LESEPROBE: Lena Blaudez: Spiegelreflex. Ada Simon in Cotonou. CulturBooks 2013.

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Die feuchte Hitze traf sie wie ein Hammerschlag.

»Madame, Madame, moi, moi!«, flehten ein paar Jungen, die alle ihre Koffer schleppen wollten und sich gegenseitig schubsten und stießen. Sie wimmelte sie ab und ergab sich ohne langes Feilschen dem erstbesten Taxifahrer.

Der junge Typ hatte die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen und raste davon, als gelte es immer noch, sich seine Beute zu sichern. Sie war müde von dem langen Flug, dem unvorhergesehenen Aufenthalt in Moskau mit den gewohnten Fehlinformationen und ließ sich seufzend ins Rückpolster sinken. Der klapprige Peugeot schlingerte haarscharf an den gewaltigen Schlaglöchern vorbei. Roter Staub wehte durchs Fenster herein und durch die Rostlöcher im Bodenblech. Die Abgase aus dem röhrenden Auspuff wurden dem Fahrgast direkt zugeleitet.

Sie hielt das Gesicht ans Fenster. Marktfrauen in bunten Kleidern mit Körben und Schüsseln voller Tomaten, die kurz in der Abendsonne aufflammten, winkten erfolglos nach dem verschwenderisch leeren Taxi. Palmwedelgedeckte Stände voll echt antiker Vodoumasken, an denen die Farbe noch nicht ganz trocken war. Die Bilder flogen vorbei. Ein grauhaariger Alter, am Straßenrand auf seinen Stock gestützt. Sein weißes Gewand flatterte wie ein Segel. Ada verspürte eine Welle des Glücks. Endlich wieder hier!

Das Taxi bog jetzt In eine schmale Seitengasse ein, die von Hibiskus gesäumt war. Ein junges Pärchen umarmte sich, in die Hecke gedrückt, unzüchtig. Der lange schwarze Hals des Mädchens war zurückgebogen, und das lautlose Lachen entblößte beneidenswert weiße Zähne, bevor die beiden von der Staubwolke des Taxis verschluckt wurden.

Auf einmal wurde sie unruhig.

»Das ist doch nicht die Strecke zum Hotel de la Plage!« Sie packte die Rücklehne des Fahrersitzes vor ihr.

Der Chauffeur nahm konzentriert und unbeeindruckt die scharfe Linkskurve, ohne vom Gas zu gehen.

»He!« Sie schrie ihm ins Ohr.

»Kleiner Umweg ... die Flughafenstraße ist dicht ...«, nuschelte er an seinem Zigarettenstummel vorbei.

Dicht? Das übliche Mopedchaos, dürre Ziegen, magere Rinder, gelegentlich Kamele, die Unmassen der Fußgänger, aber Verkehrsstau? Hier ging es jedenfalls in Richtung Lagune und nicht zum Hafen, wo das Hotel lag.

Die kurze blaugraue Dämmerung hing in der Luft wie eine Erwartung. Der Moment des Übergangs, den sie so sehr mochte. Beruhigend, normalerweise. Jetzt jedoch verdichtete sich die Erwartung zur unguten Gewissheit. Bei bald tiefschwarzer Nacht wurde sie in einem lädierten Taxi von einem offensichtlich Verrückten mit überhöhter Geschwindigkeit durch enge unbeleuchtete Gassen gejagt. Und auch noch in die falsche Richtung.

Als wolle er sie nicht länger ihren Spekulationen überlassen, bremste er unvermittelt. Kurzes Hupen. Ein großes Eisentor wurde von innen geöffnet. Nur raus! Sie suchte hektisch nach dem Türgriff Es gab keinen. Da standen sie schon inmitten eines düsteren Hofes, den nur ein kleines flackerndes Feuer in der Ecke erhellte. Der Fahrer sprang heraus, schloss die Autotür sorgfältig ab. Es gelang ihr nicht, durch das halb geöffnete Fenster den Außengriff zu erreichen. Sie quetschte sich auf den Vordersitz durch. Ratsch, zerriss ihr T-Shirt. Es lohnt sich nicht, billige Klamotten zu kaufen. Eine Weile mäanderten ihre Gedanken wirr um das Garderobenteil.

Ein dicker, stiernackiger Mann schimpfte auf ihren hageren Fahrer ein, der zusehends zusammenschrumpfte. Hin und wieder glaubte sie das Wort »yovo« zu verstehen, »Weiße«. Die beiden Männer gingen zu einer kleinen Wellblechhütte, ohne sich weiter um sie zu kümmern.

Überrascht stellte sie fest, dass die Fensterkurbel an der Beifahrertür intakt war. Sie griff nach draußen, die Tür öffnete sich mit einem leisen Knack. Das Gelände schien verlassen zu sein, das Tor war inzwischen abgeschlossen. Sie drückte sich an der Mauer entlang, gelangte in die Nähe der Hütte. Von der offenen Ladeklappe eines Lieferwagens strömte ihr ein süßlicher Geruch entgegen. Jetzt hörte sie die Stimmen der beiden, die vermutlich unmittelbar vor der Hütte standen.

»Bist du denn bei Trost! Eine Weiße!« Missbilligung troff aus jeder Silbe. »Du jagst uns sonst wen auf den Hals, Mann!«

Beschwichtigendes Gemurmel ihres Fahrers. Er hatte es doch nur gut gemeint.

»Die Straßenkids rennen dir wohl zu schnell, was! Ich muss liefern, ich brauch die Kohle«, zischte der andere.

Ihr Blick fiel auf die Ladefläche. Sie erstarrte. Zwischen Fleischteilen lag eine menschliche Hand.

Körperteile, schwarze Magie, Vodou? Sollte sie als Ersatzteillager herhalten? Ihr wurde übel.

Die beiden Männer kamen heraus, auf sie zu. Mit jagendem Puls beeilte sie sich wegzukommen, duckte sich ins Dunkel der Hofmauer. Aber der Dicke öffnete nur das Tor, schwang sich in den Lieferwagen und hinterließ nichts als eine stinkende Dieselwolke. Ihr enttäuschter Kidnapper warf ihr Gepäck aus dem Auto, sich selbst in sein Taxi und verschwand.

Auf ihre Teile wurde verzichtet.

Sie griff sich ihre Sachen und rannte los.

Die Straßenbeleuchtung war noch nicht bis in diesen Teil der Stadt vorgedrungen. An der Ecke tauchte eine anheimelnde Insel aus der Dunkelheit auf. Das Gesicht der Barfrau im Licht der Petroleumfunzel schien ihr das sanftmütigste zu sein, das ihr je begegnet war.

»Gin Tonic.«

»Gibts hier nicht, wollen Sie Sodabi?«

Ada nickte. »Ein großes Glas, bitte.«

Als sie sich dank des Palmschnapses wieder beruhigt hatte, winkte sie ein Mopedtaxi heran und ließ sich ins Hotel de la Plage bringen. Zur Polizei? Lächerlich. Und den Hof würde sie nie mehr wieder finden.

 

Die im Kolonialstil erbaute sandfarbene Villa direkt am Hafen hatte schon bessere Zeiten gesehen. Hier wohnte sie immer, wenn sie in Cotonou war. Und das war in letzter Zeit gar nicht so selten. Der Empfangschef begrüßte sie wie gewohnt. Euphorisch.

