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Gregor Sander

Was gewesen wäre

Roman

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Für Malte und Valentin,
für jeden Tag mit euch
.

Inhalt

Im Wald

Hotel Gellért

Tee an der Elbe

Glückstreffer

Auf dem Gang, zweite Klasse

Im Schrebergarten

Spätschicht

Keine schlechte Idee

Geisterfahrt

Suchen

Eingepackt und gut verschnürt

Erdbeerkuchen

Nieselregen

Novi Sad

Im Wald

Wir gingen durch den Wald, Jana und ich. Fast Hand in Hand. Unsere Arme berührten sich beim Laufen manchmal, und wir trugen beide Sommerkleider mit kurzen Ärmeln. Meines war weinrot mit hellen grünen Längsstreifen. Ich hätte gerne Jeans und T-Shirt angezogen, aber Jana hatte gesagt: »Das geht nicht. Nicht da.« Jetzt ging sie neben mir, und ihre Haare, die ihr sanft über die Schultern fielen, waren auf eine kindliche Art blond und leuchteten im gedämpften Licht des Waldes. Wir hatten sie zusammen gewaschen, bei mir zu Hause, und ihnen Glanz gegeben mit einem Ei.

Ich hatte dabei in der Badewanne gehockt wie ein Kind, und Jana stand vor mir, nur in einem Schlüpfer. Ich sah ihre Beine und die sich kräuselnde Scham links und rechts des weißen Stoffes. Über mir hörte ich das Knacken der Schale, und dann ließ sie mir das Ei auf den Kopf klatschen. Es zerlief, so wie eine Spinne krabbelt, und mich schauderte. »Die werden schon was zu gucken kriegen«, sagte sie, und ich legte meinen Kopf auf die Knie und ließ sie machen. Gab mich in ihre Hand.

Jana hatte mit Julius geschlafen. »Einmal nur, der ist echt verdreht.« – »Und warum willst du den nicht?«, hatte ich gefragt, und Jana hatte gesagt: »Mich kriegt keiner.« Dann lachte sie und verteilte das Ei weiter auf meinem Kopf. »Der ist was für dich. Wirst schon sehen.« Ich liebte das, wenn Jana das sagte, genau wie ich es hasste, wenn meine Mutter das sagte mit fast genau denselben Worten: »Wär’ der nicht was für dich?«, über irgendeinen, so als wollte sie mich loswerden. Bei Jana wusste ich, dass sie mir Julius in Gedanken zur Seite stellte, und sie blieb auf der anderen Seite stehen. Unverrückbar.

Der Waldboden unter unseren Füßen war weich und verschluckte unsere Schritte. Ab und zu kam ein Auto von hinten oder ein Moped, und manchmal hupten sie und schrien im Vorbeifahren. Oder wir sollten mitfahren und zierten uns. »Das wird ein Fest«, sagte Jana und sah ihnen nach. Das hatte ich auch zu meiner erstaunten Mutter gesagt auf die Frage, wohin wir denn gehen würden und wo wir übernachteten. »Ein Sommerfest bei Freunden.« Keine Fete oder Party, kein Geburtstag. Ein Sommerfest. Die Tasche mit dem Schlafsack schnitt mir hart in die Schulter und zerknitterte den Stoff meines Kleides. Ich wollte wenigstens in normalen Klamotten bei Julius und seiner Mutter ankommen. »Wir können uns doch dann immer noch umziehen.« – »Kommt nicht in Frage. Du ziehst dein Kleid an. Das wird ein Auftritt. Die ganze Künstlerboheme aus Berlin wird da sein. Wir werden uns nicht verstecken vor den Bouletten«, sagte Jana, als wüsste sie was, und ein bisschen wusste sie ja tatsächlich.

Von Neubrandenburg waren wir Richtung Anklam gefahren und schon am ersten Halt ausgestiegen. »Dieses Haus liegt im absoluten Nichts«, hatte Jana gesagt. »Das nächste Dorf ist ewig weit weg, und direkt vor der Tür ist ein See. Man fällt praktisch hinein.«

Zwei Kilometer waren es vom Bahnhof aus zu laufen. Und dann war man erst in Giebenow. Kleine schiefe Häuser, die sich an einer Straße im Spalier gegenüberstanden. Hohläugig und reglos. Das ganze Dorf war menschenleer. Ein Hund bellte, als wir über die Kopfsteinpflasterstraße liefen, und ein Trecker dröhnte vorbei, der Fahrer winkte uns vergnügt über die Schulter zu, so als würde er uns kennen.

