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ISBN 978-3-8270-7899-5
Januar 2017
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
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Covermotiv: FinePic®, München
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1

Etwas hatte sich bewegt, draußen auf der Veranda.

Ein heller, keuchender Schatten in der feuchten Abenddämmerung.

Oder nicht?

Der Junge hob den Blick von seinem neuen Puzzle, das er auf dem dunklen Teppich nahe der halb geöffneten Verandatür legte.

Ein Dino-Puzzle. Nur noch ein Teil, der linke Hinterfuß, dann war der Dino fertig.

Er blickte neugierig hinaus und betastete dabei das glatte, an den Rändern so sonderbar gewundene Teil in seiner rechten Hand. Drehte und wendete es, im Vorgefühl seines Glücks, hin und her.

Plötzlich war der Schatten ganz nah.

Er stand direkt hinter der breiten Glasfront.

Und stieß im nächsten Moment die Tür ganz auf.

Der Junge zuckte vor Schreck zusammen.

Aber schon im nächsten Augenblick musste er lachen.

Da stand ja ein Bienenmann!

In einem weißen Anzug, der den ganzen Körper bedeckte, vom Hals bis runter zu den Füßen. Mit einem runden weißen Hut auf dem Kopf und einem dunklen Netz vor dem Gesicht. Und mit Handschuhen natürlich, um die Hände zu schützen.

Ein Bienenmann, ja. Seine Eltern hatten einen anderen Namen für den Bienenmann, aber den konnte er sich nicht merken.

Ein Bienenmann liebte die Bienen und sorgte dafür, dass es Honig gab.

Der Junge liebte Bienenhonig.

Aber was wollte der Bienenmann? Hier in ihrem Haus? Er schaute ihn erwartungsvoll an.

Doch der Bienenmann blieb stumm. Senkte nur den Kopf und schien ihn anzustarren durch sein braunschwarzes Netz vor dem Gesicht.

Das war unheimlich.

Etwas stimmte nicht mit diesem Bienenmann.

Der Junge spürte, wie seine Lippen zu zittern begannen.

Im nächsten Moment hob der Bienenmann seinen Arm in die Luft, in der Hand befand sich ein glänzendes schwarzes Ding.

Und dann platzte die Welt mit einem gewaltigen Knall auseinander!

Der Junge wirbelte herum, sah den feinen weißen Pulverschnee, der aus einem Loch in der Wand auf die rote Couch hinabrieselte. Ein Blitz hatte eingeschlagen, zuckte mitten durchs Zimmer, zerfetzte die Wände, brachte die Decke zum Bersten. Der Esstisch, die Stühle, der Fernseher, sogar der Teppich unter seinen Füßen, alles begann sich in einem wilden Wirbel um ihn herum zu drehen.

Sein Herz raste, etwas Schleimiges, furchtbar Saures stieg in seinem Hals auf, steckte dann fest. Sein Bauch begann zu zucken und zu krampfen.

Er wollte schreien.

Wegrennen.

Zu Mami in die Küche.

Zu Papa, der draußen war, irgendwo verborgen in der dicken grauen Suppe des Vorgartens.

Aber seine Lippen gehorchten ihm nicht, er bekam den Mund nicht auf. Wie festgeklebt. Seine Beine waren kalt und steif, bewegten sich keinen Zentimeter. Er fühlte, wie er sich in die Hose machte.

Er hatte jetzt nur noch eines, an das er sich klammern konnte: das Dino-Bein, sein Puzzleteil, das er hatte legen wollen. Er presste es in seiner Faust zusammen, bis er es nicht mehr fühlte.

Auf einmal war Mami da.

Doch sie sah gar nicht aus wie Mami. Sie war weiß wie eine Wand, hatte die Augen aufgerissen wie ein Monster.

Jemand schrie etwas, er verstand nicht, was, aber Mami konnte das nicht sein, die schrie nicht, niemals.

Plötzlich waren aber auch ihre wild erhobenen Fäuste in der Luft. Sie schien keine Angst vor dem schwarzen Ding in der Hand des Bienenmanns zu haben.

Doch das Ding schlug furchtbar heftig zurück, mit voller Wucht seitlich gegen ihren Kopf.

Es gab einen Laut, als würde eine große Nuss geknackt.

Mami sackte zusammen. Es machte ein schlimmes, dumpfes Geräusch, als ihr Hinterkopf auf dem Boden aufschlug.

»Mami!«

Er wollte zu ihr. Aber die Hand des Bienenmanns packte ihn von hinten an seinen Haaren und hielt ihn fest.

Komisch, es tat gar nicht weh. Er spürte nichts.

»Verflucht! Was …?«

Das war Papa!

Endlich.

Papas Stimme in seinem Rücken.

»Papa!«

Der Bienenmann schleuderte ihn an den Haaren herum. Er flog beinahe, fuhr Karussell … he, Pferdchen, schneller, schneller!

Es knallte von Neuem. Das schwarze Ding spuckte wieder seinen Blitz.

»Papa!«

Sein Vater stöhnte auf. Er tapste rückwärts wie ein Tanzbär. Es sah lustig aus. Papa schien sich vor Vergnügen zu schütteln. Er schlug der Länge nach hin.

»Papa!«

Sein Vater lag auf dem Rücken und versuchte wieder aufzustehen, doch es gelang ihm nur, den Kopf zu heben.

Aber Papa lachte ja! Sein Mund stand weit auf, er gab einen gurgelnden Laut von sich, wie beim Zähneputzen. Roter Saft floss über seine Lippen wie Himbeersaft.

Jetzt wusste er es: Papa spielte einen Clown!

Aber auch aus einem Loch in seinem weißen Hemd floss Himbeersaft. Er floss sogar unter seinem Rücken. Das war seltsam.

Dann fiel der Kopf wieder zurück und schlug hart auf dem Boden auf. Papa begann am ganzen Körper zu zittern, immer heftiger, die Arme und Beine zuckten wild.

Das sah hässlich aus, er wollte das nicht sehen.

»Neeeeiiiin!«

Im nächsten Moment rührte Papa sich nicht mehr.

Der Bienenmann riss wieder an seinen Haaren, zerrte ihn fort. Weg von Papa.

»Papaaaa!«

Weiter, schneller. Fort. Durch die hässliche graue, nasse Nebelwolle im Garten. Runter zum See, riesig und schwarz lag er da. Feen und Elfen tanzten darauf, sahen aus wie weiße Nebelfetzen.