»Madame Simon! Sie sind wieder da! Hatten Sie eine gute Reise?«

»Danke, ja«, antwortete sie. Und schauderte.

»Und die Familie? Alle gesund? Und die Arbeit, ça va?«

Alles war so außerordentlich erfreulich, dass beide laut lachten und die Hände gegeneinanderklatschten. Jetzt durfte man zur Tagesordnung übergehen.

»Das gleiche Zimmer wie immer?«

»Geht der Ventilator wieder?«

Monsieur Alphonse legte das Gesicht in bedeutungsschwere Falten. Sein Bauch wölbte sich wie ein eigenständiges Wesen unter einem knallroten T-Shirt, das die Botschaft verkündete: Guinness is good for you. »Madame Simon, Sie sind hier im ältesten Hotel Cotonous. Genießen Sie das historische Ambiente. Diese Ventilatoren sind An-ti-qui-tä-ten!« Er hob die Hände himmelwärts. Gott war sein Zeuge. Er zumindest tat alles, was in seiner Macht stand. Wenn sie das nicht zu schätzen wusste – bitte sehr.

Schnell versicherte sie, dass sie sich, Ventilator hin oder her, freue, wieder hier zu sein. Er nickte gnädig. Die würdevolle Kopfbewegung geriet aber sogleich außer Kontrolle, weil aus dem alten Radio schräg, blechern und laut Alpha Blondy von einer Interplanetary Revolution losschepperte. Alphonse’ Kopf nickte im Takt weiter, der ganze Körper ging mit. Unter rhythmischen Zuckungen überreichte er ihr den Zimmerschlüssel.

Mit einem Kaffee und der Erinnerung an gestern, wie an einen bösen Traum, saß sie am nächsten Morgen auf der Hotelterrasse. Gedankenverloren sah sie den Jungs an der Hafenmole zu, die Steine ins Meer kickten und darauf warteten, dass endlich etwas geschah. Hinter dem Strand, der tadellos weiß bis zur Terrasse reichte, leuchtete das Meer, Gischt lag auf den Brechern, die sich weiter draußen auf einer Sandbank überschlugen. Ada sog den vertrauten Geruch nach Fisch, Tang und Dieselöl ein. Angekommen! Sie überlegte, wie es weitergehen sollte.

Zuerst Patrick anrufen.

Als sie dann seine Nummer wählte, ahnte sie nicht im Geringsten, dass sie damit einen Zeitzünder aktiviert hatte, der von nun an unermüdlich ticken sollte. Bis nichts in ihrem Leben mehr war wie zuvor.

Die Bougainvillea leuchtete purpurn, zwei Straßenhändlerinnen riefen sich etwas zu und lachten.

Afrika zeigte sich von seiner besten Seite.

 

Der Laden von Papa Paul, Treffpunkt für Intellektuelle, Geschäftsleute und westliche Entwicklungsexperten, die hier ihre Ideen ausprobierten, wurde von allen Champagner-Bar genannt. Der Name stand in allerbestem Kontrast zu dem Kramladen, der er eigentlich war. Er lag direkt an der Avenue Steinmetz, in der Mopeds, zerbeulte Autos und hin und wieder eine Nobelkarosse eine endlose, stinkende, hupende Schlange bildeten. Die gelben Jacken der Mopedtaxi-Fahrer flatterten, wenn sie sich mit Todesverachtung zwischen den Autos hindurchzwängten, als wollten sie signalisieren, dass ihnen die prompte Erfüllung der Kundenwünsche wirklich über alles ging.

Vor der Champagner-Bar auf dem Bürgersteig lümmelten sich auf zerschlissenen Sesseln angesäuselte Staatsdiener aus dem nahen Ministerium für Bildung und Erziehung. Aus Lautsprechern dröhnte der letzte Hit aus Zaire. Davor schliefen zwei Kinder auf Strohmatten. Eine bonne femme köchelte auf ihrem Holzkohlefeuer Poulet Yassa, dessen Duft in harte Konkurrenz zu den Abgasen trat. Ihr Jüngstes pendelte, im Tragetuch schlafend, auf dem Rücken hin und her, während sie mit schriller Stimme, die mühelos durch den Verkehrslärm stach, die Passanten aufforderte, ihre einmaligen Fufu-Bällchen zu kosten, die auf einem Emailteller neben ihr lagen. Ab und zu rückte die Köchin mit der bloßen Hand ein glühendes Holzkohlestückchen wieder an seinen Platz. Nebenher flirtete sie mit dem Fahrer des Mercedes, der vor ihrem Stehrestaurant parkte. Die beiden alberten und lachten. Die kehligen Laute des Fon mischten sich mit den Rhythmen der Musik und dem hemmungslosen Gehupe. Straßenstaub und Ruß der Abgase wirbelten durch die Luft und setzten sich überall fest, während die Sonne den Asphalt aufweichte.

Alles war wie immer.

Ada brauchte einen Moment, um sich an das Dämmerlicht in Papa Pauls Laden zu gewöhnen. Dann erkannte sie Patrick, breitschultrig, in einem weißen Hemd und schwarzen Jeans. Seine vertraute kräftige Gestalt, nicht groß, aber eine geballte Ladung Energie, die ironisch blitzenden Augen. Sie freute sich, ihn zu sehen. Die obligatorische Zigarette hing ihm im Mundwinkel. Er saß auf einem Hocker vorne an der Bar, und ein Fuß wippte im Takt seiner Rede. Mit einem Arm lehnte er auf einem der Glasschaukästen des Tresens, in denen Würfelzucker, karierte Filzpantoffeln, Batterien, Brühwürfel und Badelatschen seit Jahren auf Käufer warteten. Hinter dem Tresen bedeckten Tonröhren die Wand bis zur Decke. Hier fanden sich wahre Schätze: alte Weine und Champagner der Spitzenklasse, den Papa Paul in alten Wassergläsern zu einem lächerlich geringen Preis offerieren konnte. Schließlich bezog er ihn zollfrei. Über die grüne Grenze. Seit Ada Patrick vor drei Jahren kennengelernt hatte, führte ihr erster Weg unausweichlich in die Champagner-Bar, um mit ihm auf ihr Wiedersehen anzustoßen.

Papa Paul stand kerzengerade hinter der Theke, zapfte ein Bier und hörte gelassen Patrick zu. Wie stets erweckte der alte Mann den Eindruck, schlichtweg für alles Verständnis zu haben. »Ça fait trois jours! – Schon wieder drei Tage her, seit du hier warst!«, rief er, als er Ada entdeckte. Drei Tage war es immer her, auch nach Monaten. Er lachte und drohte ihr aus den Weiten seines Gewandes heraus mit dem Zeigefinger.

Patrick begrüßte sie mit einem Schwall von Fragen, den sie bis auf einige gut platzierte »Ça va« unbesorgt unbeantwortet lassen konnte. Die Begrüßungszeremonie endete mit einem knallenden Schnalzlaut, wenn sich die ineinander verhakelten Finger lösten. Das hatte sie ziemlich lange üben müssen, es wies sie aber nun als Kennerin der Szene aus, wie sie nach dem gelungenen Abschlussknall befriedigt feststellte.