»Das ist also sein Schulweg jeden Morgen«, sagte ich, und Jana sah mich an. Sie trug die Sonnenbrille ihrer Großmutter, deren Gläser fast lila waren, und einen winzigen schwarzen Hut mit einem Netz vor dem Gesicht. »Na ja. Arbeitsweg. Der macht ja Beruf mit Abitur im BAZ in der Oststadt. Wasserwirtschaft. Der muss früher raus als wir, meine Süße. Aber nur noch ein paar Wochen. Dann hat er sein Abi in der Tasche.«

Wir gingen seit fast einem Jahr auf die EOS in Neubrandenburg, und in wenigen Wochen waren Sommerferien. Jana hatte am ersten Tag im Klassenzimmer gesessen, rückwärts auf dem Stuhl mit der Lehne nach vorn. Sie sah mich durch den Raum an und grinste. So als würden wir uns kennen. Dabei kannte ich niemanden. Ich stand an der Wand allein. Zehn Jahre war ich auf dieselbe Schule gegangen, und nun noch zwei Jahre Abitur auf der Penne, wie alle die EOS nannten. Jana grinste so lange, bis ich wie aufgezogen auf sie zuging und vor ihr stehen blieb. Sie sah zu mir hoch und sagte: »Was haben wir beide hier verloren?«

Wir gingen an einem Gerstenfeld entlang auf den Wald zu, in dem das Haus liegen sollte. Ich strich mit der Hand über die langen Haare der Ähren, lachte und sagte: »Nimm diese Kompottschale ab, du hast schon ’ne ganz rote Birne.« Jana blies das Netz ein Stück von ihrem Gesicht weg und sagte: »So weit kommt es noch.«

Ein altes Forsthaus sei das, wo die wohnen. Der Urgroßvater von Julius sei da tatsächlich noch Förster gewesen. Jetzt gehöre es Katharina. Sie nannte Julius’ Mutter immer Katharina, so als wäre sie eine gute Freundin. Aus Berlin seien sie gekommen. Dort sei sie Künstlerin, aber Julius habe keinen Abiturplatz bekommen. Nur den bei der Wasserwirtschaft in Neubrandenburg. Und auch das nur durch eine Eingabe bei der Ministerin. Er habe einen Durchschnitt von 1,1 gehabt. »Ach, brillant ist der.« Als die Ausbildung losging vor drei Jahren, seien sie eben in das Haus gezogen, in dem sie sonst nur die Sommer verbracht hätten.

»Die haben natürlich ihre Wohnung in Berlin behalten«, sagte Jana, und die Kühle des Waldes tat ihrer Gesichtsfarbe gut. »Wenn du mich fragst, dann wohnt Katharina da auch nur pro forma. Julius ist dauernd allein dort. Ist schon unnormal. Einfach so und mitten im Wald. Der hat überhaupt keine Angst. Ich hatte sogar mit ihm Angst in der Nacht. Das ist da so scheißdunkel, und ein Käuzchen hat geschrien immerzu.« Sie schüttelte sich und hakte mich unter.

Man sah das Haus zuerst von hinten. Es war nicht besonders groß, ocker mit einem hohen mattroten Dach. Der Weg führte aus dem Wald über eine wilde kleine Wiese, und da stand es beschienen von der Nachmittagssonne, die über dem See hing. Der war klein und rund mit einem grünen Schilfgürtel. Vor dem Haus standen zwei Kastanien, dazwischen ein Ferkel auf einem Spieß, das von einem knatternden Motor langsam gedreht wurde. Es roch gleichermaßen nach Fleisch und Benzin. Zwei Männer in Unterhemden standen davor und sahen uns an. Als wir vorbeigingen, hoben sie wortlos die Bierflaschen.

Im Garten, der sich zaunlos an das Haus anschloss und der voller alter Bäume und blühendem Flieder war, und auch vor dem Haus saßen Leute in der Sonne auf Handtüchern und in Liegestühlen. Nackt, in Badesachen oder komplett angezogen. Es gab einen Stall aus rotem Backstein, und davor war eine kleine Bühne aufgebaut, hinten links ein Schlagzeug, an dem ein Saxophon lehnte, und ein paar Gitarren standen herum.

»Das ist Katharinas Atelier«, sagte Jana, und dann deutete sie mit dem Kopf Richtung See: »Und das ist Katharina.« Ein Ruderboot war kurz davor, am Steg vor dem Haus anzulegen. Ein dicker Mann mit einem Vollbart und einer Zigarre im Mund saß an den Rudern. Am Heck des Schiffes sah man einen völlig schwarz gekleideten Jungen in unserem Alter mit einem kahlen Schädel und einer Nickelbrille. Und vorne im Boot stand wie eine Galionsfigur eine schmale Frau, Mitte vierzig. Sie hatte lackschwarze Haare und trug ein weißes Kleid mit Mohnblumen darauf. Ihr Gesicht war durch einen wagenradgroßen Strohhut verdeckt. Sie angelte mit dem Fuß nach dem Steg, erreichte ihn, und dann blieb das Boot stehen und trieb ein bisschen zurück. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Versehen war oder ob der Vollbart am Ruder das extra tat. Katharina wurde auseinandergezogen, wie im Spagat. »Eh, Mensch!«, rief sie, und dann rutschte der Fuß ab und sie landete kopfüber im See. Der Hut schwamm für einen Moment auf der Wasseroberfläche, und Katharina tauchte prustend wieder auf und schrie: »Ach, Scheiße!«

