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Dietmar Dath

Deutschland macht dicht

Eine Mandelbaumiade

Mit Bildern von Piwi

Suhrkamp

Die Illustrationen im Buch stammen von Christopher Tauber (Piwi).
Der Umschlag wurde gestaltet von Hermann Michels und
Regina Göllner unter Verwendung einer Zeichnung von Piwi.









ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

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www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-518-73360-8

Deutschland macht dicht

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To Harlan Ellison, again,
in debt for all the stories
&
To Susan Ellison,
without whom ...

Man könnte meinen, eure Erklärung sei für eine kleine Herde menschlicher Kreaturen gegeben worden, die in einem Winkel der Welt eingepfercht ist, nicht aber für eine riesige Familie, der die Natur die ganze Erde zu ihrem Besitz und zu ihrer Wohnstatt gegeben hat.

Robespierre an den Nationalkonvent, 24. April 1793









Den Vorhang reißt auf
Es singt das Land
Es liegt der Hund begraben

Kristof Schreuf

CAVE CANEM

Alles in diesem Buch ist erfunden, aber nicht

so weltfremd wie das, was sie Nachrichten nennen.

1.
Schöner Junge

In der hübschen, aber viel zu teuren deutschen Stadt Frankfurt am Main lebte ein junger Mann. Wer ihn anschaute, fand ihn schön: schwarzhaarig, mit Augen voll Seele, nicht zu scharfen, keineswegs aber weichen Gesichtszügen, ein bißchen muskulös, ein bißchen traurig, ein bißchen schlampig. Er trug sich mit heftigen Absichten und war auf genau die richtige Art und Weise frech. Viel redete er nicht. Aber was er sagte, das saß.

Die aus eigener Schuld Dummen und Elenden hatten Angst vor ihm. Von denen gab es viele. Manchmal stieß er in der U- oder S-Bahn gegen ferngesteuerte Bankidioten, die sich auf albernen Metallrollern zwischen den Menschenströmen in langen Trippel- und kurzen Gleitphasen fortbewegten. Dann maß er sie von oben bis unten und sagte, nicht laut, aber deutlich, den Satz: »Du gehörst beseitigt.«

Im Rieseneinkaufszentrum »My Zeil« wollte er einmal eine von aufgetakelten Lebedamen blockierte Furt zwischen zwei Parfümtheken passieren. Sie gaben ihm den Weg nicht frei. Da hob er beide Arme und sprach: »Laß mich durch, ich muß Geschenke für tolle Frauen kaufen, ihr wißt ja, wie das ist, seid ja auch tolle Frauen!«

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Die Lebedamen lachten und verliebten sich. Er durfte durch.

Der schöne Junge besuchte das vernünftigste Gymnasium der Stadt. An Dienstagvormittagen fragte ihn dort manchmal seine Mathematiklehrerin, warum er montags nicht zum Unterricht erschienen war. Er guckte jedesmal traurig, wenn er ihr, mit leichten Variationen im Wortlaut, dann erklärte: »Wissen Sie, das ist so: Leider war ich tot. Kommt vom Feiern.« Sie sah es ein; er galt stets als entschuldigt. Diese Art Überzeugungskraft war es, die dem schönen Jungen bei allen, die ihn kannten, Respekt verschaffte.

Unter der Woche stand er abends mit seinen älteren Rocker-Brüdern und deren türkischen Hip-Hop-Kumpels gewöhnlich an der Galluswarte herum. Wenn er dort die zermürbten Redakteure der Erhabenen Zeitung sah, die eben ihren Arbeitsplatz verlassen hatten, um zu Frau und Kind zu fahren, rief er ihnen hinterher, während sie in die Pendelzüge stiegen: »Hey Süßer! Den ganzen Tag mitschreiben macht fett und verrückt!«

Oft sah ihm Jesus Christus aus der Deckung dabei zu.

Jesus Christus hatte ein Hobby: Er interessierte sich aus Liebe zum Nochniedagewesenen stets für die bestmöglichen Menschen. So stand der Heiland mitunter am Wasserhäuschen oder oben am Gleis, auch mal unauffällig neben der Litfaßsäule, und spähte nach dem schönen Jungen.