Wartet auf mich! Bitte! Wartet doch … ich …

2

In der Dämmerung verließ sie ihr Zelt und verdeckte es wieder sorgfältig mit dem Tarnnetz, an den Seiten zusätzlich mit Ästen und Zweigen. Nicht, dass es nötig gewesen wäre. Ihre Behausung stand tief genug im Sumpf, es war ausgewiesenes, umzäuntes Naturschutzgebiet, nicht mal die Förster betraten es. Aber wenn sie eines im Leben gelernt hatte, dann, dass auf nichts Verlass war, am wenigsten auf Wahrscheinlichkeiten. Das Unwahrscheinliche, Außergewöhnliche, angeblich Unmögliche konnte jederzeit geschehen.

Wie jeden Abend kämmte sie sich geduldig durch das Schilf, übersprang die Wassergräben, stakste mit den schweren Stiefeln durch fette, feuchte, schwarze Erde. Sie mochte das.

Dann erreichte sie das mit ersten Herbstblättern beschenkte Waldgebiet, das Wunder aus Totholz, Moosen, Farnen, Sträuchern, Birken, Erlen. Zwängte sich durch das kaum sichtbare Loch im Maschendrahtzaun.

Fette graue Pilze, die wie Ufos an den dunklen Stämmen klebten, die waren neu. An einzelnen Tannen hing das Herbstlaub wie verfrühter Weihnachtsschmuck.

Sie ging die lange Schneise entlang, die an den jahrzehntealten Holzstapeln vorbei zum Kanal führte.

Das Bild veränderte sich, wurde grüner, gelber. Dann nebliger.

Unten am Ufer des Kanals balancierte sie auf den trittschmalen betonierten Befestigungen, bis sie den See erreichte, unzugänglich für jeden, der es nicht machte wie sie und dabei stets riskierte, in den Kanal zu stürzen.

Der Blick wurde weit, sie atmete tief ein. Würzige feuchte Luft.

Kein Mensch außer ihr. Kaum ein Laut.

Das Wasser lag ruhig und glatt unter einem verblassenden Abendhimmel wie aus rauchgrauem Glas.

Von Ferne hörte sie ein Geräusch. Es kam vom See, von weit her. Vom Reich der Reichen drüben auf der anderen Seite.

Dann erkannte sie den dunklen Fleck vor dem Abendgrau, ein Boot, das um die Landzunge herum näher kam. Sie trat ein paar Schritte zurück ins Unterholz.

Das Boot verminderte sein Tempo und sie wandte sich um, musste verschwinden, bevor das Boot anlegte. Doch dann hörte sie es auf gleicher Höhe in den Kanal einmünden. Die dichte Bewaldung versperrte die Sicht, aber das Geräusch verlor sich rasch in der Entfernung.

Sie atmete auf.

Schon die bloße Vorstellung, dass es hätte anlegen können, ließ sie erschauern.

Sie würde auf der Hut sein müssen.

Und das würde niemals aufhören.

Aber sie hatte es ja so gewollt.

3

Corinna hob ihren Blick von der Zeitschrift, in der sie lustlos geblättert hatte, und sah ihn vom Sofa her verstört an.

Roman Baer saß ihr im Sessel gegenüber, streifte seine Armbanduhr, deren Batterie er soeben gewechselt hatte, wieder übers Handgelenk, und wusste bereits, was sie sagen würde.

»Hörst du das, Roman?«

Und ob er das hörte. Die Bässe hatten wieder eingesetzt. Wie dumpfe Detonationen, die den Boden unter ihren Füßen erzittern ließen. »Müssen neue Gäste sein.«

Solche, die keinen Gedanken daran verschwendeten, dass dies hier ein ganz normales Wohnhaus in Schöneberg war. Kein Club am Alex oder in Friedrichshain.

Die keine Ahnung hatten, dass über ihnen im Zweiten eine kranke Frau lebte, die vor einem Jahr einen Schlaganfall erlitten hatte.

Seine Frau.

Seit einer geschlagenen Stunde ging das nun schon, budumm, budumm, budumm.

»Weißt du, wie früher es ist, Roman?«

»Gleich halb zwölf, Schatz.«

»Roman?«

»Hm?«

»Was ist … was heißt Schatz?«

Ihr verzweifelter Blick stach ihm direkt ins Herz.

Budumm, budumm.

Sie schaute auf ihre Füße. In den roten Hausschuhen schienen sie zu beben. »Roman. Das macht mir …« Sie sah ihn erschrocken an. Wieder ein Wort, das ihr nicht einfiel. »Es macht …«

Baer erhob sich ächzend aus seinem Sessel. Es machte ihr Angst. Sie konnte es nicht einordnen, jedenfalls nicht unter der Kategorie Musik. Er ebenso wenig. »Ich geh runter.«

Im Flur warf er sich das Jackett über, fasste zur Sicherheit in die Innentasche, wie zum Dienst. Verließ die Wohnung, stiefelte die Treppe hinunter. Stufe für Stufe rückte die Front näher, die Wohnungstür des Nachbarn. Eines Wasserbauingenieurs, der sich in Indien aufhielt oder in Afrika oder Aserbaidschan oder Timbuktu. Und der in der Zwischenzeit seine Wohnung vermietete. An die Jugend der Welt, zu einem Mörderpreis vermutlich. Offiziell waren sie alle seine Freunde, nur kurz zu Besuch, nichts weiter. Verdammter …

Er klingelte erst gar nicht, sondern hämmerte mit der Faust gegen die Tür. Mindestens ein Dutzend Mal, ehe geöffnet wurde.

Ein schlaffes junges Gesicht mit schwarzen Locken und dunklem Kinnflaum zeigte sich im Türrahmen.

Budumm, budumm, budumm. Wie im Krieg, hautnah.

Mit einer raschen Bewegung, die die Weltjugend diesem Alten Ende fünfzig sicher nicht zugetraut hätte, zog er den Dienstausweis aus der Innentasche des Jacketts und hielt ihm dem Jungen vors Gesicht. »Polizei. Speak English? Police. Open the fucking door, mate!«

Der Junge erwachte schlagartig aus seinen Tablettenträumen oder was immer er intus hatte. Große kugelige schwarze Augen. Baer schob ihn beiseite und betrat die Wohnung, die mehr einer Müllhalde für Bierflaschen glich.

Nicht sein Problem, sollte sich Neumann, der Nachbar, drum kümmern, wenn er zurückkehrte. Falls er zurückkehrte.

Im Flur begegneten ihm jede Menge leerer Gesichter, knutschende Paare, junge Leute, die lässig an der Wand lehnten und ihn teilnahmslos anglotzten. Er stampfte an ihnen vorbei, schnurstracks ins Berliner Zimmer, wo, wie er wusste, die Anlage stand.