Klatschnass stieg sie aus dem Wasser. Das Kleid klebte an ihrem Körper, und die Mohnblumen waren dunkelrot und faltig. Sie drehte sich zum Boot um: »Du bist wirklich ein Idiot, Werner«, und dann lief sie zum Haus und schrie lachend: »Jetzt hört auf zu lachen, verdammt noch mal.«

Jana und ich gingen ihr nach. Die Küche war groß und dunkel. Zwei kleine Fenster, die auf den See gerichtet waren, ließen nur spärliches Licht hinein. Ein schöner alter Bauernschrank stand an der Wand, bemalt mit roten und grünen Ranken. Die Spüle war aus weißem abgewetztem Stein, und in der Mitte stand ein großer dunkelbrauner Tisch mit gedrechselten Beinen. Wir kramten in unseren Rucksäcken, und ich stellte die Flasche Murfatlar, die ich aus dem Keller meiner Eltern geklaut hatte, auf den Tisch. Der war voll mit Brot, Salaten, Obst und Käse. Jemand tauchte plötzlich neben mir auf, es war der schwarz gekleidete Junge aus dem Ruderboot. Er sah mich nicht an, griff nach dem Murfatlar und sagte: »Mhhm, rumänische Kopfschmerzen in der Flasche«, und verschwand wieder. Jana verdrehte die Augen und fummelte immer noch in ihrem Rucksack herum. »Oh, lecker, der Bohnensalat ist aufgegangen, und mein ganzer Schlafsack ist voll.« Sie stellte die Schale mit den grünen Bohnen auf den Tisch. Es roch scharf nach Essig und Zwiebeln. »Na ja, aber wir sind ja nicht zum Schlafen hergekommen. Oder? Jedenfalls nicht in unseren Schlafsäcken.«

Julius war lange Zeit gar nicht zu sehen, und als er dann erschien, war sein Interesse an Jana doch noch größer als von ihr behauptet. So schien es mir. Er war groß und hatte seine Haare hinterm Kopf zu einem winzigen Zopf gebunden. Sie waren nicht unbedingt frisch gewaschen, und ich musste an die Prozedur mit dem Ei denken und wie es mir über den Kopf gelaufen war. Noch einmal bekam ich eine Gänsehaut. Julius’ Fleischerhemd war weit aufgeknöpft, er trug eine abgeschnittene Jeans und war barfuß. »Mann, da bist du ja«, sagte er, nahm Jana in den Arm und hob sie ein wenig hoch. »Du bist gut. Wir sind schon zwei Stunden hier und stehen uns die Beine in den Bauch. Müssen dauernd irgendwelche wilden Tiere und notgeile Berliner abwehren. Du warst leider nicht zu sehen.«

Er lachte und sagte: »Ich musste noch Wein holen und Gäste vom Zug.« – »Das ist Assi«, sagte Jana, »also Astrid. Astrid Wolter, meine beste Freundin.« Und Julius sah mich an, ohne Jana loszulassen, und irgendwie erwartete ich, dass er auf mich zutreten und mir die Zähne auseinanderbiegen würde, wie einem Pferd, das man kaufen will. Aber vielleicht täuschte das alles auch, und ich war einfach nur empfindlich und doch schon gefangengenommen von seinen blauen Augen und einer mattbraunen Haut, die aussah, als würde er sie täglich eincremen.

Julius führte uns zum Schwein, das er gemeinsam mit seiner Mutter unter Applaus anschnitt. Jana und ich nahmen unsere Teller und lehnten uns mit den Rücken an eine der Kastanien und sahen der Sonne dabei zu, wie sie sich langsam der Seeoberfläche näherte. Wir hatten eine Flasche algerischen Cabernet Sauvignon aus der Küche entführt, und den tranken wir zum Schwein. Ich zu wenig, wie Jana meinte: »Tüter dir mal ein bisschen einen an, dann knutscht sich das nachher besser.« Ich lachte und trank trotzdem wenig.

Die beiden Männer in den Unterhemden, die sich um das Schwein gekümmert hatten, kamen auf uns zu: »Wir fragen uns schon die ganze Zeit, ob ihr beiden Hübschen nicht mal mit uns rudern wollt oder baden?« Die waren mindestens 30. »Nee, danke«, sagte Jana, »wir sitzen hier sehr gut.« Offensichtlich waren sie nicht interessant für uns. Ich fühlte mich wie in einem Theaterstück, aber in einem, in dem nur ich den Text nicht kannte. Und das sagte ich Jana auch.

»Ach Assi«, sagte sie und erzählte mir, soviel sie wusste über einen, der Regisseur war in Anklam, aber dort eigentlich nur in so einer Art Verbannung lebte, weil er in Berlin nicht mehr inszenieren durfte. Und dass nun das Publikum seinetwegen aus Berlin nach Anklam fuhr. Über zwei, die in einer Punkband spielten, die eigentlich verboten war. Die hatten die Haare tatsächlich mit Zuckerwasser oder was auch immer wie Stachel aufgestellt, und der Kleinere von beiden hatte eine Sicherheitsnadel durch die Backe gestochen. Beide trugen trotz der Hitze schwarze schwere Schnürstiefel. Und dass Katharina Ausstellungsverbot hatte in der ganzen DDR, sagte Jana, und jetzt für verschiedene Theater die Bühnenbilder machte.

