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nomen

Helmut Ortner

Gnadenlos deutsch

Fünf Dossiers

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© Helmut Ortner und
Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2016
Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Blazek Grafik, Frankfurt am Main
Foto © Picture Alliance
Printed in Germany

Der deutsche Täter war kein besonderer Deutscher.
Was wir hier über seine Moral zu sagen haben,
trifft nicht auf ihn speziell,
sondern auf Deutschland insgesamt zu.«

Raul Hilberg

INHALT

Prolog
Die Gegenwart der Vergangenheit
oder: Herr Hanning steht vor Gericht

Dossier I
Der „ehrenwerte“ Herr aus Marburg
Wie ein Kriegsrichter nach 1945 Karriere machte

Dossier II
»Irgendwann muss auch mal Schluss sein«
Der Nachbar, ein KZ-Mörder

Dossier III
Ein Todesurteil
oder: Die zweite Karriere des Roland Freisler

Dossier IV
Der Mann am Fallbeil
Ein deutsches Henker-Leben

Dossier V
Verkannte Helden
Die Widerstandskämpfer
Georg Elser und Maurice Bavaud

Epilog
Der Führer lebt
oder: Hitler als medialer Popstar

Anmerkungen und Nachweise

Literatur

Die Gegenwart der Vergangenheit
oder: Herr Hanning steht vor Gericht

Im westfälischen Detmold ging im Juni 2016 ein weltweit beachteter Prozess zu Ende. Vor Gericht stand ein 94-jähriger Greis: der ehemalige Ausschwitz-Wachmann Reinhold Hanning. Obwohl ihm die Richter keine konkrete Tatbeteiligung nachweisen konnten, wurde er wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170 000 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Ein ungewöhnliches Urteil. Während der Verhandlung tat Hanning das, was die meisten seiner Generation seit 70 Jahren getan haben, wenn es um ihr Tun und Nichtstun zwischen 1933 und 1945 ging: er schwieg.

Nicht einmal seiner Familie habe er über Ausschwitz erzählt, berichteten seine Verteidiger. Hannings erwachsener Sohn saß hinten im Gerichtssaal: ratlos, sprachlos, verunsichert. Was wusste er über das Tun seines Vaters? Was hätte er wissen können? Hatte er ihn jemals befragt? Zu Hitler-Deutschland, zu Ausschwitz, zu seiner Zeit als junger Soldat? Zum Schweigen gehören häufig zwei: einer, der nichts sagt, und ein anderer, der nichts fragt. Nach dem Krieg wurde in vielen deutschen Familien geschwiegen.

»Sie waren knapp zweieinhalb Jahre in Auschwitz und haben damit den Massenmord befördert«, sagte Richterin Anke Grudda zu Beginn der Urteilsbegründung. Ursprünglich hatte die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren gefordert. Sie sah es als erwiesen an, dass der frühere Wachmann des Vernichtungslagers mit seinem Einsatz zum Funktionieren der Mordmaschinerie in Auschwitz beigetragen hat. Hanning war von 1943 bis 1944 in Auschwitz eingesetzt. Er hatte im Prozess zugegeben, Mitglied der SS-Wachmannschaft des Vernichtungslagers der Nationalsozialisten gewesen zu sein und vom Massenmord gewusst zu haben.

Die Verteidigung hatte Freispruch gefordert. In der Verhandlung waren nach ihrer Ansicht keine Beweise für die direkte Beteiligung ihres Mandanten an den Morden vorgelegt worden. Er habe zu keinem Zeitpunkt Menschen getötet oder dabei geholfen. Er habe nur seinen Dienst als Wachmann verrichtet.

In einer Erklärung hatte Hanning Reue über seine SS-Mitgliedschaft bekundet. »Ich schäme mich dafür, dass ich das Unrecht sehend geschehen lassen und dem nichts entgegengesetzt habe.« Er wünsche, nie in dem KZ gewesen zu sein.

Man konnte ihm abnehmen, dass er das aufrichtig meinte. Aber das Gericht hatte dennoch Zweifel. Man habe »keine Möglichkeit gehabt, den echten Menschen Reinhold Hanning kennenzulernen«, stellte die Richterin nüchtern fest. Die Nebenkläger waren erst recht nicht von der aufrichtigen Reue des ehemaligen SS-Mannes überzeugt.