Man erkannte den Erlöser selten; Jesus Christus trug zu dieser Zeit einen langen Mantel, schwarze Jeans, mal ein T-Shirt, mal ein Hemd, immer feste Stiefel und einen schwarzen Cowboyhut. Als er den schönen Jungen nach Wochen und Monaten der eingehenden Beobachtung schließlich gut genug kannte, um sich über dessen Witze nicht mehr zu wundern, beschloß er, für einige Zeit aus dieser Geschichte zu verschwinden, denn es gab vor seiner Rückkehr einiges zu erledigen.

Ein Angestellter der Erhabenen Zeitung sagte dem schönen Jungen eines Tages aus Versehen beinahe die ganze Wahrheit. Das geschah bei einem der Spottflirtspiele, die der schöne Junge gegen diese Leute losließ. Der übermüdete Redakteur drehte sich um, betrachtete den schönen Jungen von oben bis unten, wie dieser sonst die verwirrten Banker zu betrachten pflegte, die ihm vor die Füße rutschten, und stellte ruhig fest: »Ich weiß, junger Mann. Ich weiß, daß es fett und verrückt macht, wenn man den ganzen Tag mitschreibt. Ich weiß bloß nicht mehr, wie ich nach Hause finden soll.«

»Spannend«, maulte der schöne Junge.

Der Redakteur nickte: »Ja. Spannend. Wissen Sie, die Verbindungen und Straßen stimmen nicht. Die ganze Anlage der Stadt und überhaupt Deutschland, das stimmt alles nicht mehr. Und die Sache wird immer schlimmer werden, bis der Stoffhase kommt. Der haut uns vielleicht raus. Könnte ja sein. Man weiß es nicht.«

Der schöne Junge wußte eine Erwiderung: »Fett bist du noch nicht. Aber verrückt schon.«

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Der schöne Junge hieß Hendrik.

Seine Familie hatte nicht viel Geld, da sich sein Vater, ein bedeutender Professor, zu viele Kinder gewünscht und Hendriks Mutter die ungeschickterweise sogar gekriegt hatte.

Weil aber Hendrik der klügste und jüngste von vier Brüdern war und sein Vater als bedeutender Professor wenigstens einen Nachkommen haben wollte, der ihm keine Schande machte, durfte Hendrik das vernünftigste Gymnasium der Stadt besuchen.

Dort war er mit zwei Mädchen gut bekannt. Sie hießen Rosalie und Clea.

Rosalie Vollfenster schaute zwischen langen glatten dunklen Haaren kritisch in die Welt und war furchtbar gescheit. Ihr Vater litt an keiner Armut, sondern war einer der Herausgeber der Erhabenen Zeitung. Clea Pinguin (den Nachnamen sprach man französisch aus: »Pängwäh«) brachte bei Unruhe die blonden Strähnen zum Wippen und war arg eingebildet. Ihre Mutter hatte sogar noch mehr Geld als Vater Vollfenster, weil sie als junge Frau vor lauter Schönheit von einem Glück ins andere gestolpert war.

Rosalie Vollfenster und Clea Pinguin hatten eines gemeinsam: Sie hätten beide gern was mit Hendrik angefangen. Hendrik, der sonst alles wußte, was er wissen wollte, hatte aus gut versteckter Tapsigkeit leider keine Ahnung, was er mit den beiden Mädchen anfangen sollte. So kam es, daß er keine Entscheidung zwischen ihnen traf. Die wäre ihm, wenn er einen guten Grund dafür gewußt hätte, eigentlich leichtgefallen: Clea fand er putzig, aber fade; Rosalie hatte er heimlich sehr lieb.

Die Heimlichkeit dieses Liebhabens war allerdings derart heimlich, daß er selbst fast gar nichts davon mitbekam. Der Groschen rollte und rollte, immer im Kreis herum, und wollte einfach nicht fallen.

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Schließlich brachte ihn Rosalie, eher nebenbei als gezielt, zumindest auf eine Idee, was man mit Clea anfangen konnte. Aus dem, was dann geschah, ergab sich etwas, das er schließlich nicht mit Clea, sondern doch noch mit Rosalie anfing: die mehr oder weniger notwendige Rettung Deutschlands.