Neben Patrick stand eine große junge Frau, die sie anlächelte. Bei ihrem Anblick musste Ada an eine Skulptur denken, die sie als Kind in einem Museum gesehen hatte. Damals war sie genauso beeindruckt gewesen. Ein lang gestrecktes Gesicht mit hohen Wangenknochen und fein geschnittener Nase. Sie trug ein buntes Kostüm, ihre Haare waren zu einer kunstvollen Flechtfrisur aufgetürmt. »Ich bin Elise de Souza, die Cousine von Patrick. Er hat mir schon viel von dir erzählt.«

»Elise ist einfach fantastisch. Sie beherrscht nicht nur viele unserer Landessprachen, sondern kennt auch alle Leute, die zu kennen sich lohnt. Manche gut. Manche sogar noch besser. Selbst die Elite unseres korrupten Systems.« Patrick verbeugte sich schwankend zu Elise hin. Ganz gegen den üblichen Stil der aristokratischen De-Souza-Familie musste er Papa Pauls Beständen heute schon mächtig zugesprochen haben. Er zündete sich eine neue Zigarette an der alten an und klopfte sich gereizt die Aschestäubchen vom Hemd.

Papa Paul warf Patrick einen besorgten Blick zu, zapfte ein weiteres Bier und tat, was er immer tat: zuhören und schweigen. Nebenan am Tresen unterhielten sich zwei Geschäftsleute aus dem Norden in himmelblauen Boubous, deren weite Ärmel eine nicht unbeträchtliche Gefahr für die Gläser und Flaschen in ihrer Reichweite darstellten. »Wenn das so weitergeht mit den Straßenzöllen«, sagte der eine, »wie soll ich dann meine Frauen und die Kinder ernähren?«

»Dieses verdammte Polizeipack!«, fluchte der andere leise auf Haussa, vermutlich in der Hoffnung, hier nicht verstanden zu werden.

Ada diskutierte mit Elise, als würden sie sich schon lange kennen. Über den letzten Korruptionsskandal, die diversen Oppositionsparteien, Zeitungen und Kneipen in der Stadt. Elise erzählte von der Uni, an der sie unterrichtete. Die Studenten seien in Lethargie verfallen, meinte sie. Jeder habe nur noch seine eigenen Interessen im Kopf. Was war aus dem großen Aufbruch geworden, an den so viele geglaubt hatten, nach dem Ende der Diktatur?

Von draußen drangen die Rhythmen der Zaire-Musik und das Gelächter der Leute herein. Ada fühlte sich losgelöst. Das unsichtbare Geländer alltäglicher Gewohnheiten war weggebrochen. Alles war neu, die Sinne wurden scharf, alle Antennen standen auf Empfang für das, was da kommen mochte. Sie liebte diese Intensität, die sich immer einstellte, wenn sie auf Reisen war.

Sie holte ihre Leica M6 aus der Tasche und entschied sich für den leichten Weitwinkel. Bei dem hoch empfindlichen Film, den sie eingelegt hatte, konnte sie auf den Blitz verzichten. Fotografie war nicht nur ihr Beruf, es war eine Sucht, der sie nachgab, wann immer es die Umstände und die Leute erlaubten. Die Kontaktbogen sortierte sie chronologisch. Ihr Tagebuch sozusagen, und später konnte sie das eine oder andere Foto verwenden, in thematische Serien einfügen oder an eine Zeitung verkaufen.

Das diffuse Licht ließ die Bar wie durch einen Weichzeichner gesehen erscheinen. Staubkörnchen tänzelten in Spiralen durch den Rauch der Zigaretten. Sie drückte auf den Auslöser: ein Schatten an der Wand, wie einer der immer anwesenden Ahnen, der seinen Gin wollte. Dann: Patrick, auf die Theke gestützt, in der Hand die Zigarette, den Blick in weiter Ferne. Papa Paul vor seiner Röhrenwand, wie er in sich hineinlächelte. Elise, eine exotische Prinzessin. Ein Schattenriss im Gegenlicht von einem Mann mit wuchtigem Kinn, wie eine Bulldogge, der an einem der Plastiktische im Innenraum hockte.

Am Fenster saß ein dünner Mann mit Sonnenbrille und buntem Hemd. Als sie ihn fotografieren wollte, drehte er sich so schnell weg, dass sie an ein Krokodil denken musste, das unbeweglich dasitzt, um sich dann blitzartig sein Opfer zu schnappen. Er fuhr sich mit den Fingern seiner Linken an die Brust, als beteuere er einem unsichtbaren Gegenüber seine guten Absichten.

Ein Tuareg mit indigoblauem Schleier stand an der Wand, ohne sich anzulehnen. Sie bewunderte den verzierten Silberknauf seines Schwertes, der aus dem Gewand herausragte. Er wirkte so entrückt, als höre er noch das Trappen seiner Kamelherde und den heulenden Sandsturm und als sei diese Realität, in die es ihn gerade durch alle möglichen Zufälle verschlagen hatte, Allah sei Dank, völlig unerheblich.

Noch ein Foto durch die Tür nach draußen, wo die Sonne auf das chaotische Leben auf der Straße knallte.

Patrick bedeutete Papa Paul, seinen Whisky Soda wieder nachzufüllen. So hatte sie ihn noch nie erlebt. An Papa Pauls Tresen hatte er sie schon oft mit Freunden bekannt gemacht, ihr Tipps gegeben, wo sie wen treffen konnte, wann sie wohin fahren sollte, um dieses oder jenes Ereignis zu fotografieren, oder wie sie mit der Bürokratie fertig werden konnte. Und er hatte Geschichten erzählt. Aber heute war mit Patrick nicht zu reden. Er winkte ihr nur zu, als sie sich verabschiedete, und setzte sein Gespräch mit Papa Paul fort.

»Morgen Mittag am Fischmarkt!«, rief ihr Elise noch durch den Raum nach.

An dem alten Kühlschrank neben dem Eingang lehnte ein Bettler mit achselhohen, offensichtlich selbst geschnitzten Krücken. Sie drückte ihm ein Hundert-CFA-Stück in die Hand, drehte sich zur Tür und stolperte über die Füße des Bulldoggen-Mannes. Der fing sie auf und sagte heiser: »Doucement, Madame! Achten Sie auf Ihre Kamera!«

Das tat sie. Instinktiv hatte sie den Apparat an sich gedrückt. »Danke.« Sie nickte dem Mann zu. Der machte sich jedoch nicht die Mühe zu lächeln. Seine Ausstrahlung hatte etwas Arktisches.

Sie fotografierte noch einmal in den Raum hinein, in dem jetzt eine seltsame Stimmung herrschte. Ein aus der Form geratener Weißer, die verbliebenen Haarsträhnen über die Glatze geklatscht, die Hängebacken schwermütig, stand neben der Tür und machte ihr so schnell Platz, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass er sich wie immer zur falschen Zeit am falschen Ort befand. Schweißflecke malten Trauerränder auf sein Hemd. Sie ging an ihm vorbei nach draußen. In dem Moment wurde sie von zwei hereinstürzenden Männern angerempelt. Ausgesprochen unbeninisch, dachte sie und streckte die Hand nach der Sonnenbrille aus, die sie sich in der Bar auf den Kopf geschoben hatte. Da knallte es dumpf Dreimal schnell hintereinander.