Er bückte sich und fingerte nach der Steckdose hinter einer der Riesenboxen. Zack, aus, Stecker raus.

»Okay. Alle mal herhören. This is not allowed.« Er deutete mit dem Kinn auf die Boxen. »I will …« Beinahe hätte er gesagt, er wolle die Polizei rufen. Verflucht noch mal! Er hielt seinen Ausweis hoch und hoffte, dass er nicht so lächerlich wirkte, wie er sich fühlte. »This is Police. Polizei. No joke.«

Ein Dutzend Paare blutjunger kaninchenroter Augen starrte ihn an, jeder zweite mit einer Bierflasche in der Hand, die andere Hälfte das Smartphone im Anschlag. Offenbar für Fälle wie diesen, denn sie begannen sofort, auf ihren Geräten herumzutippen. Vielleicht schossen sie sogar Fotos von ihm.

Eine hohlwangige junge Frau, brünettes kurzes Haar, stakste auf ihn zu, die Zigarette zwischen den apart abgewinkelten Fingern. »We are from Italy, Mister. We rent this flat. From Mister Neumann.«

Ihr Englisch hörte sich mindestens so katastrophal an wie seines.

Er erklärte ihr, dass es verboten sei, in Wohnvierteln an Touristen zu vermieten. Er wohne im Stock über ihnen. Seine Frau sei krank, der Lärm bringe sie um. »Will kill her.«

Zu seiner Überraschung schien sie ihn zu verstehen. Sie nickte säuerlich. Sah dabei immer noch hübsch aus. Versprach, die Musik leiser zu stellen.

»No.« Sein Finger schnellte hoch. »No music any more. Not here. Understand?«

Sie sah ihn eine Weile an, ruhig, nachdenklich, als wären sie beide ganz allein auf der Welt. Dann zuckte sie die Achseln und versprach: »No music anymore. Okay.«

Er steckte den Ausweis wieder in seine Jacketttasche, ließ sie stehen, ließ alle stehen und marschierte zur Tür hinaus, die noch immer offen stand.

Es war schon vorgekommen, dass der Lärm wieder losbrach, noch bevor er oben in seiner Wohnung war und die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Diesmal nicht. Es blieb ruhig.

»Roman?«

»Alles in Ordnung, Scha… Alles gut.«

Er zog sich das Jackett und die Schuhe aus, schlüpfte in die Pantoffeln. Ging ins Wohnzimmer, wo Corinna noch immer auf dem Sofa saß und ihn verlegen ansah. Als ob sie sich schämte.

»Es hat …« Sie dachte angestrengt nach.

»Was, Corinna? Es hat was?«

Ihr Gesicht verkrampfte sich, sie blickte zu Boden, starrte den Teppich an. Dachte verzweifelt nach. Schüttelte den Kopf. Sah ihn wieder an.

Dann gab sie es auf und deutete mit dem Finger zum Telefon.

»Ach so.« Er nahm das Handteil des Apparats. Drückte die Taste und sah, wer angerufen hatte.

Iwersen.

Verdammt. Das bedeutete, der Job hatte ihn wieder. Zu früh für Corinna. Und für ihn zu spät. Wenigstens was die Karriereleiter betraf.

Er ging nach nebenan ins Arbeitszimmer und rief zurück.

4

Es war kurz vor Mitternacht oder kurz danach, Jana Seitz hatte nicht auf die Uhr gesehen. Sie freute sich einfach, dass Frank so spät noch vorbeischaute. Dabei sahen sie sich jeden Tag im Dienst.

Aber irgendwas stimmte nicht mit ihm.

Frank stand, noch im Mantel, die großen Hände in den Taschen vergraben, vor dem Fenster ihrer Parterrewohnung und schaute hinaus. Sofern das möglich war – das Licht der Straßenlaternen legte einen milchigen Schleier aufs Glas.

Neben seiner athletischen hohen Gestalt sah sie im Fenster ihr eigenes Gesicht. Kam sich auf einmal vor wie ein Geist in einem Spiegel. Die kalkweiße Haut, gerahmt von ihren rötlich schimmernden Haaren, deren Spitzen den seidigen dunklen Kragen ihrer Bluse berührten; die kräftigen Wangenknochen, die schräg geschnittenen schwarzen Augen, die ihr zu klein und irgendwie deplatziert vorkamen, als wären sie zu hoch die Stirn hinaufgerutscht. Eigentlich, fand sie wieder mal, passten die verschiedenen Partien ihres Gesichts gar nicht zueinander. Auch wenn Frank, ebenso wie die anderen Männer, die sie gehabt hatte, es abstritten, aber es waren wohl eher die sportlichen Rundungen ihres Körpers, die sie anziehend fanden.

Er schwieg noch immer, und so wandte sie ihm ihr Gesicht wieder zu. »So spannend da draußen, Frank? Willst du nicht wenigstens den Mantel ausziehen?«

Er drehte sich langsam zu ihr um und sah sie an, die Lippen aufeinandergepresst, die blauen Augen starr auf sie gerichtet.

Ihr Magen begann plötzlich zu krampfen. Und statt ihrem ersten Impuls nachzugeben, zu ihm zu gehen und sich von ihm in den Arm nehmen zu lassen (vielleicht auch mehr), ließ sie sich auf einen der drei Stühle am Esstisch fallen. »Was ist denn los, um Himmels willen?«

Er machte zwei Schritte zum Sofa, ließ sich stumm und wie hüftsteif darauf nieder. Stierte dann auf den niedrigen Glastisch mit den Zeitschriften und der Fernbedienung, die obenauf lag.

»Nun sag doch, Frank. Was ist?« Manchmal verstand sie ihn einfach nicht.

Er hob den Kopf endlich wieder, wandte ihr sein schmales kantiges Gesicht zu, mit diesem kalten Blick, der ihr die Kehle zuschnürte.

»Du hast mit Grand-« Er unterbrach sich, sehr formal. »Du hast gestern mit dem Opfer gesprochen.«

Sie atmete auf. Ach, darum ging’s, die Arbeit! Das konnte ja nur ein Missverständnis sein. Frank war zwar ihr Vorgesetzter, Erster Kommissar im Bezirk Potsdam. Aber auch ihr Geliebter.

»Ich habe mit Grandgenet gesprochen, ja.« Sie versuchte ihrer von Natur aus rauen Stimme einen mokanten Unterton zu geben und sprach den Namen des Luxemburgers auch nicht wie Frank französisch weich aus, sondern in etwa so hart wie »Granit«.

