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Deutsche Erstausgabe (ePub) November 2016

 

© 2016 by Nora Wolff

 

Verlagsrechte © 2016 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Fürstenfeldbruck

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

 

ISBN ePub: 978-3-95823-614-1

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Klappentext:

 

Als Felix' Partner Karsten nach sechs Jahren auf die Idee kommt, ihre bis dato monogame Beziehung in eine offene zu verwandeln, bricht für Felix eine Welt zusammen. Notgedrungen stimmt er dem Vorschlag zu, um Karsten nicht zu verlieren und in der Hoffnung, dass Eifersucht seinen Freund kuriert, wenn auch Felix mit anderen Männern Sex hat. Doch damit nicht genug, denn sein erstes Sex-Date Peer entpuppt sich nicht nur als absoluter Volltreffer, sondern weckt in Felix etwas, das so nicht geplant war: Gefühle, die weit über ihre körperliche Anziehung hinausgehen...


 

Kapitel 1

 

 

»Offene Beziehung?!« Silvi stellt ihr Glas so hart auf dem Tisch ab, dass der Rotwein darin gefährlich nah an den Rand schwappt.

»Ja.«

»Aber … wieso? Ihr zwei seid jetzt wie lange zusammen? Ich dachte, ihr seid inzwischen in der Phase, in der man drüber nachdenkt, sich eine Eigentumswohnung zu kaufen.«

Ich schnaube. »In München? Wohl kaum.«

Sie rollt die Augen. »Bildlich gesprochen. Weil das ja irgendwie der nächste Schritt ist. Schließlich kann keiner von euch schwanger werden.«

Irritiert sehe ich sie an. Liegt es an dem Wein oder ergeben ihre Worte tatsächlich keinen Sinn? Andererseits tun das meine Worte auch nicht. Eigentlich wollte ich ihr gar nichts von Karstens erschütterndem Vorschlag erzählen.

Ich beuge mich vor und greife nach der Weinflasche. Sie ist überraschend leicht und als ich mir nachschenke, ist das Glas nicht einmal halb gefüllt. Ich halte Silvi die Flasche entgegen.

»Hast du noch eine?«

Sie sieht mich mit schief gelegtem Kopf an. »Die Frage ist doch wohl eher: Willst du noch eine?«

Muss sie so ekelhaft vernünftig sein? Normalerweise übernehme ich diesen Part. Da will ich einmal über die Stränge schlagen und sie macht mir einen Strich durch die Rechnung. Andererseits ist Alkohol auch keine Lösung.

»Ich glaub, der ganze Alkohol der Welt würde nicht ausreichen, um diese Situation erträglich zu machen.«

»Womit wir wieder beim Thema wären: offene Beziehung?«

Ich seufze und vergrabe das Gesicht in einer Hand, während aus Silvis Tablet-PC die ersten Takte von Overload aus dem Dirty Dancing-Soundtrack erklingen.

Offene Beziehung. Bei diesen Worten möchte ich mich am liebsten verstecken. Das ist doch nichts anderes als eine Lizenz zum Fremdvögeln. Und das bedeutet, dass Karsten nicht mehr zufrieden mit mir ist. Nicht mehr befriedigt ist. So hat er es zwar nicht ausgedrückt, aber das steckt doch dahinter, oder?

»Ich hab noch nicht zugestimmt. Gott, Silvi... Wie kann ich bei so was überhaupt zustimmen?«

Plötzlich zieht sich meine Brust so heftig zusammen, dass ich kaum noch atmen kann. So geht es mir seit zwei Tagen. Hin- und hergerissen zwischen einem bodenlosen Loch der Verzweiflung und einer Welle des Zorns. Immer wenn der Zorn nachlässt, falle ich in das Loch, das darunter lauert.