Weiterlesen? Spiegelreflex ist bei CulturBooks als eBook erhältlich.

Über das Buch

Die Fotojournalistin Ada Simon ist aus Kamerun zu einer Tagung über Tropenholz nach Mecklenburg gereist. Internationale Manager tagen in einem halb verfallenen Schloss, um nicht nur über Holzgeschäfte zu reden. In der maroden Idylle trifft Ada einen unheimlichen Mann wieder, der böse Erinnerungen zurückbringt: In Kamerun war sie in einen brutalen Kampf um Holz, Kunst und um den begehrtesten Rohstoff des Handy-Zeitalters, Coltan, geraten. Im Regenwald, bei den Pygmäen und in Douala, der wichtigen westafrikanischen Hafenstadt, kreuzten sich ihre Wege mit denen des Killers. In den Wäldern um das mecklenburgische Schloss kommt es zu einer afrikanischen Konfrontation.

 

»Die Autorin arbeitete viele Jahre in Benin, Niger und Zaire und kann aus diesem Grund von eigenen Erfahrungen und Erlebnissen berichten. So wirkt der Roman auch deshalb so authentisch, da Lena Blaudez ihr Wissen über die Vodou-Kultur und die Lebenswirklichkeit der Menschen in West-Afrika in den Text einfließen lässt.«

FAZ – Literaturkalender

 

»Lena Blaudez’ Sprache ist schnell, das Erzählte fesselt mit immer neuen Wendungen, die manchmal geradezu unwirklich anmuten. Und immer wieder schwingt ein Humor mit, der zwischen Zynismus und Selbstironie schwankt.«
Dagmar Penzlin, NDR 1 Kulturjournal Schwerin

 

Über die Autorin

Lena Blaudez studierte Volkswirtschaft in Ost-Berlin, konnte 1985 dank der Hilfe eines Franzosen, der sie deshalb heiratete, die DDR verlassen, absolvierte ein Aufbaustudium Internationale Entwicklungspolitik u. eine journalistische Ausbildung. Viele Jahre lebte und reiste sie in Afrika, und arbeitete in Entwicklungshilfeprojekten in Niger, Benin, Kongo und St. Petersburg. Heute wohnt sie als freie Journalistin und Autorin von Romanen, Erzählungen und Drehbüchern in Berlin.

Lena Blaudez

 

Farbfilter

Ada Simon in Doulala

 

Roman

 

 

CulturBooks Verlag
www.culturbooks.de

Impressum
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014
www.culturbooks.de
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten.
Erstausgabe Print: Unionsverlag, Zürich 2006
© Lena Blaudez 2006
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
Erscheinungsdatum: 7.1.2014
ISBN 978-3-944818-28-3

1

Ivenack

Das Gebäude sieht verwahrlost aus. So, als hätten es die letzten Bewohner schon vor Jahren erleichtert verlassen. Schmale Gänge führen zu kleinen stickigen Zellen mit winzigen Fenstern. Verliese. Enge und Düsternis legen sich beklemmend auf die Brust und verursachen Atemnot. Ada stellt sich an eins der winzigen niedrigen Fenster und rüttelt an dem Griff. Erfolglos.

Draußen zieht ein Adler seine Kreise über dem weiten, hügeligen Land. Auf der Suche nach Beute, jederzeit bereit, herabzustoßen. Die Landschaft glüht in der Sonne, verschwenderisch leuchten gelbe Blüten, dunkelrote Erde. Ada ahnt den Duft. Der Kontrast von draußen und drinnen hätte nicht stärker sein können. Sie starrt auf die halb verfallene Wand gegenüber, auf die teilweise zugemauerten oder vergitterten Fenster.

Das erste Mal fällt ihr ein. Wie sie vor Jahren hierher kam und fasziniert war. Fremd war sie, das sagte ihr jeder Blick aus den Augen der Einheimischen, und doch fühlte sie sich, als wäre sie angekommen. Wie an einem Platz, den sie schon lange gesucht hatte. Unten am silbrig glänzenden Wasser hatte sie auf die Geräusche der Tiere gelauscht, glucksend tauchten sie auf, rumorten irgendwo in den Wäldern, die endlos waren.

 

Hier geht die Zeit anders. Vergeht zwar, aber ändert nichts. Man improvisiert. Passt sich den Gegebenheiten an. Hofft auf ein Wunder oder begräbt seine Hoffnung, lebt von einem Tag auf den anderen. Überlebt wie in Trance. Manche suchen Rat bei den Alten, die wissen, was geschehen wird. Dieses Singen in der Luft, sind das nicht die Mythen und Sagen dieses weltvergessenen Landstrichs, gewispert von Ahnen oder Geistern? Und dann dieser Himmel. Ein überwältigender Himmel, der hier einfach weiter ist als anderswo. Blau, unendlich, in Bann schlagend. Der mecklenburgische Himmel.

Ada reißt sich von ihren Gedanken los, öffnet eine der niedrigen Türen. Wirft die Tür wieder zu. Holt tief Luft und öffnet sie langsam wieder.

Harte Musik knallt ihr entgegen. Grateful Dead? Eine unglaublich fette Alte, das rote Spitzennachthemd über dem riesigen Busen bedrohlich gespannt, hält ein hauchdünnes Teetässchen mit abgespreiztem kleinem Finger in der einen Pranke. Sie lächelt Ada an und winkt sie mit der anderen herein. Die herabhängenden Wülste an den Oberarmen schlackern wie Wackelpudding. Den großen roten Kopf zieren nur noch wenige graue Strähnchen. Grelle Abziehbilder, Püppchen und Pilze, Mickey Mouse und Märchenfiguren, Rennautos, Pin-up-Girls und Muskelmänner bedecken jeden Flecken der schrägen Wände des winzigen Kämmerchens.

»Willst du einen Keks, Schätzchen?«, kreischt sie durch den Gitarrenlärm und zeigt auf einen Teller mit durchbrochenem Rand, auf dem sechs kleine Gebäckstücke im Kreis angeordnet liegen. Ada will.

Dann sucht sie höflich dankend das Weite. Sie sieht sich schnell um und wirft den Keks mit schlechtem Gewissen in einen Blecheimer am Ende des Flurs.

Wandert weiter. Plötzlich führen die bedrückenden Flure zu prunkvollen, stuckverzierten Treppenhäusern. Sie kommt in lichtdurchflutete Hallen, in weite Räume mit verglasten Erkern zum See hin. In einem lang gestreckten Saal blicken von holzgetäfelten Wänden halb vermoderte Hirschköpfe verwundert auf sie hinab.

Ada betrachtet bunte Bilder, hingepfuschte Landschaftsaquarelle, die über uralten Wandmalereien an unbekümmert hineingedroschenen riesigen Nägeln hängen.

»Was suchen Sie denn hier?« Eine merkwürdige Stimme hinter ihr.