Er verzog irritiert den Mund. »Warum hast du das getan, Jana?« Seine Lippen öffneten sich nur halbseitig und entblößten etwas schief die beneidenswert weißen Zähne.

»Warum?« Jetzt verzog sie den Mund. »Frank. Ich hab’s dir erklärt, gestern morgen noch, nachdem wir … noch vor dem Dienst halt.«

Die Entführung und Ermordung von Ruth Grandgenet gab ihr Rätsel auf. Die schwer nervenkranke Frau hatte mit ihrem Mann, einem aus Luxemburg stammenden Architekten, in ihrer Villa am Küstinsee gelebt. Die Tat lag nun schon zwei Wochen zurück, ohne dass sie mit den Ermittlungen weitergekommen wären.

Dabei hatten sie Ruth Grandgenets leblosen Körper bereits einen Tag nach der Entführung gefunden. In einem seit Jahrzehnten ausrangierten Bauwagen am gegenüberliegenden Ufer des Küstinsees, Luftlinie nur wenige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Gefesselt und geknebelt. Erstickt durch das Versiegeln von Mund und Nase mit einem Gewebeband.

Welchen Sinn ergab ihr Tod, noch vor der Lösegeldforderung? Wie war es dazu gekommen? Und welche Rolle genau spielte ihr Ehemann, der Architekt Jean-Luc Grandgenet, in dieser Nacht? Darüber wollte sie mehr wissen. Sie hatte in der ersten Woche der Ermittlungen mit Fieber im Bett gelegen und die Vernehmung von Grandgenet durch ihre Kollegen war nicht eben erhellend gewesen. Oder schlampig dokumentiert. Abgesehen von der außergewöhnlichen Maskierung des Täters durch Imkerkleidung von Kopf bis Fuß, einschließlich einer Imkermaske vor dem Gesicht, waren Grandgenets Beschreibungen ziemlich vage geblieben.

Also war sie gestern zu der Villa am See gefahren, um selbst mit dem Architekten zu reden. Eine simple Zeugennachbefragung, mehr nicht.

»Ich hab dir eine Notiz hinterlegt, Frank, dass ich mit Grandgenet gesprochen habe.«

Er richtete seinen imposanten Oberkörper auf, die breite, gut trainierte Brust. »Stimmt, Jana. Aber erst hinterher, verdammt noch mal!« Sein Gesicht lief vor Ärger rot an. »Wer zum Teufel hat dir gesagt, dass du mit dem Opfer reden sollst? Ohne dich mit mir abzustimmen?« Er schüttelte unwirsch den Kopf und sah sie an. »Du hast mir wirres Zeug erzählt, gestern früh im Bett. Mir irgendwelche … Details des Falls um die Ohren gehauen. Ich war auch noch etwas … benommen.«

»Benommen?« Sie glaubte den Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht zu erkennen. Doch sie täuschte sich. Sein Blick nahm einen säuerlich-enttäuschten Ausdruck an. Der ihm weder stand – noch zustand. Sie kniff ärgerlich die Brauen zusammen. »Was willst du mir eigentlich sagen, Frank? Weswegen bist du hergekommen?« Um diese Zeit, nachts um zwölf. »Nur um mir eine Moralpredigt zu halten? Um mir ein schlechtes Gewissen zu machen?«

»Lenk nicht ab, Jana. Ich wollte – verdammt, ich hab darauf gezählt, dass du mich unterstützt bei den Ermittlungen. Du weißt, der Laden ist ein Haifischbecken. Jeder Arsch im Team will dem Ersten an den Karren fahren. Mir.« Er krümmte den Zeigefinger und stieß ihn gegen seine Brust, die glatt und haarlos war wie ein Kinderpopo, wie sie wusste. »Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet du mir in den Rücken fällst, Jana.«

Sie atmete durch und dachte darüber nach. Okay, vielleicht war sie wirklich etwas vorschnell gewesen. Hätte sich noch mal mit ihm absprechen müssen. Ganz formal und offiziell sozusagen. Aber Herrgott, es war ja letztlich keine große Sache. Und leider war aus dem Gespräch mit Grandgenet auch nichts Brauchbares herausgekommen. Divenhaft und schmallippig, so hatte sie den Architekten erlebt.

»Hör mal, Frank.« Sie legte die kalte Hand an die Stirn, hob die andere als Friedenszeichen in seine Richtung. »Es tut mir leid, war vermutlich ein Fehler von mir. Es ging mir bloß um die Sache, um ein paar Details. Mehr nicht.«

Er öffnete bereits den Mund, um etwas zu erwidern, aber sein Smartphone summte und er riss es aus der Ledertasche wie eine Waffe aus einem Holster. Blickte kurz darauf, hob die Augenbrauen, steckte es wieder weg.

Sie setzte rasch nach, um das Thema zu beenden. »Ist doch im Grunde auch nichts passiert, Frank. Und ich verspreche dir …«

»Nichts passiert?« Er schnaubte sarkastisch. »Grandgenet hat bei Laschwitz angerufen und sich beschwert.«

»Bei Laschwitz?« Der Sphinx. Scheiße. »Wieso das denn?« Roswitha Laschwitz war ihr gemeinsamer Boss, seit zwei Jahren Leiterin der Kriminaldirektion. Den Spottnamen »die Sphinx« hatte sie sich wegen ihres undurchdringlichen Gesichtsausdrucks wahrlich verdient, ihre Miene wirkte oft wie versteinert.

»Die beiden kennen sich, Laschwitz und Grandgenet. Ich hab dir davon erzählt. Vorher.«

Hatte er, das stimmte.

»Laschwitz hat mich heute zur Rede gestellt. Deinetwegen. Sie wollte dich gleich von der Gruppe abziehen. Aber …«, er hob die breiten dunkelblonden Brauen, »ich hab erreicht, dass du bleiben darfst. Unter zwei Bedingungen.«

Sie zuckte nur mit dem Kinn.

»Du erledigst die Aufgaben, die ich dir gebe. Als dein Vorgesetzter. Keine Alleingänge mehr. Und: Du spekulierst nicht weiter öffentlich über Details. Oder was du dafür hältst. Schon gar nicht gegenüber Grandgenet, dem Opfer. Und Ergebnisse, mündlich oder schriftlich, gehen nur an mich.« Er sah sie eindringlich an, ließ ein paar Sekunden verstreichen. »Kann ich mich darauf verlassen?«

Sie saß am Tisch und hielt den Kopf in die Hand gestützt.

Einsichtig.

Oder auch nicht.

