten. Wissen ist Macht. Diese Redewendung trifft auch bei Demenz zu.

Wenn Sie viel über die Krankheit wissen, fühlen Sie sich nicht so leicht von Ihrem Angehörigen angegriffen. Seltsame Verhaltensweisen lassen sich so einfacher verstehen und akzeptieren. Aus »Das macht er mit Absicht« wird dann oft: »Er kann nichts dafür. Da spricht Herr Alzheimer.« Denken Sie zum Beispiel an die Hinterlist Ihres dementen Angehörigen oder an seine Passivität und Antriebslosigkeit.

Das Wissen über die Krankheit und deren Folgen kann Ihre persönliche Belastbarkeit enorm erhöhen. Schon so manch pflegender Angehöriger hat erleichtert gesagt: »Hätte ich das alles nur früher gewusst, das hätte mir das Leben ganz schön erleichtert.« Ob Sie einmal dieses Bedauern empfinden werden, haben Sie selbst in der Hand. Nicht nur von Ihrem Hausarzt oder Spezialisten können Sie viel erfahren, Sie können außerdem Bücher und Broschüren lesen oder bei Selbsthilfegruppen wie der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e. V. oder einer regionalen Gruppe in Ihrer Nähe Informationen einholen. Und dann gibt es natürlich noch das Internet, das in der Tat einen beispiellosen Informationsschatz bietet.

Ich hatte im Lauf der Jahre das Glück, zahlreiche Vorträge zum Thema Demenz und/oder Alzheimer halten zu dürfen. Immer wieder – manchmal sogar Jahre später – berichten mir Zuhörer, dass meine Erläuterungen über zwei sogenannte »Demenzgesetze« für sie sehr hilfreich waren. Dabei handelt es sich um zwei Gesetze, die ich mir in einer fernen Vergangenheit (1980, um genau zu sein) ausgedacht habe. Damals sollte ich eine Schulung für Krankenpfleger halten. Vor der Schulung hatte ich mich gefragt, wie ich Demenz erklären sollte, ohne schwierige Begriffe zu verwenden und ohne sie durch eine zu harte Darstellung zu entmutigen. Ich bin davon überzeugt, dass diese beiden Gesetze auch für Sie nützlich sein werden, daher möchte ich sie an dieser Stelle näher erläutern.

Die zwei Gesetze verdeutlichen die Logik, die sich hinter dem Verhalten Ihres dementen Angehörigen verbirgt. Sie bieten Ihnen außerdem einen Orientierungspunkt im Alltag, denn die meisten Umgangstipps lassen sich von diesen beiden Gesetzen ableiten.

Das erste Demenzgesetz besagt, dass sich Ihr dementer Angehöriger Informationen nicht länger als dreißig Sekunden merken kann. Er kann Informationen, die im Kurzzeitgedächtnis des Gehirns ankommen, nicht mehr in das Langzeitgedächtnis übertragen. Man kann das Gedächtnis in diesem Fall mit einem großen Bilderbuch vergleichen, in dem plötzlich Tinte benutzt wird, die nach dreißig Sekunden verblasst, wodurch das Bild nicht mehr zu erkennen ist. Ich verwende in diesem Vergleich bewusst das Wort »Bilderbuch«, denn das Gedächtnis speichert keine Wörter, sondern Bilder. (Wir haben also alle ein »fotografisches« Gedächtnis.)

Zu diesem ersten Demenzgesetz gibt es lediglich zwei Ausnahmen. Die erste Ausnahme besteht darin, dass sich Informationen, die für den Betroffenen eine emotionale Bedeutung haben, manchmal doch noch einprägen. Als vor fünfundzwanzig Jahren unser Hausarzt bei einem Hausbesuch einmal das Wort »Pflegeheim« erwähnte, sprach mein Vater monatelang von nichts anderem. Er konnte sich eigentlich nichts mehr merken, aber dieses Wort hatte er behalten. Die zweite Ausnahme zum ersten Demenzgesetz besteht darin, dass sich auch Informationen einprägen, die sehr oft wiederholt werden. Im letzten Jahr, in dem mein Vater noch zu Hause lebte, besuchte er fünfmal die Woche die Tagesbetreuung. Nach ein paar Wochen wusste er, dass er morgens um halb zehn mit dem Kleinbus abgeholt werden würde. Und meine Mutter, die dreimal die Woche die Tagesbetreuung besuchte, fragte mich am Sonntagmorgen regelmäßig: »Werde ich nachher abgeholt?«

Das erste Demenzgesetz erklärt unter anderem, warum demente Menschen immer die gleichen Geschichten erzählen, ständig Dinge verlegen, Verabredungen vergessen und nichts Neues mehr lernen können. Es erklärt darüber hinaus auch viele schwierige Verhaltensweisen. Demente Menschen spüren jeden Tag unzählige Male, dass sie ihr Leben nicht mehr im Griff haben, und das führt zu Frustration. Abhängig vom Charakter eines Menschen wird der eine aggressiv, der andere depressiv, wieder ein anderer misstrauisch und ein Vierter rastlos.