»Ich arbeite.«

»So?« Hohn trieft mit einem dünnen Speichelfaden aus den abwärts gerichteten Mundwinkeln. »Können Sie sich ausweisen?«

»Ich bin Fotografin und mache Aufnahmen von dem Schloss. Ich dachte, das Behindertenheim wäre schon umgezogen. Aber oben sind die Zimmer ja noch bewohnt!«

»Nu, ein paar von denen sind halt noch da. Wüsste wirklich nicht, was Sie das angeht. Werden Sie fertig mit Ihrer Knipserei und stören Sie hier nicht länger!«

Das lange, birnenförmige Wesen, vermutlich männlich, mit hängenden Schultern und ebensolchem Bauch schlurft davon. Die Arme baumeln an ihm herab, als sei deren übliche Funktion in Vergessenheit geraten. Wirr steht gelbes Kraushaar vom Kopf ab.

Das Licht ist einmalig. Sie fotografiert die Hirschköpfe an der Wand, sonnengelbe Räume, ein Funkeln im zersplitterten Kronleuchter. Dann den Essraum: Sprelakattische auf Linoleum – entsprechend sind die Ausdünstungen, gemischt mit dem Gestank nach abgestandenem Kantinenessen, der in den Wänden hängt. In der Tür zittert hin und wieder ein birnenförmiger Schatten.

Sie geht weiter durch leere Zimmer. Über einhundert Räume sind durch schmale Gänge in geradezu aberwitziger Anordnung verbunden, dazu verwirren oft schräge Wände. Als sie auf die andere Schlossseite gelangt, erinnern sie deren niedrige Decken daran, dass diese Hälfte ein Stockwerk mehr besitzt als die gegenüberliegende. Das Schloss ist unkonventionell durch Einzug einer Zwischendecke um viele Zimmer erweitert worden. Sie ist schon eine ganze Weile keiner Menschenseele mehr begegnet. Steigt weiter nach oben. Plötzlich ist sie sicher, nie wieder herauszufinden. Da gellen schrille Pfiffe durch die leeren Räume.

Marder. Sie steigt die Treppe ganz hinauf ins riesige Dachgebälk. In der sommerlichen Wärme duftet das Holz, feucht, alt und anheimelnd.

Der Dachboden ist angefüllt mit Koffern. Es müssen tausende sein, die sich hier stapeln. Verstauben seit Jahrzehnten. Alte Presspappkoffer, billige Dinger zumeist, aber auch verschimmelte edle Lederkoffer mit Aufklebern von mondänen Badeorten und weit entfernten exotischen Großstädten. Koffer, die mit ihren betuchten Besitzern ehemals in vornehmen Hotels residierten. Koffer, die von weiß behandschuhten Dienern sorgfältig hinauf- und hinuntergetragen zu werden gewohnt waren. Nach dem letzten Krieg kampierten hier hunderte Flüchtlinge jeweils für ein paar Wochen. Sie zogen weiter. Die Koffer aber blieben. Später kamen die Pappkoffer mit den wenigen hineingestopften Habseligkeiten der Bewohner des inzwischen zum Behindertenheim gewordenen Schlosses dazu, die hier ihr Leben beendet hatten.

Staub wirbelt auf, als sie einen Kofferdeckel hochklappt. Er ist leer. Sie fotografiert in dem diffusen Licht, das schräg durch eine kleine Dachluke fällt.

Ein greller Schrei. Die Marder jagen durchs Gebälk. Ada saugt noch einmal den Geruch aus vermodertem Holz und staubigen Pappkoffern ein, bevor sie sich auf die Suche nach dem Ausgang macht, die ihr notorische Orientierungsschwierigkeiten liegen ihr sozusagen in den Genen – zunehmend Sorge bereitet.

Abwärts. Das zumindest muss richtig sein.

Eine obskur aussehende Tür führt zu einer steilen Treppe. Ein enger Gang zieht um düstere Ecken, spärlich beleuchtet von flackerndem Neonlicht. Sie zieht den Kopf ein, denn an einem Balken über ihr baumeln lose Stromkabel, die zu einem lebensgefährlichen Gewirr offener Drähte zusammenlaufen. Das Ganze endet in einem zerborstenen Kasten, aus dem rote, blaue und schwarze Drähte quellen wie Eingeweide aus einem frisch gemordeten Schaf.

Ein leises Pochen durchläuft die Gänge, wie der Herzschlag des Schlosses. Die Heizungsanlage?

Plötzlich gibt die Neonröhre ihren Geist auf, was angesichts der Kabellage wenig verwundert. Die Dunkelheit ist absolut. Sie tastet sich an der rauen Wand entlang. Die Treppe muss doch wieder zu finden sein.

Fast ist ihr, als hätte sie es im Innersten erwartet, als sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legt. Schnaufender Atem bläst ihr in den Nacken. »Hab ’ne Taschenlampe! Mo...mentchen«, nuschelt es an ihrem Hals.

Ein harter, greller Strahl fährt ihr ins Gesicht. Sie packt die Hand, die die Lampe hält. Die fühlt sich weich, fast pappig an. Sie dreht sie, sodass die Lampe dem Schnaufer ins Gesicht leuchtet.

Einen tiefen Atemzug lang braucht sie, um die Beherrschung nicht zu verlieren. Bis zur Unkenntlichkeit ist das, was einmal ein Gesicht war, verunstaltet.

Knappe, vornehme Verbeugung. »Darf ich mich vorstellen? Ich bin Herr Pompöse!« Seine teigige Hand fuchtelt dazu in der Luft herum, als wolle sie etwaige Zweifel an seiner wunderbaren, geheimnisvollen Herkunft von vornherein verscheuchen. Dann landet sie über der entstellten Gesichtshälfte, als wäre er sich ihrer gerade bewusst geworden. Er lugt durch seine dicken Finger zu Ada und lächelt schüchtern.

»Können Sie mir den Ausgang zeigen, Herr Pompöse? Ich habe mich verlaufen.«

»Aber gern, mein Fräulein! Immer folgen, bitte!« Er schlenkert gewandt seinen großen Körper vor ihr durch die engen Gänge. Im Nu sind sie draußen, der Weg ist verblüffend kurz.

»Auf Wiedersehen, mein Fräulein! Besuchen Sie mich bald wieder!« Herr Pompöse verschwindet in den Tiefen des Kellergewölbes.

 

Es dämmert bereits. Im letzten Moment, bevor sie dagegen stößt, bemerkt sie ein qualmendes Rohr, das mitten aus der Schlosswand ragt. Für den Auspuff des Notstromaggregates ist einfach ein Loch durch die Schlossmauer geschlagen worden. Sie macht ein Foto. Wieder eine dieser unfreiwilligen Grotesken, wie sie die letzte Diktatur hervorgebracht hat. Als sei Ästhetik ein natürlicher Feind des Klassenkampfes.

Sie läuft über die Wiese, macht Aufnahmen vom Schloss unter einer schweren Wolke. Der Park ist wunderschön, eine harmonische Anordnung alter Bäume. Anmut und Leichtigkeit. Hier hat jemand mit lockerer Hand und Überblick gewirkt. Am See schickt sich eine dunkelrote Sonne an, postkartenreif ins Wasser zu tauchen.

Eine einsame Wildgans fliegt niedrig über ihr entlang und schreit nach ihrem Liebsten.

 

Morgen beginnt die Konferenz, von der Ada befürchtet, dass sie ziemlich langweilig wird. Ökologie in der Waldwirtschaft. Immerhin sollen ein paar interessante Beiträge dabei sein. Tropenholz ist ihr Thema. In Westafrika hat sie darüber Fotoreportagen im Regenwald und auf Plantagen gemacht.