»Gut. Okay. Das gilt ab sofort, Jana. Zumal jetzt noch die Berliner Kollegen dazukommen.«

Sie schaute überrascht zu ihm auf. »Was haben die Berliner damit zu tun?«

Er tippte mit zwei Fingern auf seine Handytasche. »Wir haben seit heute Abend einen neuen Entführungsfall. Das heißt, die Berliner haben ihn, auf ihrer Seite. Wird wahrscheinlich eine gemeinsame SoKo mit denen geben. Morgen früh PK in Berlin.« Er machte einen Schritt auf sie zu. Wirkte plötzlich versöhnlicher. »Du bist allerdings nicht dabei, Jana. Wegen Laschwitz. Sie wird natürlich auch dort sein. Tut mir ehrlich leid, aber ich nehm dich da besser aus dem Schussfeld.« Er lächelte schief, erinnerte ein wenig an einen Hund, der nur eine Lefze hochzieht, und wartete auf ihre Reaktion.

Sie war enttäuscht.

Sagte aber nichts.

Dachte nach.

Sie hatte es sich letztlich wohl selbst zuzuschreiben. Hatte zu spontan gehandelt, im Alleingang.

Sie blickte auf. »Willst du bleiben, Frank? Heut Nacht, meine ich.«

5

Roman Baer hatte die Stadtautobahn verlassen und befand sich seit einiger Zeit auf der Landstraße, die ihn der Stadtgrenze immer näher brachte.

Und dem Tatort.

Überfall auf eine Familie, die am Küstinsee ein Wochenendhaus besaß, hatte Iwersen ihn informiert. Ein Chefarzt war getötet, seine Frau schwer verletzt worden. Ihr Sohn, fünf Jahre alt, wurde vermisst. Man ging momentan von einer Entführung aus.

Baer war froh, dass sein alter Kollege Iwersen, mit dem er lange in einem Team gearbeitet hatte, ihn ins Bild gesetzt hatte. Nach der einjährigen Auszeit, die er sich genommen hatte. Wegen Corinna. Einer Zeit, in der er von der Welt des Verbrechens kaum etwas mitbekommen hatte. Sie hatte ihn auch nicht interessiert.

Die Lichter der wenigen Autos auf der Straße fingerten durch die Nacht. Links und rechts die feuchten schwarzen Stämme der Bäume, die begannen, ihr Laub zu verlieren. Dabei war der Tag heute noch warm gewesen, über zwanzig Grad. Ende des Sommers dagegen hatte Corinna Wollsocken angezogen, so kalt war es plötzlich geworden. Versteh einer noch die Natur, dachte Baer. Klimawandel wahrscheinlich, was wusste er denn?

Eine Brücke kam in Sicht. Er warf einen raschen Blick nach rechts, erhaschte einen Ausschnitt des Sees, eine mattschwarze Fläche, auf der geisterhaft eine Nebelbank lag. Hinter der Brücke begann die Ortschaft, sein Citroën ratterte über hartes historisches Pflaster, als er rechts abbog und in gerader Linie auf das Waldstück zuhielt, das sich anschloss und bis zur Inselspitze zog.

Zu seiner Überraschung wurde er am Ortsausgang von einem uniformierten älteren Kollegen mit grauem Schnauzbart angehalten. Einer aus dem Team Köpenick für die Sofortbearbeitung, das hauptsächlich für die Sicherung des Tatorts verantwortlich war.

Er ließ das Fenster runter und zeigte seinen Ausweis. Der Polizist nickte zum Dank.

»Wieso sperrt ihr schon hier vorne ab, Kollege? Wenn mich nicht alles täuscht, sind es noch mindestens drei Kilometer bis runter zum Wasser.«

»Order von oben. Hier beginnt nun mal das Grundstück, Kommissar.«

Berliner Dialekt. Eher ostig, vermutete Baer. Er, der im Wedding aufgewachsen war, bildete sich ein, Ost und West am Dialekt immer noch unterscheiden zu können. Wenn schon nicht mehr an Kleidung und Habitus. »Was denn, soll das heißen, das ganze Gebiet bis runter zum See ist privat?«

»Was man so hört, ja.« Der Kollege zuckte die Achseln. »Wohnen aber gleich mehrere Millionäre dort unten.«

»Na, denn.« Baer dankte dem Kollegen mit einem Handzeichen, ließ die Scheibe wieder hoch und fuhr weiter. Eine kleine, aber durchgängig asphaltierte Straße, die sich durch die Dunkelheit schlängelte. Über ihm tauchte plötzlich ein Helikopter auf, dessen grellweißer Suchstrahl den Wald durchkämmte.

Die schwer verletzte Frau des Chefarztes, so hatte Iwersen ihn informiert, war erst Stunden nach dem Überfall aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht und hatte sich zum Telefon geschleppt. Falls der Täter den Jungen in seine Gewalt gebracht hatte, was leider sehr wahrscheinlich war, hätte er alle Zeit der Welt gehabt, um mit ihm zu verschwinden. Bald, vielleicht schon am nächsten Vormittag, würde er seine Lösegeldforderung nennen. Und spätestens wenn er an das Geld wollte, würden sie ihn dann kriegen.

Baer war kein Spezialist für Entführungen, das wusste auch Iwersen. Dafür gab es Kessler und sein Team und vielleicht noch ein paar Kollegen von den Operativen Diensten. Aber Iwersen wollte ihn bei dem Fall dabeihaben. Baer hatte nach der Auszeit seine Zuordnung verloren, das Kommissariat war nach verschiedenen Neuzugängen personell umgebaut worden. Und diese Unbekanntsache, Überfall und Mord dort unten am See, war offenbar besonders. Vor zwei Wochen hatte es in Brandenburg, auf der anderen Seite des Sees, ebenfalls einen Entführungsfall gegeben. Mit tödlichem Ausgang – das Opfer, die Frau eines Architekten, war tot aufgefunden worden, an ihrem Knebel erstickt, noch ehe der Täter Lösegeld gefordert hatte. Mysteriös. Die genauen Umstände kannte Baer jedoch bislang nicht.

Iwersen lag daran, eine mögliche Verbindung zwischen den Fällen hüben und drüben zu klären. Die Hauptstadtpolizei würde mit den Brandenburgern zusammenarbeiten müssen: effektiv, nicht nur auf dem Papier. Die schon lange geplante länderübergreifende Ermittlungseinheit stand also ins Haus. »Und dafür will ich dich, Roman. Ich will nicht, dass wir uns bei denen drüben blamieren.«

Alter Schleimer. Aber Iwersen wusste, wie er seine Leute kriegte. Ein Wunder, dass ihn die Versetzung in die höchste Etage der Polizeidirektion nicht in die Blitzvergreisung getrieben hatte wie so viele andere. Und solange sich der Innensenator nach dem Abgang des alten Polizeipräsidenten auf keinen neuen festlegen konnte, war Rolf Iwersen quasi der Boss.