»Dann mach's nicht.« Sie legt eine Hand auf mein Knie und wartet, bis ich sie ansehe. »Wenn du keine offene Beziehung willst, mach's nicht.«

»Er will aber eine.«

»Soweit ich weiß, müssen bei einer offenen Beziehung beide zustimmen, sonst nennt man es Fremdgehen.«

Ich zucke zusammen. Egal, wie ich es drehe und wende, für mich ist es immer Fremdgehen. Ob ich nun davon weiß oder nicht. Ob ich dem zustimme oder nicht. Ich will Karsten für mich. Für mich ganz allein. Ich kann nicht verstehen, dass er das nicht will. Oder wie er überhaupt auf die Idee mit der offenen Beziehung kommt. Vielleicht will er die nur, weil er mir schon längst fremdgeht und nur keine Lust hat, es länger zu verstecken.

Der Gedanke bereitet mir erst Übelkeit, ehe er die Welle des Zorns wieder hochpeitscht und mich aus dem Loch herauskatapultiert wie ein Geysir. Grimmig greife ich nach meinem Weinglas und stürze es auf ex hinunter.

»Vielleicht sollte ich mich einfach von ihm trennen«, sage ich grimmig, als ein dröhnendes Motorengeräusch, untermalt mit deutschem Rap, durch das offene Fenster hereinweht.

»Was?«

Silvi schießt so schnell von ihrem Stuhl hoch, dass ihr langer, blonder Pferdeschwanz wie eine Peitsche durch die Luft zischt. Ruppig packt sie das Fenster ihres französischen Balkons und knallt es zu. Sofort werden sowohl die Musik als auch das Motorengeräusch gedämpft, allerdings verschwindet auch die leichte Brise, die Silvis Wohnung zumindest ein wenig erträglich gemacht hat.

»Scheiß Proll«, knurrt sie und späht durch das Fenster nach unten in den Innenhof, in dem sich eine Reihe Garagen befindet, die zu ihrem Wohnkomplex gehört. »Park halt endlich ein. Mann!« Kopfschüttelnd sieht sie im schwachen Schein der Stehlampe wieder zu mir. »Hast du eben gesagt, du willst dich trennen?«

»Vielleicht sollte ich mich trennen. Wenn Karsten eh mit anderen schlafen will, macht's uns das beiden leichter.« Nur dass ich mich nicht trennen will. Ich liebe Karsten, verdammt.

»Nicht so schnell.« Sie kneift die Augen zusammen. »Wenn Karsten dich nicht mehr lieben würde, hätte er keine offene Beziehung vorgeschlagen, sondern sich gleich von dir getrennt.«

»Warum hat er es dann vorgeschlagen, wenn er mich liebt?«

Sie zuckt die Schultern. »Keine Ahnung. So gut kenne ich ihn nicht.«

Als der Scheißproll unten endlich seinen Wagen in die Garage gefahren hat, ersterben sowohl das Motorengeräusch als auch der Rap schlagartig. Silvi zieht das Fenster wieder auf und begrüßt die hereinströmende Luft mit einem kleinen Seufzen. Von der tagelangen Hitze ist ihre Wohnung im vierten Stock so aufgeheizt, dass sie auch jetzt um kurz vor halb zehn abends nur ein weit fallendes Top und Hotpants trägt. Letztere lässt ihre ohnehin schon langen Beine schier unendlich werden.

»Ich glaube, der Idiot macht sich einen Spaß draus, andere auf die Palme zu bringen«, schimpft Silvi, als sie sich zurück auf ihren Stuhl fallen lässt.

Irritiert hebe ich den Kopf. »Karsten?«

Sie deutet zum Fenster. »Der Kerl da unten. Für die letzte Woche kann ich dir ganz genau sagen, wann er weggefahren und wann er wiedergekommen ist. Und ob er eine albern kichernde Trine dabeihatte.«

»Toll«, sage ich wenig enthusiastisch und drehe mein leeres Weinglas auf dem Tisch zwischen den Fingern. Falls das ein Ablenkungsmanöver sein sollte, muss ich sie enttäuschen. Seit zwei Tagen kann ich an nichts anderes denken als daran, dass Karsten mit meiner Erlaubnis mit anderen Männern schlafen will. Ein wildfremder Kerl mit schlechtem Musikgeschmack und einer Vorliebe für laute Autos und kichernde Frauen wird daran erst recht nichts ändern.