Davon soll hier erzählt werden.

2.
Bei den Unterrichteten

Die Erhabene Zeitung erlebte einen turbulenten Tag.

Die Konferenz aller Ressorts im fünften Stock des verglasten Schlachtschiffbaus, in dem alles redigiert wurde, was diese Zeitung brachte, stand im Zeichen zahlreicher Beschwerden und Sorgen der Beschäftigten. Die Leitenden Kräfte hatten ihre liebe Not damit, der Stimmung Herr zu werden. Unzufrieden war man vor allem mit den neuen Redaktionsboten, überzüchteten Menschenaffen und per Hirnchip-Upgrade verbesserten Delphinen in fahrbaren Tanks, die man Versuchsanstalten großer Pharmaunternehmen preiswert abgenommen hatte.

»Die Tanks kommen bei uns nicht durch die Tür«, moserte jemand vom Sport.

»Der neue Affe klaut Bücher. Vor allem Bilderbücher«, beschwerte sich eine Dame von der Kunst. »Wir hätten die alten Boten nie ausmustern dürfen. Sie waren langsam, mißmutig und böswillig, aber es waren doch, wie sagt man? Menschen!« faßte ein Herr vom Regionalen zusammen.

»Denken Sie, das sind Probleme?« blaffte der für die Wirtschaft zuständige Herausgeber, der am Kopfende der viereckigen Sitzanordnung saß. »Was glauben Sie, was in Deutschland los ist?« ergänzte er seinen Ausbruch. Dann nickte er seinem dienstältesten Wirtschaftsdenker zu. Dieser räusperte sich.

Es gab ein polterndes Geräusch an der Tür, weil einer der Affen einen der Delphintanks mit Absicht gegen die Wand gekippt hatte. Die neuen Boten wußten nämlich, worüber drinnen heute geredet wurde (es gab eine undichte Stelle im Ressort »Deutschland und die Welt«).

Der Herausgeber für Politik warf im Aufspringen seinen Stuhl um, stieß die Türflügel auseinander, trat gegen den gekippten Tank und rief: »Herrgott! Sind wir denn im Zoo? Wir sind nicht im Zoo!«

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Als er an den langen Tisch zurückgekehrt war, räusperte sich der dienstälteste Wirtschaftsdenker erneut, bis er alle Blicke auf sich spürte. Dann erzählte er sachlich, was in Deutschland los war: Die Autoindustrie hätte »rein von den vorhandenen Produktivitätskapazitäten her« noch zwanzigmal so viele unverkäufliche Autos produzieren können, wie sie bereits ausstieß. Die großen Familienkaufhäuser schmolzen in der Sonne. Der nicht vermittelbare Arbeitsmarktnachschub roch strenger als der Butterberg. Marsraketen weigerten sich, zu starten; Sozialdemokraten saßen drin.

»Lieber Gott, und der Nachwuchs«, mischte sich eine seiner weniger erfahrenen Kolleginnen ein, »nahörnsemirauf. Der Bunzler ...«

»Wer?« fragte der Politikherausgeber streng. Die Dame faßte sich mit Mühe und sagte: »Verzeihung. Der ... Bundeskanzler ... selber ... selbst hat schon wieder zweihundert hochmotivierte, topqualifizierte junge Leute auf die Straße gesetzt, die ihn in Berlin über die arabische Welt, die High-Tech-Zukunft und die Trends bei der Jugend beraten haben. Wollen jetzt alle in die Medien. Melden sich bei uns. Und Verwaltungsstellen, ach Gott ... Da kriegt man massenhaft Bewerbungen von Top-Juristen, die früher alle in die Anwaltskanzleien gegangen sind oder in die Wirtschaft. Die suchen Unterschlupf beim Staat. Es sieht übel aus, das kann ich Ihnen sagen.«

Die Damen und Herren, die diese finstere Debatte führten, waren nicht irgendwelche kopflosen Meinungszwerge. Es handelte sich um Leute mit Licht im Hirn, um literarische Begabungen mit ansteckenden rhetorischen Leidenschaften, um anmutige Geschöpfe, die etwa ein Schillergymnasium besucht, nach dem juristischen Staatsexamen ihr Herz für den Journalismus entdeckt, nach Diplomprüfungen als Soziologen ihre erste Buchkritik geschrieben, Werkausgaben von unsterblichen Kriminalschriftstellerinnen kommentiert, eine Verlagskaufmannsausbildung abgeschlossen, über Dichte- und Temperaturverteilung in der Hochatmosphäre der Erde promoviert, in Prag die Filmschule kennengelernt, eine Tätigkeit im NATO-Hauptquartier hinter sich gebracht, eine vielbeachtete Arbeit über Alban Berg verfaßt oder in Heidelberg das Graecum absolviert hatten. Es waren die Besten.