Nein, Iwersen war schon in Ordnung, nach wie vor.

Aber Baer war ein ganzes Jahr draußen gewesen, die intensive Zeit mit Corinna hatte ihn verändert, das spürte er. Sie hatte ihn Kraft gekostet, vor allem das. Mein Gott, er war eben auch älter geworden, nicht nur in den Knien und im Rücken. Sondern vor allem … im Kopf.

Plötzlich schoss von links ein Reh vor dem Auto vorbei, machte zwei Riesensätze und entkam der Kühlerhaube nur knapp, weil er rechtzeitig in die Eisen stieg.

Gerade noch gutgegangen. Vielleicht war er doch noch nicht so alt, wie er sich fühlte. Auch wenn sein Herz jetzt schlug wie ein Dampfhammer.

Baer fuhr wieder an. Und sah nach kurzer Zeit die ersten Lichter blinken: die Funkwagen der Kollegen, immer noch ein paar grüngestreifte zwischen den neuen blauen. Der Tatortbus der Kriminaltechnik. Das Haus, ein auf den ersten Blick reichlich verschachtelt wirkender Bungalow, von aufgebockten Tatortleuchten in grellweißes Licht getaucht. Baer brachte den Wagen noch auf dem Zufahrtsweg zum Stehen und stieg aus.

Und plötzlich war ihm, als wäre er nie fortgewesen. Wäre immer im Dienst geblieben, knietief in dem Sumpf aus menschlichen Abgründen, niedrigsten Motiven, Elend und Gestank am Tatort, der besser Totort hieße.

Mechanisch zeigte er den müden Köpenicker Kollegen, die ihn aufhalten wollten, seinen Ausweis und näherte sich mit schnellen Schritten dem Haus. Zur Straße hin, dem Privatweg, auf dem er gekommen war, wurde es symbolisch von einem schlaff durchhängenden weißen Kettenband zwischen kniehohen Metallstäben eingefasst. Das Kerngebäude des Hauses war schmal und zweistöckig, seine Fassade wurde durch verschiedene Erker und Vorsprünge mal ein-, mal zweistöckig gestaltet. Das ganze Ensemble wirkte improvisiert, verspielt. Nicht unsympathisch. Und teuer.

Die Kriminaltechniker in ihren Schutzanzügen samt Mundschutz und Handschuhen wuselten ums Haus, filmten, fotografierten, maßen aus, verteilten die Schildchen mit den Tatortleitzahlen. Das übliche Bild. Jemand zeigte ihm mit fahrigen Armbewegungen, auf welchem Höllenkreis er gehen dürfe, um zum Liegeort der Leiche zu gelangen.

Das war der Moment, vor dem er sich fürchtete.

Immer noch.

Und nach der langen Pause erst recht.

Früher war ihm manchmal schlecht geworden, mit der Zeit hatte sich das gegeben. Bei Kindern konnte er den Anblick oft wochenlang, mitunter monatelang nicht vergessen.

Baer trat gefasst an die Leiche heran, die noch nicht entkleidet war.

Der Tote lag in seinem geronnenen Blut auf der Terrasse hinter dem Haus. Rücklings auf Platten aus hellgrauem Schiefer oder beigefarbenem Sandstein, das war in dem gleißenden Weißlicht für Baer kaum zu unterscheiden. Ein junger Arzt, Mittdreißiger, bemühte sich kniend um den Patienten, seinen toten Berufskollegen, indem er irgendetwas mit dessen Fingern anstellte. Er schaute nicht mal auf, als Baer sich näherte.

Die Forensiker liebten es nicht, bei der Arbeit gestört zu werden. Er ebenso wenig. Deshalb fasste er sich kurz und deutete auf das Eintrittsloch des Geschosses. »Mitten durchs Herz, schätze ich mal.«

Der Arzt drehte seinen Kopf leicht zu ihm hin – exakt bemessener Stoppelbart, strenge Brille mit extrabreiten dunklen Bügeln – und nickte.

»Guter Schütze, was?« Eine herbe weibliche Stimme. Sie gehörte Liv Grünberg, die gerade aus dem Haus kam.

Iwersen hatte ihm schon angedeutet, dass Liv in diesem Fall die Kommissionsvertretung übernehmen werde, in der Praxis hieß das, sie würde ihm vor allem den Bürokram, das Formale, die Welt der Protokolle und Papiere vom Hals halten. Iwersen wusste, wie sehr Baer das hasste, wie sehr es ihn blockierte, ihn nur dazu brachte, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu erkennen.

Er war Liv Grünberg bisher nur auf den Fluren des Präsidiums und auf verschiedenen Sitzungen begegnet. Nur ein einziges Mal hatte er sich auch mit ihr unterhalten, auf einer Weihnachtsfeier, wenn er sich recht erinnerte. Sie hatte damals ziemlich unterkühlt auf ihn gewirkt, die Unterhaltung war rasch erstorben.

Liv Grünberg galt ohnehin als kalt, hart und ungesellig. Sie war Mitte vierzig, mittelblond, schlank und etwas schmallippig, fand Baer. Zu Hause hatte sie einen gescheiterten Ingenieur als Mann, hieß es, der die Familie durch irgendeine Fehlkonstruktion und Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe in den Ruin getrieben haben sollte. Gerüchte. Was daran stimmte, wer wusste das schon?

»Was heißt guter Schütze?« Baer machte einen Schritt auf Liv Grünberg zu, als sie auf gewundenen Pfaden, vorbei an den Leitzahlen, näher kam. Er war überrascht, wie elegant sie ihre Hüften schwang.

Sie wies mit dem spitzen Kinn auf das Opfer. »Na, mitten durchs Herz geschossen halt.«

Schon richtig. Aber was das heißt, ist noch nicht ausgemacht, dachte Baer. Warum gezielt den Vater töten, wenn der Täter nur den Sohn wollte? Vielleicht war er in Wahrheit ein miserabler Schütze und der Herzschuss gar nicht gewollt, sondern unkontrolliert abgefeuert worden, in Panik?

Aber für Spekulationen war es natürlich zu früh.