Wir gingen Arm in Arm vor zum See und mit den Füßen in das flache Wasser neben dem Steg. »Julius’ Vater wohnt ja in Hamburg. Der ist abgehauen, als Julius ein Jahr alt war. Durch die Donau geschwommen von Rumänien nach Jugoslawien.« – »Ach«, sagte ich und griff nun doch die Flasche, die neben Janas Beinen baumelte, und nahm einen Schluck. »Und seitdem hat er den nicht mehr gesehen? Oder wie?«

»Doch, doch, den sieht er jedes Jahr. Schwierige Kiste, wenn du mich fragst, und Katharina fragst du besser gar nicht nach dem Erzeuger, dann geht die nämlich direkt die Wand hoch.« Jana lachte und schüttelte eine Hand in Halshöhe. »Aber es gibt noch einen Bruder, also Halbbruder. Sascha, zwei Jahre jünger als Julius. Den trifft er immer bei der Oma in Wittenberge.« Sie deutete auf das Haus und sagte: »Der hat hier wohl auch Hausverbot. Hat den falschen Vater. Oder die falsche Mutter. Wie man’s nimmt. Sippenhaft, würde ich mal sagen.«

Wir standen dann alle vor der Bühne, und hinter uns hing die Sonne, die zur Hälfte schon in den See getaucht war. Neben mir stand ein junges blondes Mädchen, das gerade schwimmen gewesen war. Sie trug noch ihr hellblaues Bikinioberteil und ein langes Handtuch um die Hüfte, ihre Achseln waren rasiert, und sie war noch tropfnass und sah so schön aus, dass ich sie anstaunte wie eine Statue. Julius hatte die Gitarre umgeschnallt, ein Punk stand am Bass, und der andere saß hinterm Schlagzeug, und auf einem kleinen Podest aus vier Bierkästen und ein paar Brettern stand Katharina. Sie trug jetzt ein schwarzes knielanges Kleid mit einem breiten roten Gürtel und wieder den Strohhut, der offensichtlich getrocknet war. »Diese jungen Herren hier sind so freundlich, mich zu begleiten«, sagte sie. »Wie ihr ja wisst, darf ich nicht mehr ausstellen, und immer nur Pappwände zu bemalen im Theater ist mir auch zu langweilig, und deshalb habe ich ein paar Texte geschrieben und singe jetzt. Natürlich leider eher für mich, weil ich ja auch nicht auftreten darf, aber heute Abend doch für euch. Fühlt euch geehrt.«

Es war absolut ruppige Musik, und Katharina stand nicht lange auf den Bierkisten, sondern rannte über die Bühne. Sie schrie und stöhnte in das Mikrofon, und die beiden Punks bearbeiteten ihre Instrumente, als ob es Holzstücke wären. Nur Julius stand etwas abseits und spielte fast bewegungslos die Melodie, hinter der alle herrasten.

Wir sind hier

Und wir bleiben hier

Und ich kann nicht mehr und geh weiter

Wir sind hier

Und wir bleiben hier

Und ich fühl mich taub und bleib heiter

Monotonie, Monotonie, Monotonie

schrie Katharina in das quietschende Mikrofon. Die Sonne war inzwischen ganz versunken, und trotzdem stand noch ein Streifen Licht über dem See. Ein paar Jungs begannen zu pogen vor der Bühne. Ich hasste das, weil man dann immer etwas in die Rippen bekam, einen Ellenbogen oder eine Stiefelspitze, und manchmal dachte ich, dass die das nur machen, um überhaupt die Mädchen zu berühren.

»Julius sieht mich nicht mal an«, sagte ich später zu Jana, als wir nach dem Konzert an einer langen Tafel im Garten saßen. Dichtgedrängt nebeneinander. Alle tranken Bier und Wein und Schnäpse. Wie verrückt. »Rühr dich nicht, sag ich dir. Der kommt schon noch«, flüsterte Jana mir zu und strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. Dann wandte sie sich wieder dem Jungen mit dem kahlen Schädel und der Nickelbrille zu, der mir vorhin erklärt hatte, dass er Gedichte schreibe, um Gottfried Benn nah zu sein und um Mädchen ins Bett zu bekommen. Katharinas Texte fand er grauenhaft. »GRAUENHAFT«, sagte er noch einmal laut, und dabei sah er mich schon nicht mehr an. Jetzt war sein Gesicht ganz nah vor Janas, und er blies ihr beim Reden den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht.