»Okay, sorry.« Sie macht eine abwinkende Handbewegung. »Weswegen will er die offene Beziehung? Läuft's bei euch im Bett nicht mehr?«

Ein unerwartet heftiger Stich trifft mich mitten in die Brust. Getroffen zucke ich zusammen und wende den Blick ab. Wieder flaut die Wut ab und ich sehe den Boden des Lochs mit rasanter Geschwindigkeit auf mich zurasen. Silvi muss es auch gemerkt haben, weil sich eine beklemmende Stille zwischen uns ausbreitet.

Plötzlich halte ich es nicht mehr auf meinem Stuhl aus. Ich komme mir vor wie gebrandmarkt. Jedes Mal, wenn die Sprache darauf kommt, leuchtet das Brandzeichen nicht nur für jeden sichtbar auf, sondern schmerzt so sehr, als würde es mir wieder aufs Neue auf die Haut gesetzt.

Ich stehe auf, weil ich mich bewegen muss. Silvis Wohnung ist keine vierzig Quadratmeter groß und besteht aus nur einem Zimmer plus Küche und Bad. Nach einer Durchquerung fühle ich mich bereits wie ein Tiger im Käfig. Vom Tisch mit den zwei Stühlen am französischen Balkon sind es drei Schritte bis zum Sofa, fünf bis zum Bett und sechs bis zum Expedit.

Die meisten Fächer des IKEA-Regals sind mit Schubfächern ausgefüllt oder hinter Schranktüren verborgen. In einem Fach stehen sieben angestaubte Bücher wie vergessene Zinnsoldaten. Drei davon sind Sachbücher und befassen sich mit dem Thema Marketing. Eins ist ein Thriller von Karen Rose, den ich ihr Anfang des Jahres zum Geburtstag geschenkt habe. Zu dem Zeitpunkt kannte ich sie noch nicht so gut. Heute würde ich den Fehler nicht noch mal machen.

»Felix?«, höre ich Silvi sanft hinter mir.

Ich bleibe mit dem Rücken zu ihr am Regal stehen. »Er möchte gerne mal was anderes ausprobieren.« Ich schließe die Augen. »Was wohl heißt: Er möchte gerne mal jemand anderes ausprobieren«, sage ich bitter.

»Hat er das so gesagt?«

»Nein. Aber das meint er doch damit, oder nicht? Warum…« Zittrig hole ich Luft. »Warum kann er was anderes nicht mit mir ausprobieren?«

Es ist bescheuert, ihr diese Frage zu stellen, wenn nicht mal Karsten eine Antwort darauf gewusst hat. Was das Ganze noch schlimmer macht. Weil es mehr als deutlich sagt, dass er mit mir gar nichts mehr ausprobieren will. Er will andere Männer vögeln. Und ich bin sein verdammtes Sicherheitsnetz, falls er niemanden findet.

»Wie gesagt«, meint Silvi leise hinter mir, »so gut kenne ich ihn nicht, aber… Also, das geht absolut über alles, was ich jemals von deiner Beziehung wissen wollte, aber… oh Mann.« Sie stößt ein unbehagliches Seufzen aus. »Vielleicht will Karsten… Dinge im Bett machen, die du nicht machen willst? Hat… hat er dich schon mal nach irgendwas gefragt, was du abgelehnt hast?«

Ich schnaube, drehe mich um und bleibe mit dem Rücken am Regal gelehnt stehen. »Ich bin nicht prüde, auch wenn's dir schwerfällt, das zu glauben.«

»Das wollte ich damit doch gar nicht sagen. Aber es wäre eine Erklärung für die offene Beziehung, oder? Er liebt dich, weshalb er dich nicht verlassen möchte, aber beim Sex sucht er nach was anderem.«

Noch ein heftiger Stich in meiner Brust. Nach was anderem als… mir? Aber warum? Weil es ihm mit mir keinen Spaß mehr macht? Das hätte ich doch merken müssen. Manchmal zieht er sich zwar von mir zurück, aber bis vor zwei Tagen dachte ich, dass ich der sexuell abenteuerlustigere von uns beiden bin.