Sie entschließt sich, etwas zu essen und dann in ihre Pension zurückzugehen, um am nächsten Tag wenigstens gut ausgeschlafen zu sein.

In der Kneipe am Dorfausgang können am Tresen nicht nur Zeitungen, Zigaretten und Süßigkeiten erstanden werden, sondern auch Haarshampoo und Seife. Ada holt sich die regionale Tageszeitung.

»Toni«, weist gerade die robuste Kellnerin den Verschüchterten mit der beschlagenen Brille unter der runden Haartolle zurecht, »hier gibts nur halbe Liter! Hats hier immer nur gegeben, und ändern tut sich hier nichts!«

Das hat Ada schon lange geahnt.

Toni trinkt den halben Liter Bier halb aus, verbeugt sich höflich altmodisch und schreitet von dannen.

Die Kellnerin nähert sich mit drohend erhobener Flasche den dreien am Nachbartisch, die eigentlich schon genug haben.

»Na, noch ’nen Schnäppercken die Herren?«

Ada beeilt sich, mit ihrem Schnitzel und dem obligatorischen Rotkohl-Weißkohlsalat fertig zu werden.

 

Als sie, den blinkenden Himmel so nah über sich, als wollten ihr die Sterne gleich auf den Kopf fallen, den Weg zu ihrer Pension entlanggeht, hallen ihre einsamen Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Sie genießt die klare, kühle Luft in der windstillen Nacht. Da nähert sich im milchigen Licht der Straßenlaternen ein Mann in eigentümlich gebückter Haltung, mit einer Plastiktüte in der Hand. Kurz vor Ada stockt er und stiert sie verbissen an. Dann stürzt er nach vorne gekrümmt weiter, das Gewicht der Tüte scheint ihn unweigerlich rechts hinüberzuziehen. Schräg kreuzt er die Straße, seine Schritte werden immer schneller, am Ende läuft er fast. Gestoppt wird er von einem metallenen Papierkorb, vor dem er in die Knie geht, wie ein reuiger Sünder. Wieder hochzukommen übersteigt sichtlich seine Kräfte. Mit schauerlichen Geräuschen führt er den Papierkorb einer nicht vorgesehenen Nutzung zu.

2

Das alte Schloss sieht im aufsteigenden Dunst verwunschen aus. Gelber Putz bröckelt und lagert in Häufchen wie verharschter Schnee. An seltenen Baumarten des heruntergekommenen, ehemals nach englischem Vorbild angelegten Gartens ranken schlangenartige Gewächse, wuchert Efeu.

Das ist doch glatt ein, na, wie heißt er noch? Martin Sonntag legt den sorgfältig frisierten Kopf in den Nacken und begutachtet einen der uralten Bäume. Er ist zufrieden mit seiner Frisur. Sieht immer so aus wie von zärtlicher Hand verwuschelt und doch irgendwie seriös. Der Duft des frisch gemähten Grases steigt ihm dabei in die Nase das hat er gleich in Auftrag gegeben.

Oh ja, da lässt sich was draus machen. Das ist ihm sofort klar gewesen, beim ersten Blick schon. Nicht umsonst sagt man ihm eine einmalige Nase für originelle Örtlichkeiten nach. Und nicht nur das. Er hat beste Beziehungen zu Leuten aus Wirtschaft und Politik und zu den Medien. Zu den Entscheidern. Sein Kommunikationstalent, das Händchen für die richtigen Leute und wie sie anzupacken sind, das gestehen ihm selbst seine Neider zu. Unbewusst reibt er sich die Hände und setzt sein schräges Lächeln auf, das nicht nur Frauen unwiderstehlich finden.

Aufgeräumt läuft er einmal um das große Schlossgebäude herum. Der schmale Weg unter dem mild grün schimmernden Lindendach endet an einem kleinen See, in dessen Mitte eine Insel im Sonnenlicht verschwimmt. Eins der seltenen Seeadlerpärchen soll dort seinen Horst haben. Sagt man. Er beschließt, dass dem so ist. In seinem linken Augenwinkel blitzt etwas auf, und er fährt herum, als hätte er wegen solch einer winzigen Ungenauigkeit ein schlechtes Gewissen.

»Ah! Hallo! Frau Simon, wenn ich nicht irre. Wie schön, dass Sie kommen konnten! Martin Sonntag. Ich bin der Organisator der Konferenz.« Er schüttelt Ada so begeistert die Hand, als wäre sie sein lang ersehnter Ehrengast, von dem bis zur letzten Minute nicht klar war, ob er auch die Zeit opfern könnte.

»Sie kennen mich?«

»Aber sicher, von Ihren Fotos – und von Fotos von Ihnen. Ich seh mir schon an, wen ich einlade!« Er lacht und betrachtet sie wohlgefällig: Diese Haltung. Ziemlich eigenwillig. Lange Beine und nette Rundungen weiter oben. Die rostbraunen Haare knapp über die Schultern. Ein etwas durchscheinender Teint mit Sommersprossen, leicht gekrümmte Nase. Die Augen grünlich wie ein Teich im Wald. Der Blick ironisch. Mund viel versprechend, aber das kann täuschen. Die Hände ständig in Bewegung, als sei sie eine Pantomimin. Und dazu der schlaksige Gang. Provokant. Er liebt Herausforderungen. Und diese hat sich ihm geradezu aufgedrängt.

»Sie kommen direkt aus Afrika, nicht wahr? Scheint Ihnen ja nicht so viel auszumachen, die Tropen, so wie Sie aussehen, wenn ich mal so sagen darf. Andere erzählen da immer so schlimme Geschichten. Malaria und Raubüberfälle, Skorpione und Bürgerkriege, was weiß ich nicht alles für Scheußlichkeiten. Die wollen sich vielleicht auch nur wichtig machen, hmm? Na, man steckt ja nicht drin.« Immerfort lächelnd nimmt er sie am Arm, weist auf die kleine, verwucherte Insel. »Eins der seltenen Seeadlerpärchen hat dort seinen Horst. Es gibt nur noch dreihundert in ganz Deutschland. Zwei vierzig Spannbreite, die Flügel. Wunderbarer Anblick. Erhebend. Tja, die Natur!«

Er führt sie durch die lange, schmale Lindenallee am Teehaus vorbei. »Spätklassizistisch mit Wandsäulengängen am See, ist im neunzehnten Jahrhundert entstanden. Können Sie kaufen.« Pappelblätter rauschen. Selbstvergessene Pärchen lagern im hellgrünen Licht und spucken Kirschsteine im hohen Bogen ins Wasser. Vor dem Tattersaal, einem roten Backsteingebäude, toben Staub aufwirbelnd Pferde.

»Hier, der Marstall. Im Halbkreis gebaut. Teilweise noch bewohnt. Ehemalige Arbeiter der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft.« Er lässt die Worte mokant abtropfen. »Unkündbar, Ganz schlecht, wenn man Investoren finden will.«

Beige Tünche blättert, das Ziegeldach ist in der Mitte eingefallen. Die Luft flirrt vor Hitze und Schwalben.