Wir waren eingequetscht zwischen den Theaterleuten aus Anklam, und die Hand des verbannten Regisseurs lag schon geraume Zeit auf meinem Hintern, obwohl er nicht mal mit mir redete. Mir gegenüber saßen zwei ältere Frauen, die mir schon bei ihrem Erscheinen aufgefallen waren. Die eine hatte ein rundes Gesicht und raspelkurze Haare, von denen einige grau waren, und die andere war groß und stämmig und trug ein rotes Tuch wie ein Pirat. Katharina hatte sie umarmt bei der Begrüßung, und sie waren im Kreis umhergesprungen und hatten gekreischt wie Kinder.

Julius stand auf am anderen Ende der Tafel, ging zur Bühne und schaltete den Verstärker an. Er hockte sich auf die Bierkästen und spielte vor sich hin. Tom Waits, Bob Dylan, die Stones, und ich wusste das nur, weil es ab und zu jemand am Tisch erwähnte. Aber es gefiel mir, wie er da saß im Halbdunkeln, die Sterne über sich, und spielte. Julius gefiel mir immer mehr, und mein Herz begann schneller zu schlagen jedes Mal, wenn ich Richtung Bühne blickte.

Die Nacht verging, es wurde getanzt, und ich hatte mir irgendwann meine Jeans und einen Pullover aus dem Rucksack geholt und übergezogen wie eine Rüstung. Jana tippte sich mit dem Finger an die Stirn, bevor sie mit dem Dichter Richtung Wald verschwand. Der eine Punk, der kleine mit der Sicherheitsnadel in der Backe, kam auf mich zu gewankt. Seine Haare waren in sich zusammengefallen, und er versuchte sie mit ein paar Handbewegungen wieder nach oben zu bringen. Er sah mich an und sagte: »Willst du ficken, ich könnte mir vorstellen, du könntest es auch brauchen.« Wie ein kleines Mädchen lief ich vor ihm weg, ich schämte mich richtig dafür. Viel lieber hätte ich ihm irgendetwas Passendes geantwortet. Etwas Rotziges, so wie Jana das gemacht hätte.

Ich lief den beiden Frauen in die Arme, die mir gegenübergesessen hatten. Sie hakten mich unter, und eine sagte: »Nun mal langsam mit den jungen Pferden.« Die Kleinere mit den kurzen Haaren sagte: »Ein schönes Kleid hattest du an vorhin.«

»Ja, das ist von meiner Oma. Ich habe es umgenäht«, antwortete ich, und beinah hätte ich angefangen zu heulen. Wir setzten uns unter eine der Kastanien. Die beiden erzählten mir, dass sie mit Katharina studiert hätten, aber jetzt nur noch sie Kunst machen würde. »Hannah ist bei der Zeitung, und ich bin Lehrerin geworden«, sagte die Größere. »Und Piratin bin ich auch nur hier.«

Sie fragten mich ein bisschen aus nach meinen Eltern und Jana und wie ich hierher gekommen wäre. Und ich fragte nach Julius’ Vater, und Hannah sagte: »Das war einer, dem du dein Herz gibst, und du weißt, da macht der Hackfleisch draus, und du gibst es ihm trotzdem.« Sie sah dabei über den See, so als hätte sie ihm ihr Herz auch gegeben, ohne zu zögern.

Es wurde schon wieder hell, und die beiden gingen schlafen. Ich wusste ja gar nicht, wo ich schlafen sollte, und ich wollte auch noch nicht, dass dieses Sommerfest vorüber war. Weder Jana noch Julius waren zu sehen. Es waren nur noch wenige der Gäste wach. Ich setzte mich vorne auf den Steg und hielt die Füße in das kalte Wasser.

Eine Weile saß ich da, und dann kam Julius mit Jana im Arm. Sie sah völlig verheult aus und trug diesen albernen Hut in der Hand. »Das ist ein Idiot, Jana«, sagte Julius. »Der war gerade beim Poetenseminar in Schwerin, und jetzt glaubt er, er wäre Heiner Müller.« Sie setzten sich neben mich. Jeder auf eine Seite. Es wurde langsam heller, und die Vögel sangen wie verrückt. Jana stand plötzlich auf, küsste mich auf die Wange und rannte dann Richtung Haus. Julius sah ihr nach, und ich legte ihm die Hand auf den Oberschenkel und sagte: »Lass die mal. Manchmal kann man ihr nicht helfen.«

Die Sonne stieg langsam höher hinter dem Haus. Irgendjemand riss noch einmal die Anlage auf, und »The passenger« erklang zum hundertsten Mal und wurde nach wenigen Takten wieder abgewürgt. Katharina rief: »Jetzt ist dann mal Schluss, Leute. Wenigstens mit der Musike.« Julius und ich sahen auf den kleinen wellenlosen See. Meine Arme und Beine waren komplett von Mücken zerstochen, aber die Morgensonne wärmte uns schon den Rücken, und dann griff er nach meiner Hand.