Wenn er was anders machen will, warum kann er dann nicht mit mir darüber reden? Und wenn er mit anderen Männern schlafen will, dann soll er es verdammt noch mal sagen und nicht unter dem Deckmantel einer offenen Beziehung verstecken.

Ich schüttle den Kopf, um die Gedanken loszuwerden, die sich seit einiger Zeit nur noch im Kreis drehen. Vielleicht dachte ich unterbewusst, Silvi könnte neuen Schwung in das Karussell bringen, aber darüber zu reden, macht es auch nicht besser. Im Gegenteil. Ich fühle mich wie am Pranger.

»Hast du noch Wein da?«, frage ich, während ich bereits auf die Tür zur Küche zugehe.

»Jetzt willst du doch noch eine Flasche aufmachen?«

»Ja.«

»Aber Karsten –«

»Mir egal«, schnappe ich, ehe ich an der Tür stehen bleibe und sie entschuldigend ansehe. »Sorry. Aber damit muss er rechnen, wenn er so einen beknackten Vorschlag macht, oder?«

Daraufhin sagt sie nichts mehr und ich verschwinde in ihre kleine, längliche Einbauküche. Auf den ersten Blick scheint es hier sogar für zwei Personen zu eng zu sein, aber an ihrem Geburtstag Anfang des Jahres haben wir den Härtetest gemacht. Zu Höchstzeiten haben sich hier sechs oder sieben Leute auf der Suche nach Alkohol getummelt.

Ich gehe vor dem Unterschrank, in dem sie den Alkohol aufbewahrt, in die Hocke und ziehe die Türen auf. Hochprozentiges, Wein, Bier, Prosecco, Sekt, sogar eine Flasche Champagner – wenn ihre Wohnung nicht so winzig wäre, könnte Silvi hier glatt eine Bar eröffnen. Oder dem Ganzen einfach den Stempel einer Insider-Szene-Bar aufdrücken, dann ist es egal, ob hier nur fünf Personen auf einmal reinpassen. Kein Wunder, warum Karsten nicht so begeistert von ihr ist wie ich.

Ich finde einen Rotwein und ziehe ihn vorsichtig aus dem aufgeschichteten Flaschenstapel heraus, wobei das Glas leise klirrt. Als ich mich wieder aufrichte, kann ich beinahe Karstens Hände auf meinen Hüften spüren, die mich eng an sich ziehen, während er sein Gesicht an meinem Nacken vergräbt.

»Lass uns nach Hause gehen. Ich will dich ficken.«

Seine Stimme hallt so real in meinem Kopf wider, dass ich mich tatsächlich kurz umdrehen muss, um mich davon zu überzeugen, dass er nicht doch hinter mir steht. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen. Das war damals auf Silvis Geburtstagsfeier. Der Grund, warum wir leider nicht mehr mit in die Bar oder den Club gehen konnten.

Heute würde er das wahrscheinlich lieber jemand anderem ins Ohr flüstern, während er seinen Nacken mit Lippen, Zähnen und Zunge bearbeitet.

Verdammt. Verdammt!

Ich reiße die Besteckschublade auf, in der Silvi auch einen Korkenzieher aufbewahrt. Unheimlich, wie gut ich mich mittlerweile in ihrer Küche auskenne. Vielleicht bin ich doch so oft hier, wie Karsten mir immer vorwirft.