Hanning habe einen Beitrag zum »reibungslosen Ablauf der Massenvernichtung« geleistet, das Morden billigend in Kauf genommen. Da spiele es eine untergeordnete Rolle, wie groß dieser Beitrag gewesen sei, so das Gericht. Es gab ihn – und dadurch machte Hanning sich schuldig. Die Richterin Anke Grudda wandte sich direkt an den 94-Jährigen, der im Rollstuhl sitzend ihre Worte äußerlich weitgehend regungslos aufnahm: »Sie haben zweieinhalb Jahre zugesehen, wie Menschen in Gaskammern ermordet wurden. Sie haben zweieinhalb Jahre zugesehen, wie Menschen erschossen wurden. Sie haben zweieinhalb Jahre zugesehen, wie Menschen verhungerten.«

Hanning habe sich mit seiner Tätigkeit arrangiert, sei in Auschwitz zweimal befördert worden und habe sich nicht an die Front versetzen lassen. Dass er keinen Dienst an der Rampe verrichtet haben will, wo Menschen für den Arbeitseinsatz aussortiert und der Rest direkt in die Gaskammer geschickt wurde, sei eine Schutzbehauptung, so die Richterin. Mehr noch – sie äußerte ehebliche Zweifel: »Dass Sie nie an der Rampe gestanden haben, halten wir für völlig abwegig.« Genauso sei »ausgeschlossen, dass Sie nicht ein einziges Mal erlebt haben, wie Menschen in die Gaskammern gingen«. Der Greis blickte zu Boden. Stille im Gerichtsaal.

Eine Stunde lang sprach Grudda. Ihre Worte markierten »einen Meilenstein in der Aufarbeitung des NS-Unrechts in Deutschland«, ließ der Staatsanwalt danach verlauten. Der Nebenklageanwalt sagte, es sei zum ersten Mal von einem deutschen Gericht gesagt worden, dass man als SS-Mann für alle Morde in Auschwitz mitverantwortlich sei. Tatsächlich war der Schuldspruch eine Botschaft: Als SS-Angehöriger in Auschwitz war jeder zum Täter geworden. »Das gesamte Lager glich einer Fabrik, ausgerichtet darauf, Menschen zu töten«, sagte die Richterin. »In Auschwitz durfte man nicht mitmachen.«

Nach dem Prozess blieben viele Fragen offen. Kann die Justiz ein Verbrechen nach mehr als 70 Jahren noch sühnen? Kann ein Gericht jemanden angemessen bestrafen für die Beteiligung am Holocaust? Und was ist mit den Opfern? Kann ihnen überhaupt Gerechtigkeit widerfahren? Und vor allem die eine Frage, die über dem gesamten Verfahren schwebte: Warum hat es mehr als sieben Jahrzehnte gedauert, bis dem Angeklagten der Prozess gemacht wurde?

Die Antwort ist so einfach wie erschreckend. Weil die Gesellschaft, der Staat, die Justiz es nicht wollten. Nicht nach dem Krieg, nicht in der Adenauer-Republik, nicht in der sozialdemokratischen Brandt-Schmidt-Ära, nicht unter Helmut Kohl (der gerne – missverständlich genug – von der »Gnade der späten Geburt« sprach), auch nicht in der rot-grünen Regierungszeit (in der immerhin zahlreiche Kommissionen damit beauftragt wurden, die NS-Verstrickungen und personellen Kontinuitäten in den Ministerien zu untersuchen) noch in den zurückliegenden Jahren der Großen Koalition von CDU und SPD.

Nun möchte man die Regierungen für das mangelnde Interesse der zuständigen Staatsanwaltschaften und Ermittlungsbehörden sowie die Verschleppung der Verfahren nicht unmittelbar verantwortlich machen – aber es fehlte durchweg an gesetzgeberischen Signalen. Es fehlte das Wollen, NS-Täter, als diese noch keine Greise waren, vor Gericht zu bringen.

»Dieses Verfahren ist das mindeste, was eine Gesellschaft tun kann, um den Überlebenden des Holocaust ein wenig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen«, sagte Anke Grudda, die Vorsitzende der Schwurgerichtskammer. Und: Der Fall sei eine Warnung vor den Versäumnissen der Justiz an die heutige Generation.