»Wieso haben Sie gerade dieses alte Schloss für die Konferenz ausgesucht? Ich kenne es von früher.«

»Nun, meine liebe, geschätzte Ada, wenn ich Sie so nennen darf, die Konferenzen, die ich organisiere, finden ja schon seit Jahren an ganz ausgewählten Orten statt.«

Seine himmelblauen Augen blitzen, und er beugt sich ein wenig zu Ada hinunter. Nicht, dass sie klein wäre. Aber seine stolz gereckte Körperlänge beträgt einhundertzweiundneunzig Zentimeter, die meisten davon recht ansehnlich angeordnet.

»Hier in Mecklenburg, wo landesweit die allerhöchste Arbeitslosigkeit herrscht, sollen die Potenziale aufgedeckt werden, die besonders in der ökologischen Land- und Forstwirtschaft liegen. Und im sanften Tourismus. Außerdem«, er zwinkert ihr verschwörerisch zu und lächelt sein verführerisches Lächeln, »und außerdem ist dieses herrliche Schloss doch einmalig schön. Und völlig verrückt. Neorenaissance übrigens. Es steht auf den Grundmauern eines 1252 gestifteten Zisterzienser-Nonnenklosters. Man sieht förmlich jede Epoche der Geschichte hier verewigt. Das alte Adelsgeschlecht derer von Karzow hat immer dann weitergebaut, wenn es gerade mal Geld hatte. Dazwischen lagen ganze Epochen. In den letzten Jahrzehnten ist hier dann allerdings gar nichts mehr passiert. Sie sehen ja selbst, wie heruntergekommen es inzwischen ist. Heute sind die unteren Räume nur so weit wiederhergestellt, dass sie als Versammlungsraum dienen können. Die anderen Zimmer sind leer und verkommen, seit das Heim für geistig Behinderte eine neue, hoffentlich passendere Stätte gefunden hat.«

»Aber«, entgegnet Ada, »ist nicht gerade dieses verschachtelte Gebäude absolut passend? Eigentlich ist das doch genau das Richtige für Geister, die sich der Realität entzogen haben.«

»Ah, das Auge der Fotografin! Und der fantasievolle Geist dahinter. Ja, natürlich. Wenn man es so betrachtet, haben Sie sicher Recht. Wie sagten Sie, der Realität entzogene Geister, das ist gut! Tja, was die erleben? Nun, man steckt ja nicht drin.«

»Ökologie in der Waldwirtschaft ... Wer wird denn teilnehmen, wen haben Sie eingeladen?«

»Nun, wie immer, Leute aus ganz unterschiedlichen Berufsgruppen, die doch zusammenhängen. Manager aus der Holz verarbeitenden Industrie, Mitglieder diverser europäischer Umweltorganisationen, Förster, Politiker, Verwaltungsbeamte, PR-Leute und Journalisten verschiedener Zeitungen. Deutsche und englische Gastredner von internationalem Ruf haben zugesagt. Und da sind sie ja auch schon!«

Eine Gruppe ins Gespräch vertiefter, sommerlich salopp und doch gut angezogener Leute schlendert näher. Ein älterer Herr in hellem Anzug und mit einem tief in die Stirn gezogenen Strohhut, eine ausladende Dame in einem weiten gelben Kleid mit einer großen roten Handtasche und einer dicken roten Korallenkette, ein wendiger kleiner Mann in einem hellgrünen Anzug. Mittelpunkt der Gruppe aber ist eine zierliche Schwarze mit einer aufwändigen Flechtfrisur. Sie ist die Einzige, die sich aufs Zuhören beschränkt. Trotzdem oder gerade deshalb scheinen sich alle auf sie zu beziehen. Ada fragt sich, wer das sein könnte.

Martin Sonntag läuft umher und begrüßt seine Gäste, die nun in stetem Fluss in ansehnlichen Karossen mit und ohne Fahrer, in Taxis und als Gruppe in einem kleinen Bus ankommen. Der Kies auf dem Schlossplatz knirscht unter den schweren Limousinen, Türen klappen gedämpft, hier und da ein leises Lachen, ein lautes Hallo. In seinem sandfarbenen weiten Sommeranzug, alle überragend und jedem mühelos das Gefühl vermittelnd, er sei der Wichtigste aller Gäste, auf jeden Fall der, über dessen Anwesenheit er sich am meisten freut, gelingt es Sonntag, schnell eine lockere, aber erwartungsfroh gespannte Stimmung zu schaffen.

Als alle in der rau verputzten Eingangshalle auf gut gepolsterten Stühlen Platz genommen haben, läuft er mit elastischen Schritten nach vorn, hebt kurz Ruhe heischend den Arm und erläutert in wenigen Sätzen das Anliegen des Treffens: Der schöne Wald, die reiche Ressource, Zertifikate für ökologische Bewirtschaftung, Zertifikate auch für eingeführte Tropenhölzer, die sichern sollen, dass das Holz aus nachhaltigem Anbau stammt und die Arbeitsbedingungen den sozialen Mindestanforderungen in Bezug auf Lohn und Gesundheit entsprechen. Der Wald weltweit. Noch ein Scherz und Applaus, der erste Redner tritt nach vorn.

Alles läuft nach Wunsch, freut sich Martin Sonntag, reibt sich die Hände und lässt sich die nächsten Schritte durch den Kopf gehen. Er denkt an Ada Simon, spürt, wie ein grüblerisches Stirnrunzeln aufzieht und verscheucht es schnell. Lässt sein allgegenwärtiges Lächeln aufblitzen und wendet sich seiner kultivierten Nachbarin mit der aufwändigen Frisur zu. Sehr elegantes Kostüm, vornehme Gesten, rundum sein Typ. Ein teures Parfüm steigt ihm in die Nase. Er berührt sie vorsichtig am Ärmel.

»Meine liebe Madame Gado, hätten Sie vielleicht Lust, uns heute Abend in ein Restaurant zu begleiten?«

Sie verzieht ihren breiten, fantasieanregenden Mund, als plagten sie plötzlich Zahnschmerzen.

»Wozu ich heute Abend Lust habe«, ihr Blick gleitet an ihm hinunter, dass ihm ganz heiß wird, »entscheide ich heute Abend.« Sie schnipst seine Finger von ihrem Ärmel wie ein Ekel erregendes Insekt.

Martin Sonntag ist sogleich vollkommen absorbiert von der Rede des britischen Experten. Er rückt ein Stück von ihr ab.

3

Ada spürt ein Ziehen im Rücken. Als sie sich umdreht, sieht sie aber nur Zuhörer, die dezent elegante Kleidung und fachkundige Gesichter tragen.

Etwas beunruhigt Ada. Sie kommt nicht darauf, was es sein kann, aber es verursacht ihr einen eisigen Klumpen im Magen.

Sie wendet ihre Aufmerksamkeit dem Sprecher zu, einem breitschultrigen Mann mit Schnäuzer und einem angenehmen Bariton, der oft lächelt. Ein englischer Spezialist, controlling and evaluation. Ada wartet auf sein Lächeln, fast nach jedem Satz kommt es. Seine grünen Augen scheinen direkt auf sie gerichtet. Sie versucht, sich auf seinen Text zu konzentrieren, aber er spricht enorm schnell, und sein Englisch ist mit Fachausdrücken gespickt.