Sie wußten, wovon sie schrieben und redeten.

Was nun anstand, in dieser neuen, ernsten Lage, wollten sie dringend herausfinden.

»Es ist alles erst der Anfang«, faßte ein bärtiger Mann mit gemütlichem Gesichtsausdruck, der für die Kultur zuständige Herausgeber Bernd Vollfenster, der noch am nämlichen Tag zu einer wichtigen Amerikareise aufbrechen sollte, mit morbider Verve zusammen. Der Mensch, der sich über die Delphine beschwert hatte, konnte einen Zwischenruf nicht unterdrücken: »Der Anfang? Nein! Das ist das Ende!«

»Eben«, stimmte Vollfenster zu, »genau das ist die Situation: Dieses Ende ist erst der Anfang!«

3.
In Amerika

»Doof!« schimpfte Rosalie.

Hätte ihr Vater ihr tatsächlich ein Kuscheltier geschenkt, als ihm das auf dem Frankfurter Flughafen spontan eingefallen war – »Ich mag keine Tiere, weder echte noch solche!« hatte sie geschimpft und damit den Einfall vernichtet –, dann hätte sie das Viech jetzt wenigstens schlagen oder würgen können.

Und hätte er ihr in der Flughafenbuchhandlung ein Buch gekauft – »Diesen Harry Potter, willst du das nicht doch mal ausprobieren?« – »Ich mag keine Bücher, ich will Zeitschriften!« hatte sie genörgelt und damit auch diese zweite Idee zerstört –, dann hätte sie es jetzt immerhin zerrupfen oder an die Wand werfen können.

»Doof! Doof und ... und doof!«

Drei Wochen Amerika, inklusive Wüste, Las Vegas, Los Angeles und New York: eigentlich prima. Aber daß das alles mit einem Geschäftstermin in diesem heißen, müden, eidechsenstarren Südstaatennest losgehen mußte, offenbar einem streng geheimen Treffen, zu dem sie nicht mitdurfte, weil es dabei um das Schicksal Deutschlands ging und andere dicke Dinger, das stank nach faulen Eiern.

»Unser Hotel wirst du mögen. Ist nicht so ein Betonkasten, sondern ein schönes weißes Holzhaus mit Balkon. Wir haben praktisch eine eigene Wohnung. Jeder kriegt ein Zimmer, du kannst da kochen und fernsehen. Außen rum stehen viele schöne Bäume, tolle Landschaft, ein schöner Fluß, weiter Himmel ...«

Das stimmte alles; von den schönen Bäumen hingen sogar ganz fantastische Hängemoosgardinen herunter.

Die Ankunft gestern abend, samt Essengehen im »Reel Café«, war aufregend und toll gewesen. Dieser Mittag jetzt aber: »Doof! Vollständig und extremst doof!«

Es gab kein Kuscheltier und auch kein Buch zum Würgen oder Schmeißen, nur Rosalie, die luftig gigantischen Kissen, das Bett, auf dem sie lag, und wie sie das alles fand: »Ehrlich richtig wahnsinnig überraschend doof!«

Sie meinte damit, daß sie ortsfremd, fünfzehn Jahre alt und deshalb hier leider gefangen war. Wäre sie kein Mädchen gewesen, dachte sie ungezogen, hätte sie wenigstens die Waschmaschine suchen können, die es irgendwo im Gebäude sicher geben mußte, und in die Trommel pinkeln.