Wollte man das erste Demenzgesetz anhand eines Beispiels erklären, könnte man sagen, dass die Aufnahmetaste der Videokamera im Gehirn kaputtgeht. Die Wiedergabetaste hingegen funktioniert noch. Alle Bilder, die vor der Demenz aufgezeichnet wurden, sind im Gedächtnis gespeichert und können abgerufen werden. Um den Vergleich zu benutzen, mit dem ich diesen Abschnitt eingeleitet habe: Alle Bilder, die vor dem Demenzprozess im Bilderbuch des Gedächtnisses abgelegt wurden, sind noch gut erkennbar, weil sie mit »dauerhafter« Tinte gemalt wurden.

Wenn die Demenz weiter voranschreitet, tritt das zweite Demenzgesetz in Kraft. Dieses besagt, dass auch zu einem früheren Zeitpunkt gespeicherte Informationen aus dem Gedächtnis verschwinden. Dieses Löschen passiert auf eine besondere Art und Weise. Zunächst wird die jüngste Vergangenheit ausradiert, danach die weiter zurückliegende. Das Gedächtnis wird sozusagen von hinten nach vorne aufgerollt. So verlieren demente Menschen Fähigkeiten, die sie in den letzten Jahren erlernt haben, zum Beispiel den Umgang mit einem Mobiltelefon oder die Bedienung der Mikrowelle; die Speicherplatte, auf der diese Fähigkeiten im letzten Jahrzehnt in ihrem Gehirn gespeichert wurden, ist kaputt. Später vergessen sie, dass sie in Rente gegangen sind, kennen ihr Haus nicht mehr, erkennen ihren Partner und ihre Kinder nicht mehr wieder usw. Auf diese Weise nähern sie sich immer weiter ihrer Kindheit.

Wie gesagt lassen sich aus diesen beiden Demenzgesetzen wichtige Umgangsregeln ableiten. Aus dem ersten Gesetz ergibt sich beispielsweise, dass es nicht sehr sinnvoll ist, Ihrem dementen Angehörigen Fragen zu stellen über heute Morgen, gestern oder vorgestern. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er dann passen muss und versagt. Dasselbe gilt für Fragen zu morgen oder übermorgen. Ihr Angehöriger ist nicht mehr in der Lage, sich Verabredungen oder Pläne zu merken. Aber Gespräche über das Hier und Jetzt, zum Beispiel über die Katze, die gerade hereingeschlichen kommt, sind sehr wohl möglich.

Das nächste Kapitel widmet sich vollständig einer Umgangsregel, die sich aus dem zweiten Demenzgesetz ableitet.

2 Sprechen Sie über die Vergangenheit

Wenn ich meine Mutter fragte, wie sie meinen Vater kennengelernt hatte, erzählte sie Folgendes:

»Ich war zwanzig, als ich deinem Vater zum ersten Mal begegnete. Ich hängte draußen die Wäsche auf, als er mit Pferd und Wagen vorbeifuhr, mir zuwinkte und mich anlachte. Er hat mir sofort gefallen. An diesem Tag wurde er auch unser Nachbar, denn seine Eltern hatten keine hundert Meter vom Bauernhof meiner Eltern entfernt ein Haus gekauft. Jan – ich erfuhr später, dass er so hieß – zog also mit seinen Eltern keinen Steinwurf entfernt von uns ein. Bert, einer meiner vier Brüder, freundete sich schon bald mit Jan an. Wenn sie samstags tanzen gingen, kam Jan nie ins Haus, sondern wartete mit noch zwei anderen Freunden draußen bei der kleinen Marienkapelle auf der anderen Straßenseite. Eines Abends, während der Kirchweih, begegneten wir einander im Tanzsaal und Jan forderte mich zum Tanz auf. Ach, tanzen konnte man es eigentlich nicht nennen, denn zu jener Zeit nahm niemand Tanzstunden. Man schlurfte ein bisschen ungeschickt über die Tanzfläche. Aber das schmälerte die Aufregung und das Vergnügen nicht im Geringsten.

Ein paar Monate nach diesem ersten Tanz kam dein Vater dann auch regelmäßig zu uns ins Haus. Er kam nicht mehr wegen meines Bruders, sondern wegen mir. Wir waren ein Paar geworden. Ein Freund von Jan war eifersüchtig. Er hat sich sogar noch bis zu seinem Tod vor drei Jahren für mich interessiert.

Meine Mutter war nicht sonderlich begeistert von unserer Beziehung. Ich war ihre älteste Tochter und seit meinem sechsten Lebensjahr ihre rechte Hand. Sie wollte mich nicht verlieren. Gegen den Willen meiner Mutter habe ich die Beziehung zu deinem Vater durchgesetzt. Das war damals nicht einfach. Meine beste Freundin hatte sich drei Jahre zuvor in einen Jungen verliebt, der ihren Eltern aber nicht gut genug war. Er hatte bei ihnen Hausverbot. Meine Freundin ist damals vor unserem Haus ins Wasser gelaufen. Ich habe es gesehen und sofort ihre Eltern gerufen. Aber sie kamen zu spät, sie war schon ertrunken. Zwanzig war sie da. Ich habe mich jedoch nicht zurückhalten lassen. Dein Vater hatte ganz viel Humor und wunderschöne blaue Augen. Diese Augen waren stärker als die Worte meiner Mutter. Ja, ohne diese blauen Augen würde es dich heute nicht geben.«

Aus dem zweiten Demenzgesetz ergibt sich, dass Sie mit Ihrem dementen Angehörigen auch gut über die Zeit vor dem Einsetzen der Demenz sprechen können. Über ihre Jugend und Kindheit können Demenzkranke noch sehr lange sprechen. Und das kann unglaublich spannend sein.