Hotel Gellért

Astrid erwacht langsam. Sie taucht nicht auf wie aus dem Wasser, wenn es schnell hell wird und die Konturen werden klar. Ihre Augen bleiben zu, und während sie sich langsam spürt, ihren Körper spürt, ihre Beine, dass sie sitzt, denkt sie, dass sie so seit Jahren schon nicht mehr aufgewacht ist. So langsam und zart. Es brummt. Das Auto, der Zug? Nein, ein Flugzeug. Ihre Hände umfassen die Sitzlehnen. Sie ist auf dem Weg nach Budapest, und zum ersten Mal freut sie sich richtig über diesen Urlaub, den ihr Paul geschenkt hat, der neben ihr sitzt, rechts neben ihr. Sie braucht nur die Augen zu öffnen, den Kopf zu drehen, und dann sitzt er da.

Vielleicht liest er, vielleicht guckt er aus dem kleinen runden Fenster oder er hört Musik. Astrid hofft, dass er nicht schläft, mit offenem Mund oder nach vorn gefallenem Kopf. Wer sieht dabei schon vorteilhaft aus? Ob sie selber geschnarcht hat? Sie schiebt den Gedanken beiseite und muss an ihre Freundin Vera denken, die gesagt hatte: »Kein direkt schöner Mann, aber er hat was.« Astrid lächelt und denkt an diesen ersten gemeinsamen Abend in einem französischen Restaurant im Prenzlauer Berg. Paul hat die wenigen Haare kurz geschoren und ein paar Kilo zu viel. Seine Hände sind groß und weich wie die eines Kindes. Er ist nur wenige Zentimeter größer als Astrid.

Sie öffnet die Augen, und Paul sieht sie direkt an. »Du hast gelächelt im Schlaf«, sagt er. Im kleinen runden Fenster neben ihm ist nur das kräftige helle Blau des Himmels zu sehen, und Astrid ist erstaunt, dass Pauls Augen damit konkurrieren können. Sie dreht sich in ihrem Sessel zu ihm, schiebt die Armlehne hoch und legt die Knie auf den freien Sitz zwischen ihnen: »Und du so?« – »Ich würde gern rauchen«, sagt Paul. »Beim Fliegen ist es immer schlimm. Weißt du noch, wie man vor ein paar Jahren in Flugzeugen rauchen durfte? Bis Reihe fünfzehn war Nichtraucher, und dahinter konnte gequarzt werden. Völlig absurde Vorstellung heute.«

»Steck dir doch eine an, mal sehen, was passiert.«

Paul legt seine hohe Stirn in Falten. Seine Ohren liegen sehr eng am Kopf an. »Dann werde ich wahrscheinlich erschossen. Außerdem habe ich natürlich gar keine Zigaretten dabei. Ich bin Nichtraucher, auf ärztlichen Rat nur und gegen meinen Willen, aber ich bin Nichtraucher. Was gibt es denn für Zigaretten in Budapest? Mensch, wie ich das geliebt habe. MS in Italien, Parisienne in der Schweiz, Gitanes in Frankreich. Das war Urlaub für die Lunge.«

An diesem Abend mit Vera und ihrem Mann Oliver hatte Paul kaum geredet, und Astrid war davon überrascht gewesen. Sie saßen sich gegenüber an einem dunklen blanken Holztisch. An den Wänden hingen Fliesen, auf denen verschiedene Fischmotive abgebildet waren. Vera redete gestenreich von ihrer Arbeit als Lehrerin, über die Schule und ihren dämlichen Chef. Sie redete wie aufgezogen, während Paul schwieg. Oliver, dessen volles rotbraunes Haar immer zu einem akkuraten Seitenscheitel gekämmt ist, lächelte Astrid ab und zu an und warf etwas Beschwichtigendes in Veras Redeschwall wie: »Ach komm, du machst es schlimmer, als es ist«, aber diese Sätze wurden weggespült wie Treibholz in einem Fluss. Paul aß sein Bœuf bourguignon. Er war nicht unhöflich still, er hielt sich nur merklich zurück, fragte an den richtigen Stellen nach, und Astrid merkte, während sie das feststellte, wie wichtig ihr Veras Meinung war, wie wichtig es ihr war, dass Vera und auch Oliver ihn mögen, und sie dachte: »Hört das denn nie auf, und ist es nicht einfach genug, wenn er mir gefällt?« Dann griff sie nach seiner großen, weichen linken Hand, die ruhig neben dem Teller gelegen hatte, und hielt sie fest. Er sah sie kurz an und ließ sie gewähren, zog die Hand nicht weg und sagte: »Ich würde das keine Woche überleben an so einer Schule, und nie allein.«

»Das war das Schärfste«, hatte Vera hinterher zu ihr am Telefon gesagt, als sie längst wieder zu Hause war, allein und ohne Paul, weil der am nächsten Morgen Frühdienst hatte. Bei diesem Telefongespräch, bei dem Vera auch Pauls Äußeres bewertet hatte, sagte sie: »Das war das Schärfste, als du einfach seine Hand genommen hast wie so ein Scheißbackfisch, und er guckt dich nur kurz an mit seinen blauen Augen. Mensch, da war ich so neidisch. Das kannst du dir gar nicht vorstellen.« Doch Astrid konnte sich das vorstellen. Sie kannte die Probleme zwischen Vera und Oliver in- und auswendig.