»Aber da kriege ich meinen Hintern nicht rein, wenn es keine große Trommel ist«, erklärte sie dem alten, mit Rüschenhemd und Uniform aufgemotzten Knallkopf auf dem immensen Ölbild überm Bett. Dann schlug sie mit der flachen Hand das dicke, mit detailreichen Gold- und Silberfadenstickereien verzierte Kissen zu ihrer Rechten zusammen und schrie ein Weilchen unartikuliert herum.

So böse wie diese Idee mit dem Pinkeln in die Wäschetrommel war Rosalie sonst nicht. Wer sie kannte, fand sie kein bißchen böse, eigentlich nicht mal richtig frech.

Ihr war nur langweilig wie noch nie in ihrem ganzen Leben. So langweilig würde ihr, da sie sich, ohne es zu ahnen, bereits auf dem Weg in ein ungeheures Abenteuer befand, nie wieder sein. Vielleicht hätte sie die trübe Laune, in der sie schwamm, sogar genießen können, wenn sie gewußt hätte, was ihr, einmal zurück in Deutschland, bald passieren mußte. Da sie davon jedoch keinen Schimmer hatte, dachte sie an anderes – zunächst an Durst und Hunger, die sie aber beide nicht hinreichend verspürte, um sich damit ausführlicher zu befassen, dann aber daran, daß das mit der Waschmaschine eine unverwechselbare Hendrik-Idee war. Etwas undeutlich, weil ein langes schwarzes Haarsträhnchen, an dem sie eben noch rumgelutscht hatte, im rechten Mundwinkel klebte, sagte sie: »Die Idee ist so Hendrik wie nur was.«

Prächtig: Nach drei Stunden CD-Hörerei – immer wieder ihre vier Lieblingsplatten: The Verve mit »Bittersweet Symphony«, Vanessa Carlton, Kim Richey aus der Sammlung ihrer verstorbenen Mutter und die erste Dido– nach zweimaligem Komplettdurchlesen von »Sugar« sowie »Bravo Girl« und zunehmend unzufriedenerem Blättern im amerikanischen Heftchen »Teen People« aus dem Village Market dachte sie jetzt also doch wieder an Hendrik. Zum Glück gehörte das Wort »Sehnsucht« nicht zu Rosalies aktivem Wortschatz. Diese Sachen werden schlimmer, wenn man weiß, wie sie heißen. »Doof! Riesendoof! Weltüberdoof!«

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Den Ausdruck hatte sie ebenfalls von Hendrik – so ging seine Lieblingssteigerung: Ein gutes Musikstück zum Beispiel war ein Hit, ein besseres ein Überhit und das beste ein Weltüberhit.

Adressat der Beschwerde betreffs Weltüberdoofheit von Rosalies gegenwärtiger Situation war genaugenommen niemand. Stur starrte sie beim Maulen nach oben auf das Lichtviereck in der Decke.

Rosalie griff nach dem Bündel Dollarscheine auf dem Nachttisch – »Trinkgeld, wenn du dir was aufs Zimmer kommen läßt« (Vater Vollfenster).

Sie faltete das Bündel auseinander, nahm einen Schein in die Hand und untersuchte Einzelheiten. Da schaute streng Herr Washington, der aufgedunsen aussah, wie Vaters dummer Bekannter Hänsel, von dem Rosalie wußte, daß er soff. Sie bewunderte die Pyramide mit dem Auge drin, den Adler und die kleinen Inschriften:

THIS NOTE IS LEGAL TENDER
FOR ALL DEBTS, PUBLIC AND PRIVATE
Treasurer of the United States.
Series 2008
Secretary of the Treasury.

Die meisten der gelbgrünen Noten waren brandneu.

Eine indes schimmelte in der Mitte angegilbt. Ihre leicht gerundeten Ecken sahen stumpf aus. Rosalie nahm den Schein in die Hand, befühlte ihn zwischen Daumen und Zeigefingern und schnupperte. Der Duft wehte sie überraschend organisch an, wie etwas vormals Lebendiges, das jetzt tot war, ein erschlafftes Salatblatt vielleicht. Rosalie schob die Muffelnote zwischen die frischen Geschwister, faltete das Bündel zusammen und schob es in die linke Jeanstasche. Von wegen Trinkgeld! Wenn überhaupt was, dann haue ich damit nachher ab und geh irgendwo flippern oder wie. Das glaubte sie zwar selbst nicht, weil sie wußte, was so ein Ausreißen für Konsequenzen haben mußte. Aber es fühlte sich gut an, wenigstens kurz vom Ausbruch zu träumen.