Mit einem leisen Ploppen löst sich der Korken aus der Flasche und ich kehre mit ihr zu Silvi zurück. Sie hat die Musik am Tablet gewechselt. Jetzt läuft der Soundtrack von Save the last Dance. Auch okay.

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hat sie eine Kerze angezündet und auf den Tisch gestellt. Darum stehen seltsam gruppiert die leere Weinflasche und unsere beiden Weingläser.

Während meiner Abwesenheit hat Silvi sich natürlich mit ihrem Handy beschäftigt und spielt auch jetzt noch daran rum. Der Schein vom Display verleiht ihrem Gesicht einen ungesunden, bläulichen Schimmer. Als ich eintrete, sieht sie kurz auf.

»Mir ist gerade eingefallen, dass ich uns noch gar nicht eingecheckt habe.« Sie deutet auf das Arrangement auf dem Tisch. »Hab mir erlaubt, ein stimmungsvolles Foto mit anzuhängen. Man weiß ja nie, wer's liest.«

Zwischen den Zeilen ist die Botschaft eindeutig: Karsten, zum Beispiel.

»Du weißt schon, dass du süchtig bist, oder?« Kopfschüttelnd gieße ich erst ihr und dann mir Wein ein, ehe ich mich wieder auf meinen Stuhl fallen lasse.

»Das sagt der Richtige. Dein Handy hat auch geklingelt.«

Sie schaltet das Display aus und legt ihr Handy zur Seite. Aus schmalen Augen beobachtet sie mich, als ich nach meinem Handy greife; ein Samsung der älteren Generation, aber immerhin schon ein Smartphone. Mit Silvis iPhone kann ich hingegen nicht mithalten. Seit ich sie kenne, ist das schon ihr zweites Handy. Falls man im Marketing so viel besser verdient als in der Buchhaltung, sollte ich vielleicht über eine Umschulung nachdenken.

Ich drücke einen Knopf und lasse das Display aufleuchten. Unwillkürlich zucke ich zusammen, als ich das rote Nachrichtenfenster sehe, und werfe Silvi einen Blick zu. Hat sie das gesehen? Sie sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an. Natürlich hat sie.

»LoveLife? Im Ernst?« Sie klingt, als hätte sie gerade die billigsten Pornos, die je das Licht der Welt erblickt haben, in meiner DVD-Sammlung entdeckt.

Unter ihrem Blick rutsche ich auf meinem Stuhl herum. »Und?«, frage ich beinahe herausfordernd.

»Und? Wann zum Teufel hast du dich da angemeldet?«

Ich recke das Kinn ein wenig vor. »Vor zwei Tagen.«

Sie klatscht sich die flache Hand vor die Stirn und seufzt. »Felix, bei einer offenen Beziehung geht es nicht darum, sich vorsätzlich andere Sexpartner zu suchen. Habt ihr überhaupt irgendwelche Regeln festgelegt?«

»Hast du nicht zugehört? Ich hab noch gar nicht zugestimmt.«

»Und trotzdem ist das Erste, was du nach Karstens Vorschlag machst, dich bei einer Flirt-App anzumelden?«

»Als Vorbereitung«, behaupte ich und verschränke die Arme vor der Brust. Und weil ich so verletzt war, dass ich kurzzeitig nicht geradeaus denken konnte. »Außerdem, wo soll jemand wie ich sonst Männer kennenlernen?«

»Du sollst doch niemanden kennenlernen. Bei einer offenen Beziehung geht es um Sex, und zwar nur um Sex. Wenn es dich packt, sollst du dich frei fühlen, dem Verlangen nachzugeben, ohne deinem Partner gegenüber ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.« Sie klingt ein bisschen wie eine Sexualtherapeutin. Unwillkürlich rutsche ich auf meinem Stuhl tiefer. »Wenn du anfängst, Männer kennenzulernen oder zu suchen, hat das nichts mehr mit der eigentlichen Sache zu tun.«

»Und was genau macht dich da so zur Expertin?«

»Ich bin älter als du und hab mehr Erfahrung«, sagt sie schlicht und trinkt einen großen Schluck Wein. Ihr Handy summt, aber sie wirft nur einen kurzen Blick drauf. Wahrscheinlich hat irgendjemand ihr Foto gelikt oder kommentiert.