Ada wird schläfrig. Im Dämmer der gleich bleibenden Stimme ... monitoring, ecological certificate ... schließt sie halb die Augen. Herr Pompöse gestern im Keller. Ich werde mich nach ihm erkundigen, beschließt sie. Was wird wohl aus der Grateful-Dead-Liebhaberin werden? Bis das Klatschen sie aus ihren Träumereien reißt.

Der Applaus für den Engländer ist verhalten. Höflich werden die Handflächen aneinander geschlagen, während ein Gemurmel und Getuschel beginnt, und die Ersten, Stühle scharrend, aufstehen und dem Ausgang zustreben.

In der Pause – »eine halbe Stunde bitte nur«, wie der smarte Martin Sonntag verkündet – werden Häppchen gereicht. Lachs auf winzigen Toaststücken. Klitzekleine Kaviarhäppchen verschwinden in großen Mündern. Ada grübelt, wer eigentlich die Konferenz finanziert hat.

Martin Sonntag schiebt sich durch die Leute, lässt hier und da eine durchweg mit wohlwollendem Nicken aufgenommene Bemerkung fallen und tritt dann zu ihr. »Nun, wie gefällt es Ihnen hier? Interessant genug? Wenn Sie heut Abend noch nichts vorhaben, würde ich Sie gerne mit ein paar Leuten aus der Holzwirtschaft bekannt machen. Auch einige ausgewählte Journalisten werden dabei sein. Sicher ganz nützlich für Sie, hm? Ich kenne ein ausgezeichnetes Restaurant hier in der Nähe. Tatsächlich ein Spitzenkoch, etwas ganz Besonderes, vor allem hier in der Gegend. Wenn Sie einverstanden sind, treffe ich Sie nach Ende der Veranstaltung in der Halle?«

Er nickt, nimmt wie selbstverständlich ihr Einverständnis vorweg. Dann gesellt er sich wieder unter die Leute, lächelt und redet unablässig. »Dreisprachig ist man hier in Mecklenburg«, hört sie ihn tönen. »Hochdütsch, plattdütsch und över anne Lütt!« Was er sich von den Umstehenden mit beifälligem Gelächter quittieren lässt.

Es ist noch Zeit bis zum nächsten Programmpunkt. Auf einmal packt sie das dringende Bedürfnis nach frischer Luft. Erleichtert lässt sie das abschwellende Stimmengemurmel hinter sich und tritt hinaus auf den Schlossplatz.

 

Ein älterer Mann in blauem Arbeitsanzug fegt den Vorplatz. Ada geht zu ihm und stellt erstaunt fest, dass seine Augen genauso blau sind wie sein Anzug. »Sagen Sie, wissen Sie etwas über Herrn Pompöse?«

Er lässt das Fegen sein, stützt sich auf den Besenstiel und sieht sie an, als hätte sie etwas Anstößiges gesagt. »Den kennen Sie?« 

»Ich habe ihn hier im Keller getroffen.«

»Ja, da lebt der. Der war in seinem Leben noch nie nich woanders. Genau wie seine Mutter, die hat hier früher in der Küche ausgeholfen. Ist aber schon lange tot. Das war hier ja bis vor kurzem noch ’n Heim für die Bekloppten. Herr Pompöse, haha! Der heißt wirklich so. Und wehe, du hast ihn nich so genannt, da war der stinksauer. Nich mal seine Mutter durfte Theobald zu ihm sagen. Na, das kam alles von wegen der Gasflaschengeschichte.«

Seine Äuglein blitzen vor Freude. Eine, der er was erzählen kann.

»Gasflaschengeschichte?«

»Durch den ganzen Speisesaal ist der geflogen! Mit seiner Mutter. Tatsächlich. Haben Sie nich sein Gesicht gesehen? Die haben sich nich viel Mühe gemacht damals mit ihm. Sieht gar nich gut aus, ne, die vernarbten Brandwunden. Hat leidenschaftlich gern gebastelt. Nu, das war dann auch vorbei. Jetzt sitzt er nur noch im stockfinsteren Keller rum, liebt die Dunkelheit. Der ist bestimmt da unten schon blind wie ’n Maulwurf. Jemand stellt ihm immer Essen hin. Muss einer aus dem Dorf sein. Keiner weiß, wer. Holt der sich immer nachts. Man sieht ihn nie. Da unten«, er beugt sich verschwörerisch zu Ada hin, »da führen unterirdische Gänge vom Schlosskeller kilometerweit. Stammt alles noch von den Betschwestern, war doch mal ’nen Kloster hier. Na, was die so getrieben haben? Das sind Gewölbe, ganze Welten da unten. Soll sogar von hier bis zu der unterirdischen Raketenabschussbasis in Rosenow führen. Hat noch keiner ganz erkundet. Wer da zu weit geht, der kommt nich mehr wieder. Vielleicht holt sich die Herr Pompöse?«

Er beginnt wieder zu fegen, eifrig, ohne sie weiter zu beachten, so als würde er mit seiner Sauberkeit die andere, erfreulich ordentliche Seite des Lebens verkörpern.

 

Eine Kastanienallee führt in den Park. Ada geht die Kopfsteinstraße entlang und atmet den Duft des frisch gemähten Grases ein, genießt die milde Stimmung. Wie anders, wie abgemildert und gedämpft ist doch das europäische Klima. Langsamer geht sie die schattige Allee weiter. Am Horizont das sanft wellige Hügelland, Kraniche und die Weite des Himmels über sich. Davor einer der fast unberührten Wälder mit urwüchsigem Baumbestand. Seit Jahrhunderten umzäuntes Jagdrevier der wechselnden Herrscher. Umweltschonend sind hier nur müde Sechsender und zahme Keiler den alten Herren vor die Flinten getrieben worden. Hirsch und Wildschwein für die Mächtigen.

Schmale Treppenstufen führen einen Hügel hinab und enden in verwildertem Gebüsch. Vielleicht beginnt hier ein Teil der unterirdischen Gänge, das Reich des Herrn Pompöse?

In der uralten kleinen Kirche mit dem Holzturm sind die Wände voller Malereien. Manchmal reisen Kenner nur deswegen hierher. Daneben, in einem windschiefen Häuschen, wohnt die alte Frieda. Wer bei den Ärzten keine Hilfe findet oder etwas über seine Zukunft wissen will, geht zu ihr, der Spökenkiekerin.

Drei rau verputzte Reihenhäuser stehen nebeneinander am Straßenrand. Ada sieht braune Hosenbeine in Augenhöhe hinter dem Wohnzimmerfenster. Gleich darauf rauscht etwas schwer zu Boden. Hat hier einer endgültig aufgegeben? Oder war das nur der missglückte Versuch, eine Gardine aufzuhängen?

Stets ein Anlass zur Freude, wenn man wieder hier ist, findet Ada. Dass man hier nicht leben muss. Nicht nur, dass alles langsamer geht als woanders, immer meint sie, den Mief der vergangenen Epoche zu riechen.

Vor dem kleinen Laden steht die Verkäuferin und raucht eine Zigarette. »Ach, wollen Sie was?«, fragt sie Ada verwundert, als sie grüßend an ihr vorbei durch die Tür tritt.

»Ja, allerdings. Oder haben Sie geschlossen?«