Zwei Minuten schneckten todmüde vorüber. Dann schwang Rosalie sich vom Bett und trottete, plump wie ein Yeti, vornübergebeugt von der Last krepierender Zeit, ins Wohnzimmer. Dort warf sie sich auf die Couch und nahm die Fernbedienung vom kniehohen Glastisch. Ewigkeiten früher – genau vor einer Stunde – hatte sie sich schon einmal vor den Apparat gesetzt, die einundsechzig Kanäle nach zweimaligem Komplettdurchzappen aber rasch gründlich satt gehabt. Ergebnis jener enttäuschenden Erfahrung war der Vorsatz gewesen, sich lieber auf jede denkbare andere Art zu beschäftigen als mit diesem Dreck. Da der Vorsatz nicht einzuhalten war, knipste sie den Kasten an und quengelte dabei: »Hab’ ich mir übrigens aber auch spannender vorgestellt, das amerikanische Fernsehen.«

Die Scheibe zeigte zwei Politiker, die sich übers Defizit, das Gesundheitssystem und Subventionen für ausgetrocknete Farmer stritten.

Zapp.

Ein Anwalt erklärte der Menschheit eine Versicherung, die man kaufen konnte. Das fand er ganz erstaunlich.

Zapp.

Trickfilmtiere spielten sich in kranken Farben auf, als hinge alles davon ab.

Zepp.

Schießerei am Fluß: Glänzende Wildweststiefel fielen schreiend vom Pferd oder schlicht um.

Zopp.

Eine künstliche Frau schrie ihre überschminkte Liebe einem Mann in dessen hohe Frisur, wo sie kleben blieb.

Zippi-Zappinchen.

Ein Geräusch aus der Wirklichkeit störte.

Rosalies Blick rutschte nach rechts, vom Schirm weg, zur Holztür mit weißer Klappjalousie. Dahinter tauchte ein schwarzes Gesicht auf, ein Junge. Rosalie erschrak. Der aus dem Nichts Erschienene trug ein knalloranges T-Shirt und khakifarbene Hosen. Seine Schuhe sah sie nicht, weil die Tür sie verdeckte. Er schaute Rosalie an, sie ihn auch, lange.

Dann merkte sie, daß da noch zwei weitere Typen in ähnlich grell sportiven Klamotten standen und laut diskutierten, auf dem grünen Rollteppich, wo ein extrem unterwürfiger Hotelangestellter heute morgen den prallen Frühstückskorb abgestellt hatte.

Rosalie lächelte, mehr aus Vorsicht als aus Freundlichkeit: Ich bin jedenfalls nicht gefährlich, okay?

Es funktionierte. Der Junge verlor das Interesse an ihr und ging nach links zum Geländer. Die Kumpels folgten. Sie stritten sich: »No ... y’ain’t gonna do that.«

»Try me.«

»He just be messin’ wi’ you.«

Lachen.

Dann schwangen sich die Leute, einer nach dem andern, übers Holzgeländer. Rosalie hörte Poltern, Rascheln: Sind sie jetzt auf dem Parkplatz gelandet? Ihr wäre das zu tief gewesen zum Runterspringen. Die drei waren sicher älter als sie – siebzehn, achtzehn Jahre? – und natürlich athletisch rausgefressen, aber trotzdem: zwei Meter, zweieinhalb, drei?

Mit plötzlich glühendem Interesse starrte Rosalie aufmerksam auf den Schirm, wo eine Sitcom über High-School-Kids voll strohdummer Liebesprobleme anfing.

Ihr Verstand verbiß sich in den Gedanken, daß sie nicht wußte, ob das da gerade harmlos gewesen war oder nicht doch etwas Gefährliches. Sie wußte nicht, woran sie war, weil sie sich in diesem Land nicht auskannte. In Deutschland hätte sie alles verstanden, das wurde ihr jetzt mit einer Art Heimwehstich in der Seele bewußt. Wieso ließ ihr blöder Vater sie überhaupt so lange hier allein? Was sollte das eigentlich für ein wichtiger Geheimtermin sein, war der wirklich nötig?