Schnaubend beuge ich mich über den Tisch. »Dann verrate mir doch mal, ältere und weisere Freundin: Wo soll ich jemanden für Sex finden, wenn Karsten plötzlich anfängt, wildfremde Kerle zu vögeln?«

»Auf der Straße? In einer Bar? Einem Club? In einem verdammten Café? Mann, Felix, überall, aber bestimmt nicht in einer Flirt-App!«

»Und was macht das für einen Unterschied? Ob ich jemanden in einer Bar oder sonst wo oder über eine App anspreche? Ich will ja niemanden kennenlernen. Ich will nur vorbereitet sein.«

»Worauf? Karsten mit Rachesex wehzutun?«

»Er tut mir mit seinem beschissenen Vorschlag weh.« Ich werfe mich auf meinem Stuhl zurück, ignoriere Silvis Kopfschütteln und greife nach meinem Handy, um die Nachricht von LoveLife zu lesen.

»Ich prophezeie jetzt schon, dass das nicht funktioniert«, sagt Silvi düster.

Ich tue weiterhin, als hätte ich sie nicht gehört, und lese die Nachricht.

 

Dieter: Stehst du auf Daddys?

 

Äh, was? Inzwischen bin ich einige seltsame Nachrichten gewöhnt, aber das hat mich noch niemand gefragt. Ansonsten ist neben obszönen Angeboten und Fragen nach der einen oder anderen Sexpraktik schon alles dabei gewesen. So viel also zum Thema Kennenlernen.

Ich klicke sein Profil an. Kein Foto. Natürlich. Andererseits sollte mich das nicht wundern, weil ich selbst keins hochgeladen habe. Selbstverständlich nicht! Allerdings führt das dazu, dass ich ebenfalls entweder nur von Nutzern ohne Foto angeschrieben werde oder von den weniger attraktiven Exemplaren der Spezies Mensch. Und mit den vulgärsten Anmachen. Ob das mit Foto anders wäre? Vielleicht trauen sich die Idioten dann nicht. Aber ich würde eher im Lederoutfit zu Frau Bimsel und Dr. Schuhknecht ins Büro marschieren, als bei irgend so einer Flirt-App ein Foto von mir hochzuladen – auch wenn ich mir das Outfit dafür erst kaufen müsste.

Ich zucke zusammen, als ich Dieters Alter sehe, das vermutlich nicht geschönt ist: siebenundfünfzig. Wow. Damit könnte er locker mein Daddy sein.

»Der Traumprinz nicht dabei?«, will Silvi spöttisch wissen. »Wie viele Angebote kriegst du eigentlich so am Tag?«

»Weniger, als du denkst. Und nur Schwachsinn. Mein Profil ist auch ziemlich nichtssagend, weil ich ja niemanden kennenlernen will.«

Sie legt den Kopf schief und wirft mir einen giftigen Blick zu. Dann streckt sie die Hand aus. »Lass mich mal sehen.«

Ich drücke das Handy an meine Brust, als wäre es der heilige Gral. »Nein.«

Sie verdreht die Augen. »Oh Mann, Felix, ich will dir doch nur helfen.« Sie rutscht mit ihrem Stuhl um die Tischkante herum, bis sie neben mir sitzt. Ihr Körper strahlt eine Hitze aus, dass ich zu schwitzen anfange. »Los, zeig her.«

»Nein. Und wobei willst du mir helfen? Wenn du das Profil löschst, kann ich mir später ein neues erstellen.«