Baer betrachtete wieder das Opfer, das er spontan auf Mitte sechzig schätzte, während der Forensiker weiter so tat, als wären sie nicht vorhanden. Jeder machte eben nur seinen Job. Wieder musste Baer sich überwinden, genau hinzusehen, leichte Übelkeit stieg in ihm beim Anblick der ersten Fliegen auf, die über den weit geöffneten, blinden Augen der Leiche kreisten. »Die Form, die zurückbleibt«, sagten manche Buddhisten dazu, das wusste er von Corinna, die sich mit solchen Dingen beschäftigt hatte. Früher. Vor dem Schlag. Es fiel ihm schwer, sich das eben noch pralle Leben in der toten Form vorzustellen, aber das Bild half ihm über seine kleine Krise hinweg.

Er blickte auf die Leiche: ein sehnig schlanker Mann mit schmalem Gesicht. Halbglatze, das dunkle, eventuell gefärbte Resthaar streichholzlang. An der rechten Schläfe eine unregelmäßige braunrote Hautverfärbung, die wie ein verwischter Tintenklecks aussah. »Ist das ein Muttermal, Doktor?«

Der Arzt sah missbilligend zu ihm auf. Schwieg. Fuhr dann in seiner Arbeit fort.

Na, dann nicht.

Baer schätzte das Opfer auf etwa eins fünfundachtzig, eins neunzig. Es war mit dem Rücken aufgeschlagen, Blut auch unter dem Hinterkopf. Weißes Baumwollhemd, blaue Jeans, hellbraune Freizeitschuhe (elegant, vermutlich italienisch). Der rechte Unterschenkel durch den Sturz maximal nach hinten geknickt, wahrscheinlich waren die entsprechenden Sehnen gerissen. Aber davon hatte der Mann nichts mehr gespürt, er musste sofort tot gewesen sein.

Liv Grünberg fing seinen Blick auf. »Der Mann ist Albert Sicking, Professor Doktor med. Vierundsechzig. Chefarzt im Albert-Moll-Krankenhaus.«

»Wo ist das denn?«

»Tempelhof.«

»Abteilung?«

»Kardiologie.«

Er stutzte. »Kardiologie?« Sah hinunter auf den Herzschuss. Ausgerechnet. »Was ist mit seiner Frau?«

»Evelyn Sicking, dreiunddreißig.«

»Wie bitte, dreiunddreißig?«

»Richtig. Rief dreiundzwanzig Uhr acht bei uns an. Sie sei vom Täter niedergeschlagen worden. Ihr Mann erschossen, der Junge, fünf Jahre alt, Tobias Sicking, entführt, verschwunden. Mehr konnte sie nicht sagen.«

»Keine Täterbeschreibung?«

»Wenig.« Liv Grünberg zögerte einen Moment. »Sie sagte was von einem Imker.«

»Einem Imker?«

»Ja. Der Täter soll sich wie ein Imker verkleidet haben. Hut mit dunklem Netz vor dem Gesicht, Overall und Handschuhe. Vielleicht ganz ähnlich, wie es die Kollegen tragen.« Sie deutete mit einer vagen Bewegung ihres Kinns auf die arbeitenden Kriminaltechniker und sah ihn dann wieder an. »Der Entführer der Frau vor zwei Wochen auf Brandenburger Seite war ebenfalls als Imker maskiert. Hat der Ehemann des Opfers ausgesagt.«

»Aha.« Ein ungewöhnliches Detail. Von dem ihm Iwersen in der Kürze der Zeit noch nicht hatte berichten können. Er deutete auf den toten Mann am Boden. »Wie geht’s der Frau des Chefarztes jetzt?«

»Sehr schlecht. Sie liegt im Krankenhaus. Nach erster Einschätzung der Ärzte Verdacht auf Schläfenbeinbruch, Hirnblutung, Ödem. Vielleicht müssen sie sie ins künstliche Koma versetzen, bis die Schwellung zurückgegangen ist.« Sie stöhnte leicht auf und holte Luft. Deutete mit dem Kopf nach oben. »Die Suchaktion ist angelaufen, wie du hörst.«

Sie hatte grüne Augen, fiel Baer jetzt auf. Sattgrüne Augen, die im weißen Licht der Tatortleuchten aufblitzten.

Der Rotorenlärm war trotz der Entfernung – der Helikopter mochte weiter irgendwo über dem Wald schweben – unüberhörbar. Brachte den Körper bis in die Eingeweide zum Vibrieren. Er dankte Liv mit einem knappen Nicken, verließ die brutale, gleißende Helle am Tatort und folgte dem Weg aus Sandstein- oder Schieferplatten hinunter zum Wasser, bis er nach etwa fünfzig Metern einen Holzsteg erreichte.

Eine kleine Jacht lag vertäut auf der rechten Seite. In einiger Entfernung kreuzte ein Boot der Kollegen von der Wasserschutzpolizei.

Jenseits der kaltweißen Oberfläche, die das Tatortlicht spiegelte, schimmerte das Wasser metallisch grün. Der Himmel schien mit einer blaugrauen Wolkendecke hermetisch verschlossen, die Uferlinie der bewaldeten Landzunge drüben war buchstäblich nachtschwarz.

Baer sog die würzige, leicht modrige Luft ein. Schaute hinaus auf den See, der dem Täter, da war er sich sicher, Zufahrt und Flucht ermöglicht hatte. Ein Frösteln überlief ihn.

Ihm war kalt, er fror.

Er dachte an Corinna. Hoffte, dass sie jetzt schlief. Dass alles in Ordnung war. Dass sie nicht plötzlich aufwachte, orientierungslos, hilflos … Baer wandte sich um und ging langsam zurück.

Liv Grünberg war offenbar wieder im Haus verschwunden. Er überquerte die Veranda in weitem Abstand um den Leitzahlenparcours herum und an dem konzentriert die Leiche untersuchenden Arzt vorbei. Betrat das Haus durch die weit geöffnete doppelflügelige Glastür und stieß beinahe mit Liv zusammen.

Sie war direkt am Eingang stehen geblieben, hielt ihn unwillkürlich mit der Hand am Arm zurück und wandte ihm ihr blasses schmales Gesicht zu. »Die Kollegen sind noch nicht fertig im Haus.«

Das sah er jetzt auch. Drei Techniker ganz in Weiß verteilten sich im Raum zwischen ihren Lampen und Gerätschaften und dem Innenleben des Zimmers. Das heißt, eigentlich erschien Baer das Zimmer auf Anhieb recht leblos, eher steril. Nur ein Geruch von Urin und Exkrementen lag in der Luft, der nicht von draußen, von der Leiche hereingeweht kam.