Als eine blonde Polizistin in dunkelblauer Uniform und mit einem schwarzen metallischen Stab (Lampe, Knüppel?) in der Hand vor der Tür erschien und klopfte, zuckte Rosalie zusammen. War ja klar, mein schlimmster Alptraum, jetzt werde ich komplett erschossen.

»Is this about the boys?« fragte sie, als sie der Beamtin die Tür öffnete, und wartete die Antwort gar nicht ab, sondern haspelte gleich hinterher: »I have seen the boys, there were three black boys here ...«, das englische Wort für »vorhin« fiel ihr nicht ein, sie spürte ihr Herz im Hals klopfen.

Die Polizistin nickte und lächelte: »You jus’ keep yer calm there, young lady.«

Etwas an der Frau fiel Rosalie störend auf.

Sie brauchte eine Weile, um zu verstehen, daß es das Gesicht war: verwaschen, unscharf – die Nase schien, abgesehen von den beiden Löchern, bloß aufgemalt, als hätte es dem Schöpfer gefallen, diese Frau nur als Skizze auszuführen. Wozu konkrete Züge, »blond« reicht ja auch. Um den Hals der Frau hing eine Plastikplakette mit kleinem Fotofenster, in dem man das Gesicht anschauen konnte, wie es eigentlich sein sollte.

Rosalie wußte, daß es in Amerika bereits recht viele von diesen neuartigen Menschen gab.

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In Deutschland waren ihr erst wenige aufgefallen – »tja nun, billige Leute«, hatte ihr Vater dazu gesagt, als Rosalie überm Atlantik auf eine Stewardeß gedeutet hatte, die ihr unheimlich gewesen war. »Davon wird es jetzt immer mehr geben. Andere können sich die Firmen bald gar nicht mehr leisten. Das ist die Wirtschaftslage, weißt du, Mäuschen.«

Über die Schulter der Beamtin, der es nichts auszumachen schien, so angestarrt zu werden, sah Rosalie den Parkplatzwächter der Ferienhausanlage wild gestikulieren. Bei ihm stand, zwischen zwei Polizeiautos, ein dicker Mann in kurzen Hosen mit Walroßschnauzbart. Rosalie zählte rings fünf weitere Polizisten. Einer hielt einen Hund an der Leine, der sich dauernd nach vorne wegduckte, als wollte er springen, jemanden anfallen.

Die Polizistin erklärte Rosalie, die ihre Worte mehr der ungefähren als der konkreten Bedeutung nach verstand, daß die Jungs auf das Dach einer benachbarten Wohnanlage gesprungen seien, um dort einzubrechen und Fernseher, Blu-ray-player und ähnliches zu stehlen. Das eiserne Tor zum Innenhof dieser Anlage war aber verschlossen, so mußten die Spitzbuben wieder zurück aufs Dach klettern. Zu dieser Erläuterung passend fing jetzt einer der Cops auf dem Parkplatz an, die Jugendlichen per Megaphon aufzufordern, gefälligst sofort aufzugeben und herunterzuklettern.

Die Polizistin fragte Rosalie: »Where do you come from, young lady?«

»Germany.«

Die Beamtin nickte freundlich. »Isch kenne bissken Deutsch. My dad, he was in the army, near Frankfurt. Du ... stay at your room, alright? Kauf disch Eiskrem mit telephone!«

Rosalie nickte dankbar.

Eis mit Telefon, schmeckt überlecker.

Sie lächelte nervös und schloß wie angewiesen die Tür, verriegelte sie auch, was ihr, da draußen immerhin eine Gesetzeshüterin stand, eigentlich übertrieben vorkam. Dann bestellte sie sich radebrechend, aber folgsam Eis beim Hotelmanagement.

Als das Zeug kam, ging die Polizistin gerade. Die Jugendlichen wurden unten abgeführt.

Brav gab Rosalie dem Mädchen, das die Schüssel mit dem Eis brachte, drei Dollar Trinkgeld und bemerkte dabei flüchtig, daß der angegammelte Schein von vorhin jetzt sogar noch ein bißchen labbriger, blasser, gelblicher wirkte, als wäre er unwirklich rasch weiter ausgeblichen.