»Dabei, dass du deinen süßen Arsch nicht in irgendeine Scheiße setzt.« Sie macht eine ungeduldige Handbewegung. »Und jetzt gib her.«

»Mein Arsch ist nicht süß.«

»Sondern knackig? Oder was ist eine von Homos bevorzugte Bezeichnung?«

Ich schüttle den Kopf, um das Thema abzuweisen. »Okay. Ich werd das Handy zwischen uns auf den Tisch legen. Wir gucken beide aufs Display, okay? Du schnappst es nicht weg.«

Sie grinst. »Jetzt machst du mich neugierig. Was hast du denn da drauf? Nacktfotos? Von dir? Von Karsten? Von Angela Merkel?«

»Silvi.«

»Schon gut.« Sie hebt die Hände. »Ich fass es nicht an und schau nur aufs Display.«

Ich zögere noch einen Moment, in dem ich sie eindringlich mustere und zu durchschauen versuche, falls das ein Trick ist. Dann lege ich vorsichtig das Handy mit Dieters Profil zwischen uns.

»Siebenundfünfzig?«, ruft Silvi wie auf Kommando aus und deutet anklagend auf mein Handy. »Genau das meine ich damit! Du triffst dich nicht mit jemandem, der vierunddreißig Jahre älter ist als du!«

»Das hab ich doch auch gar nicht vor. Der Typ hat mir eben eine Nachricht geschrieben. Deshalb war ich auf seinem Profil.«

»Auf die Nachricht antwortest du nicht.«

Ich seufze. Ohne darauf einzugehen, rufe ich mein Profil auf und drehe ihr das Handy ein Stück zu. »Das ist mein Profil.«

Sie runzelt die Stirn. »Das ist das Profil von Max. Wer zum Teufel ist Max?«

Mein Gesicht wird heiß und ich muss mich räuspern. »Ich.«

»Du? Und wie weiter? Max Mustermann?«

Ich will ihr nicht verraten, dass genau das mein Gedankengang gewesen ist. Wenn ich ein kreativer Kopf wäre, wäre ich wie sie im Marketing gelandet. »Glaubst du, ich melde mich da mit meinem richtigen Namen an?«

»Offensichtlich nicht. Du weißt schon, dass das Ganze immer seltsamer wird, oder?«

»Willst du dir das Profil jetzt angucken oder nicht?«

Sie schnaubt, studiert es dann jedoch ausgiebig, während ich ihr Gesicht mustere. Die feinen Linien ihrer Züge werden von dem Licht des Displays scharf ausgeleuchtet. Konzentriert fliegt der Blick ihrer dunklen Augen über jede einzelne Zeile meines Steckbriefs.

»Okay«, sagt sie nach nicht einmal dreißig Sekunden. »Da steht wirklich kaum was drin. Ist akzeptiert.«

»Da bin ich aber beruhigt.«

In dieser Sekunde verblasst der Hintergrund und eine weitere rote Nachricht der Chatfunktion von LoveLife füllt den Bildschirm aus. Fast zeitgleich beugen Silvi und ich uns weiter über den Tisch und stoßen dabei beinahe mit den Köpfen zusammen.

 

Peer: Hey, wie geht's?

 

Einen Moment lang rührt sich keiner von uns. Dann meint Silvi spöttisch: »Weniger, als ich denke, hm?«

Ich ignoriere sie und ziehe das Handy ein Stück zu mir rüber, um Peers Profil aufzurufen. Auch wenn die Nachrichten noch so dämlich sind, habe ich das bisher immer gemacht. Einfach, um zu gucken, wer sich sonst noch bei dieser Flirt-App herumtreibt. Peers Nachricht allerdings ist weniger dämlich als vielmehr nichtssagend, beinahe langweilig – und damit bisher einzigartig.