Paul läuft vor ihr und zieht einen kleinen schwarzen Rollkoffer hinter sich her, vorbei an den Wartenden vor dem Gepäckband. In Berlin hatte er ihr vor dem Gate sitzend lang und breit die Vorzüge seines Handkoffers erklärt und wie wichtig es wäre, einen mit vier Rollen zu kaufen, damit man den auch im aufrechten Zustand locker und leicht schieben konnte. Das waren seine Worte gewesen: »locker und leicht«, und Astrid hatte ihm fasziniert dabei zugesehen, wie er aufgesprungen war und vor der großen Scheibe, hinter der das graue Rollfeld von Berlin-Schönefeld lag, seinen kleinen Koffer hin und her schob. Astrid war das alles völlig egal. Ihrer war klein und gräulich, und seine zwei Rollen machten einen irren Lärm. Sie hatte ihn gekauft, als Samuel das erste Mal mit dem Kindergarten in ein Ferienlager fuhr. Das war also mehr als sechs Jahre her. Fasziniert war sie nur davon, wie sich Paul in so etwas scheinbar völlig Unwichtiges hineinsteigern konnte, wie er erst ganz spät merkte, dass sie das überhaupt nicht interessierte, und seinen Vortrag schloss, indem er sich neben sie auf den Sitz fallen ließ und sagte: »Was rede ich denn da eigentlich, Frau Doktor.«

Der Flughafen in Budapest ist klein, und sie durchqueren die Halle schnell. »Wie kommen wir in die Stadt?«, fragt Paul und richtet den Blick eines Kindes auf sie.

»Woher soll ich das wissen?«

»Immerhin warst du schon in Budapest.«

»Jetzt fang nicht wieder damit an. Das ist zwanzig Jahre her! Fünfundzwanzig fast. Da sind wir natürlich mit dem Zug angekommen. Anderthalb Tage hat die Fahrt gedauert. Nicht anderthalb Stunden.« Astrid hat es bisher genossen, ohne Kinder zu reisen, sich nur um sich zu kümmern, und sie will das nicht so schnell aufgeben. Das kleine Taxihäuschen entdeckt sie eher als Paul. »Hotel Gellért«, sagt sie in das Gesicht des jungen Mannes hinter der Scheibe und öffnet das Portemonnaie mit den unbekannten Geldscheinen darin. Sie war seit Jahren in keinem Land ohne Eurowährung mehr gewesen und hatte in heller Vorfreude 100 Euro in einen Haufen Forint umgetauscht. Der junge Mann schiebt ihr einen Zettel zu und sagt lachend über ein schepperndes Mikrofon: »Pay the driver, not me«, und Astrid kommt sich dusselig vor.

»Das ist so typisch für dich«, hatte Vera gesagt, als sie ihr von Paul erzählt hatte noch vor dem gemeinsamen Essen. »Du kennst den gar nicht, aber bei dir landet der im Bett.« – »Wir waren noch gar nicht im Bett.« – »Das ist doch ganz egal. Lange wird es wohl nicht mehr dauern, oder?«

Paul ist im Radio zu hören jeden Morgen, aber Astrid kannte ihn nicht. Seit Jahren hatte sie morgens kein Radio mehr gehört, seit Tobias ausgezogen war vor drei Jahren. Sie mochte keine Musik und keine Gespräche in der halben Stunde Frühstück mit den Kindern. In der halben Stunde, in der sie zu dritt saßen, jeder vor seinem Teller und jeder in seinen Gedanken, und nur Fine, die Kleine, die Achtjährige, manchmal einen Plapperanfall bekam. So nannte Samuel das, und sie grinste ihrem Sohn verstehend zu und versuchte dann, Fines Träumen oder Sorgen mit den Schulfreundinnen zu folgen. Und in den Tagen, wenn die Kinder bei Tobias waren, stand Astrid so auf, dass sie gerade noch duschen konnte, kaufte sich einen Kaffee und ein Croissant in der Bäckerei zwei Häuser weiter und nahm ihr Frühstück in der U-Bahn Richtung Schöneberg. Wie also sollte sie Paul kennen?