Der Fußboden bestand aus braunem, wahrscheinlich sündhaft teurem Tropenholz, ebenso ein Teil der schmalen, filigran gearbeiteten Wandschränke und Regale. Rechts ein Flachbildschirm auf einem Ständer, in der Mitte des Raums ein niedriger Glastisch, weiter hinten, leicht abgetrennt, ein länglicher Esstisch aus rosenrotem Holz, Kirsche, Nuss oder etwas Ähnlichem. Alles sehr aufgeräumt, sauber, fast klinisch.

Unmittelbar vor dem Eingang, ihnen direkt zu Füßen, lag ein schmaler braun-beige gemusterter Teppich, darauf ein Puzzle, komplett. Oder nein, nicht ganz, am unteren Rand mit den schillernd bunten Dinosaurierbeinen fehlte noch ein Puzzleteil. Der Fuß des rechten Hinterbeins, wenn er das richtig erkannte.

Eine kleine Urinlache neben dem Puzzle und ein Rest Kot, wie es aussah, erklärten den süßlich-scharfen Geruch im Raum. Der Junge hatte sich vermutlich vor Angst in die Hosen gemacht.

Auf einem erdbeerroten Ledersofa am anderen Ende des Raums lag eine dünne Schicht aus weißem Putz, der heruntergerieselt war. Baer hob den Blick etwas und betrachtete das Loch, die Einschussstelle in der Wand.

Liv Grünberg folgte seinem Blick. »Das Projektil ist schon gesichert.«

Baer kniff die Augen zusammen. »Aber warum?«

Sie fuhr mit dem Kopf zu ihm herum, eine erstaunliche Drehung ihres Schwanenhalses. Sah ihn verständnislos an.

Er lachte. »Ich meine, der Täter, warum tut er das? Will den Jungen entführen und schießt in die Wand. Was soll das?«

»Wollte sich wohl Respekt verschaffen, gleich von Anfang an. Funktioniert ja auch häufig.«

Baer wandte sich um, zur Leiche in ihrem Rücken, draußen auf der Veranda. »Der Schuss hat den Vater zunächst mal alarmiert. Sicking muss sich irgendwo draußen befunden haben.«

Liv Grünberg ließ ihren Blick nachdenklich zwischen dem Teppich mit dem unfertigen Dino-Puzzle und dem toten Arzt draußen auf der Veranda hin- und herwandern. »Entweder ein Dilettant. Oder so abgekocht, dass es ihm ganz egal war, wen er aus dem Weg räumen musste, um den Jungen zu entführen.«

Baer schwieg.

Nein, nein.

Hier stimmte was nicht.

Etwas stank ganz gewaltig.

6

Diesmal nahm sie den Weg über die Feuchtwiesen. Aufgeschreckt durch das fiebrige Flap-flap-flap des Helikopters über dem Wald, zum Glück noch drüben am anderen Ufer, auf der Berliner Seite.

Die Grasfläche unter ihren Stiefeln federte wie aus Kork, jeder Schritt ein Glücksgefühl. Sonst jedenfalls immer. Das Kreuzen der großen kreisrunden Lichtung, die nicht mehr zum Schutzgebiet gehörte, war riskant. Wenigstens tagsüber. Jetzt, nach Mitternacht, in ihrem braungrünen Tarnanzug, das Gesicht geschwärzt, war sie nur ein Schatten, der sich lautlos bewegte und kaum für einen Menschen gehalten werden würde.

Außer natürlich von den Tieren, die sie wittern konnten. So wie sie die Gefahr witterte, die von dem Helikopter ausging. Dessen Lärm, vom Westwind durch die Nacht getragen, über den Wald und den See hinweg dröhnte und tief in die Eingeweide des Sumpfs eindrang.

Wo sie lebte.

Unsichtbar, unhörbar.

Und das sollte so bleiben. Bis auf ihre Streifzüge und Ausflüge gelegentlich in die Stadt, die sich nicht vermeiden ließen.

Sie erreichte den Waldrand. Blickte zwischen den unscharfen Schatten der Äste und Sträucher zurück. Der Himmel über der Lichtung war mattschwarz, in der Ferne schimmerte die Wolkendecke aschgrau von dem Lichtmüll der großen Stadt.

Weiter.

Unterholz, dann die jungen Moorbirken, bleich und mager sahen sie aus, selbst jetzt, beinahe Mitleid erregend. Sie huschte durchs Gehölz wie ein aufmerksames Reh, ohne Hast, aber auch ohne Pause.

Im Wald kaum ein Laut, er schwieg wirklich, wenn ihm danach war.

Dann die Strecke mit dem dichter liegenden Totholz. Jetzt möglichst keine Äste zertreten! Der breite Holzweg, den nur noch erkannte, wer darum wusste. Der morsche alte Hochsitz drüben, vorne rechts der Baumstumpf, zugeschnitten wie ein Stuhl mit Rückenlehne. Pervers.

Schließlich der Nadelwald, früher Baumfabrik, immer noch alles in Reih und Glied. Zwischen den kerzengeraden Stämmen lag fahlgelbes Licht vom halbvollen Mond, der gerade in diesem Moment eine Lücke in der Wolkendecke gefunden hatte.

Und wieder der See, die andere Seite der Landspitze. Das verrostete Tor des alten Eisenzauns, der den Jugendlagerplatz abgrenzte, den es schon seit Jahrzehnten nicht mehr gab. Sie ging noch ein Stück am Ufer entlang und fand ihren Beobachtungsposten hinter Schilf, mannshohem Gebüsch und dichtem Brombeergestrüpp. Von hier hatte sie geschützten Blick über den See bis zum jenseitigen Ufer.

Das Wasser kräuselte sich leicht, seine Oberfläche blinkte im Mondlicht wie geriffeltes Glas.

Jetzt sah sie den Hubschrauber kreisen, weit hinten über dem dunklen Waldstück.

PRIVATBESITZ.

Das alles gehörte ihnen.

Den Göttern.

Dem einen Promille der Gesellschaft, das den Rest aussaugte. Das sich alles kaufen konnte. Alles. Das Leben selbst kauften sie sich. Der Tod war für die Sterblichen.

Sie begann zu zittern. Weil sie wieder so wütend wurde. Und so traurig.

Hinten an der lärmenden Libelle, deren Umrisse sie nur schemenhaft erkennen konnte, zu weit weg, blinkte ein rotes Licht, rhythmisch wie ein Pulsschlag. Vorne tastete der weiße, grell leuchtende Suchstrahl die Dunkelheit ab wie das Auge eines Zyklopen.

Die Zivilisation drang in ihre Wildnis ein.

Aber sie war auf alles vorbereitet, seit sie die Menschen mied.

Nun musste sie noch vorsichtiger sein.

Oder verschwinden.