Ich überfliege die Infos seines Steckbriefs, die leider so spärlich gesät sind wie bei meinem Profil. Offensichtlich ist da noch jemand vorsichtig. Er ist berufstätig, sagt aber nicht, was er macht. 1,86m, blaue Augen, schwarze Haare. Als Hobby gibt er Film & Fernsehen an, aha. Heißt das, er sitzt von morgens bis abends vor der Glotze?

»Fünfundzwanzig, das hört sich auf jeden Fall schon mal besser an«, bemerkt Silvi. »Aber warum hat er kein Foto hochgeladen?«

»Egal. Ich hab auch keins hochgeladen.«

»Egal? Du weißt schon, dass du über kurz oder lang mit einem von diesen Nutzern Sex haben willst, richtig? Da sollte zumindest im Ansatz eine gewisse körperliche Anziehung vorliegen. Vielleicht ist der Kerl hässlich wie die Nacht.«

»Bevor ich mit irgendjemandem Sex habe, werde ich mich sowieso erst mal mit ihm treffen. An einem öffentlichen Ort.«

Silvi zieht die Augenbrauen hoch. »Wow, das klingt ja direkt vernünftig.« Sie nickt auf das Handy. »Und, schreibst du zurück?«

Ich zucke die Schultern. »Immerhin hat er mich nicht nach meiner Penislänge gefragt – also, ja.« Ich fange an zu tippen und bemerke daher erst verspätet ihren Blick. »Was denn? Nein, auf die Frage hab ich natürlich nicht geantwortet.«

»Heißt das, du willigst in die offene Beziehung ein?«

Ich lasse das Handy sinken. Unter Peers Nachricht steht nun meine. Silvi wirft einen flüchtigen Blick darauf. Ich kann ihrem Gesichtsausdruck nicht ganz entnehmen, was sie von meiner Antwort hält, aber da sie nicht protestiert, scheint sie sie harmlos genug zu finden. Oder sie ist insgeheim froh, dass ich kein Flirt-Ass bin, weil sie die ganze Angelegenheit ja sowieso beschissen findet.

 

Max: Gut, und selbst?

 

»Nicht, wenn ich es vermeiden kann.«

Ich greife nach meinem Wein und trinke einen großzügigen Schluck. Bis eben habe ich tatsächlich für einen kurzen Moment vergessen, warum ich mich mitten in der Woche bei Silvi zu Hause betrinke und bei einer Flirt-App angemeldet habe.

»Aber ich fürchte, ich hab keine Wahl. Er fragt mich jeden Tag, ob ich mir die Sache schon überlegt hab. Das ist ihm echt wichtig.«

Zum ersten Mal erkenne ich so was wie Mitgefühl auf Silvis Gesicht. »Ihr müsst unbedingt Regeln aufstellen. Das hier ist schon grenzwertig.« Sie nickt auf mein Handy.

Trotzig schenke ich mir noch mal aus der Weinflasche nach. »Wenn Karsten durch die Gegend vögelt, werd ich sicher nicht zu Hause rumsitzen und darauf warten, dass er irgendwann mal wieder mit mir schlafen will.«

In meinen eigenen Ohren klingt der Satz ziemlich abgebrüht, aber so, wie Silvi mich ansieht, nimmt sie ihn mir nie und nimmer ab. Ich habe selbst Schwierigkeiten damit. Es fühlt sich an, als hätte ich mir einen Anzug übergestreift, der mir vorne und hinten nicht passen will, der jetzt aber nun mal der letzte Schrei ist.

Beim Gedanken daran, dass Karsten mit einem anderen schläft, wird mir schlecht. Aber mit dem Gedanken, dass ich selbst mit einem anderen ins Bett steige, komme ich ebenfalls nicht zurecht. Ich will keinen anderen, zum Teufel. Ich wollte immer nur Karsten, und mittlerweile habe ich ihn auch seit sechs verdammten Jahren.

Mein Handy klingelt. Das Display leuchtet mit einer roten LoveLife-Nachricht auf, die Silvi und ich uns sofort durchlesen.

 

Peer: Auch. Lust auf Sex?