»Oliver hört den jeden Morgen, wenn der moderiert«, hatte Vera gesagt. »Der schwärmt richtig für den. ›Das ist keiner von diesen Doppelidioten, die sich zu zweit durch den Morgen blödeln und sich nur die Bälle zuwerfen.‹ Paul Schneider, meint mein Mann, sagt die Zeit an, knurrt den Musiktitel, und dann nimmt er irgendeinen Politiker in die Mangel, bis der anfängt zu stottern.«

Das Taxi fährt Richtung Innenstadt über eine Autobahn. Im wuchernden Gras daneben stehen Werbetafeln. OBI, Aldi, Rossmann. Sie sind alle schon da, und es ist eine Illusion, zu glauben, in der Fremde zu sein. Immerhin ist das Geld hier noch ein anderes als der schwächelnde Euro, den Astrid erst verflucht hatte ob seiner Gleichmacherei und dann mit großer Selbstverständlichkeit aus Geldautomaten zog in Wien oder Neapel. Ohne weiter darüber nachzudenken. Pauls Hand liegt auf ihrem Oberschenkel, und er hängt seinen Gedanken nach, blickt aus dem anderen Autofenster. Sie denkt an das Gellért Hotel und daran, dass es lange Zeit für sie der Inbegriff von einem Luxushotel war. Mit Blick auf die Donau und mit einem Thermalbad wie aus dem Märchen. So hatte sie sich damals dort gefühlt, wie eine Prinzessin, im Sommer 1987. »Das Thermalbad war öffentlich, da konnte jeder rein«, hatte sie Paul erklärt, und der zeigte auf seinen Reiseführer und sagte: »Das ist immer noch so.« Astrid erzählte nichts von der halben Nacht, die sie damals im Zimmer 310 verbracht hatte mit Julius. Das ist lange her.

Als sie Paul dann das erste Mal im Radio hörte, versuchte sie ihn sich vorzustellen in einem Studio, vor einem Mikrofon und mit Kopfhörern auf den Ohren. Sie kannte gar kein Radiostudio, hatte nur welche im Fernsehen gesehen, aber sahen Studios tatsächlich so aus wie in diesen Filmen? Paul hatte ihr erzählt, dass er früher, während ein Musiktitel lief, oft rausgegangen ist auf die Toilette, um eine Zigarette zu rauchen. »Bevor du mir das verboten hast.«

»Ich habe dir gar nichts verboten. Ich will deine Liebe sein und nicht deine Ärztin, du darfst tun, was du für richtig hältst«, hatte sie gesagt und dann doch hinterhergeschoben: »Für deine Kranzgefäße ist es allerdings sicher empfehlenswert.« Darüber hatte sie sich noch geärgert, dass sie das hinzufügen musste, wie unter Zwang.

Sie hörte also Pauls Stimme aus dem Radio in der Küche, zog sich einen Stuhl vor das Gerät und glaubte die Müdigkeit zu hören, mit der Paul seine Hörer begrüßte. »Es ist fünf Uhr sechs, sechs Minuten nach fünf.« Astrid zog die Füße auf die Sitzfläche des Stuhles, umschlang ihre Knie, legte den Kopf darauf und versuchte sich sein Gesicht vorzustellen, sein Grübchen in der linken Wange und sein schmales Kinn, aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie hatte sich extra einen Wecker auf fünf Uhr gestellt, und es war fast gespenstisch um diese Zeit allein in ihrer Wohnung. Die Kinder waren bei Tobias, und wie immer, wenn das so war, hörte sie die Leere aus ihren Zimmern wie einen feinen hohen Ton. Sie ging, während die Red Hot Chili Peppers sangen, durch die Wohnung, schaltete kurz das Licht an und betrachtete das Durcheinander in Samuels Zimmer. Ein auseinandergebauter Laptop stand auf seinem Schreibtisch, der inzwischen zu klein war für einen Zwölfjährigen. Drähte, Schaltkreise und Teile des Gehäuses waren über den grünen Teppich verteilt. Bei Fine standen die Puppen und Kuscheltiere in Reih und Glied. Immer bevor sie zu ihrem Vater ging, sortierte sie die und wählte dann zwei aus, die sie begleiten sollten.

Sie zog den Stecker des Radios aus der Dose und ging mit dem Gerät unter dem Arm ins Schlafzimmer. »Ich nehme dich mit ins Bett, Süßer«, sagte sie und hörte dann der Sendung im Liegen zu, und irgendwann kurz nach sechs, nachdem der Umweltminister von Niedersachsen konsequent allen Fragen nach einer Endlagersuche für Atommüll ausgewichen war, schlief sie wieder ein. Das war ihr peinlich und wirkte wie ein Verrat, und noch schlimmer empfand sie es, den Wecker auf halb sieben gestellt zu haben, so als habe sie dieses Einschlafen erwartet.

»Was machen wir denn als Erstes?«, fragt Paul, während sie an herrschaftlichen Fassaden vorbeifahren. Inzwischen war Astrid in Wien gewesen und erkennt eine Ähnlichkeit, auch wenn sie dieses Grau, das die Budapester Häuser noch reichlich tragen, in die Zeit zurückversetzt, als Wien noch ein ferner Traum war. Sie will nicht in diese Zeit zurückversetzt werden. »Was schlägst du denn vor? Essen, schlafen, vögeln?«, fragt sie zurück. Paul sieht auf den Hinterkopf des Fahrers, der bisher keine Anstalten gemacht hat, mit ihnen zu reden auf Deutsch oder auf Englisch, und lächelt. »Essen ist noch ein bisschen früh. Vielleicht vögeln im Mineralbad?«