Dann hängte sie sich sofort ans Telefon und rief Hendrik an. Es war jetzt zwei Uhr nachmittags Ortszeit hier, also acht Uhr abends in Deutschland, da durfte man am Samstag langsam wach sein. »Röschen!« zog er sie, als er verstanden hatte, wer da redete, sofort mit dem Spitznamen auf, den sie haßte. Immer, wenn er das tat, schwankte sie zwischen zwei Möglichkeiten, sich zu erklären, was er damit meinte: Sollte sie das beleidigen oder nur eine künstliche Distanz betonen, damit man ihm nicht anmerkte, daß er sie genauso gern mochte wie sie ihn?

»Was geht in Ameeeeerika?«

»Du, ich hab’ überhaupt keinen Plan mehr. Hier ist ein Überfall auf dem Balkon oder so!«

»Wo? Was ist da?«

»Hier wollten so paar Teenies einbrechen. Jetzt macht die Armee da rum und das FBI und die imperialen Sturmtruppen, und gleich explodiert bestimmt alles! Einer hat mich gesehen! Wenn die Jungs jetzt in den Knast kommen, dann denken die, ich hab sie verpetzt, dann schicken die das Mordkommando mit den großen Brüdern, dann werde ich abgemurkst!«

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»Was? Was laberst du denn für Holz? Röschen? Guckst du fern auf Drogen?«

Also erzählte sie ihm, was ihr begegnet war, so ausführlich, daß sie, als ihr Vater endlich von seinem Verschwörertreffen zurückkehrte, nicht nur vom Eis, das sie während des Telefonats in sich hineingestopft hatte, so pappsatt war, daß man die Idee »Abendessen« »glatt vergessen« (Rosalie) konnte, sondern auch keine Lust mehr verspürte, die Staatsaffäre anders als mit allergröbsten Stichworten ein zweites Mal zu erzählen.

Einmal immerhin hatte genügt, um Hendrik zu inspirieren: »Siehste, Amateure. Wenn ich jemals was Kriminelles mache, dann jedenfalls nur mit Profis. Nicht mit so Loserkumpels. Einbruch, wie blöd! Wenn die wenigstens jemanden entführen würden – die Tochter vom reichen Herrn Vollfenster zum Beispiel ...«

»Ja genau, sauwitzig, echt! So reich ist mein Vater gar nicht, du Dummarsch. Wenn schon wen, dann sollten sie deine notgeile Freundin Clea entführen!«

»Was denn, Freundin? Mein Herz gehört nur dir, Röschen!«

»Ja, lall doch.« Sie war geschmeichelt. Er hatte fast gewonnen und machte nichts daraus; wie immer.

4.
Beim Chef

Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hing vollständig bekleidet, Kopf nach unten, in seinem Büro, die Fußgelenke mit eisernen Reifen an einer Teppichstange befestigt. Vor einiger Zeit war er noch eine Frau gewesen, das mußte jetzt abgearbeitet werden. Manchmal machte er »Pah!« und blies verbrauchte Luft aus dem Gesicht.

Das puffte in regelmäßigen Abständen, beim Reden wie beim Schweigen. Hin und wieder geriet ihm die Krawatte vor die Augen. Er trug dies mit Würde.

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Der Kanzler war der Ansicht, daß ihm das dicke Blut, das auf diese Weise aus den Füßen in den Kopf runterfiel, beim Denken half. Niemand widersprach.

In bis kurz vorm Platzen aufgepumpten rabenschwarzen Lederstühlen saßen beim Kanzler sein Wirtschaftsminister und der Geist des Sozialwissenschaftlers Joseph Schumpeter.

»Geist«, das Wort umschreibt hier etwas, das Fachleute eine holoektoplasmatische Vollsimulation würden genannt haben. Diese spezielle Version – es gab diverse andere, über den Planeten verstreut – eines Schattens des Autors von »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung« hatte der Vorstandssprecher eines großen japanischen Unterhaltungselektronikkonzerns dem Kanzler geschenkt, um sich für die Option zu bedanken, große Teile bundeseigenen Berliner Grundbesitzes erwerben zu dürfen, »wenn’s eng wird« (der Kanzler).