So blieb das Strafverfahren gegen Reinhold Hanning vor allem ein Symbol. Es erinnerte daran, dass eine Beteiligung an staatlichen Massenmorden nicht ungesühnt bleiben darf, selbst wenn dies erst nach vielen Jahrzehnten geschieht.

Der SS-Wachmann Hanning wurde verurteilt – mit 94 Jahren. Ähnliche Verfahren wird es kaum noch geben. Auch das macht Reinhold Hanning zur Symbolfigur: Der Schuldspruch gegen ihn erinnert daran, dass Zigtausende von Mördern, Schreibtischtätern und Mordgehilfen davonkamen.

Man darf festhalten: Die Aufarbeitung des NS-Unrechts durch die deutsche Nachkriegsjustiz ist eine Geschichte der Verspätung und Verzögerung. Diese Justiz hat gründlich versagt. Ein beschämendes Versagen.

Einige Zahlen: In den drei Westzonen und der Bundesrepublik wurde von 1945 bis 2005 insgesamt gegen 172 294 Personen wegen strafbarer Handlungen während der NS-Zeit ermittelt. Das ist angesichts der monströsen Verbrechen und der Zahl der daran beteiligten Menschen nur ein winziger Teil. Das hatte seine Gründe: Im Justizapparat saßen anfangs dieselben Leute wie einst in der NS-Zeit. Viele machten sich nur mit Widerwillen an die Arbeit. Auch politisch wurde auf eine Beendigung der Verfahren gedrängt, dafür sorgten schon zahllose Amnestiegesetze.

Zu Anklagen kam es letztlich gerade einmal in 16 740 Fällen – und nur 14 693 Angeklagte mussten sich tatsächlich vor Gericht verantworten. Verurteilt wurden schließlich gerade einmal 6656 Personen, für 5184 Angeklagte endete das Verfahren mit Freispruch, oft aus Mangel an Beweisen. Die meisten Verurteilungen – rund 60 Prozent – endeten mit geringen Haftstrafen von bis zu einem Jahr. Ganze neun Prozent aller Haftstrafen waren höher als fünf Jahre.

Vor dem Hintergrund eines der größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte eine skandalöse, eine empörende Bilanz.

Von der Justiz hatten die NS-Täter nichts zu befürchten. Und von der Gesellschaft – von Bekannten, Nachbarn, Arbeitgebern? »Herrgott, irgendwann muss doch auch mal Schluss sein«, so lautete das einverständliche Credo, ganz im Sinne des Nachkriegskanzlers Adenauer, der im Oktober 1952 den SPD-Abgeordneten Fritz Erler im Bundestag mahnte, man soll mit der »Nazi-Riecherei« doch endlich Schluss machen, denn »wenn wir damit anfangen, weiß man nicht, wo es aufhört«. Damit artikulierte Adenauer den Zeitgeist der Nachkriegsjahre. Die meisten Deutschen wollten von Kriegsverbrechern, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von den NS-Verstrickungen, von schuldhaften Täter-Biographien, kurz: vom moralischen und zivilisatorischen Desaster Hitler-Deutschlands nichts mehr wissen.

Tatsache ist: In der Adenauer-Republik standen vom ersten Tag an die Zeichen auf Amnestie und Integration der Täter. Straffreiheit für bestimmte maßnahmenstaatliche Akte der NS-Diktatur zum Bestandteil der Rechtsordnung zu machen – darum ging es. So verwandelten sich Tötungs- und Gewaltdelikte in eine »von oben« befohlene Straftat ohne eigene Verantwortung. Die Täter und ihre Taten wurden weißgewaschen. Sie hatten angeblich keine eigene, sondern gewissermaßen eine »fremde« Tat begangen. Gewissermaßen stellvertretend ihre Pflicht erfüllt, einem Eid verpflichtet – für Partei, Volk und Vaterland. Wo Gehorsam höchste Tugend war, konnte die Erfüllung der Tugend nichts Schlechtes sein. Es war ein Geist, der biedere Bürger dazu führte, verwerfliche, erniedrigende, menschenunwürdige Anweisungen blind zu befolgen, weil die meisten sie befolgten. Befehl ist Befehl.

Den Auftakt dieser Vergangenheits-Umdeutung bildete zu Jahresende 1949 ein erstes, vom Bundestag einstimmig im Eilverfahren verabschiedetes Straffreiheitsgesetz, welches sämtliche Straftaten amnestierte, die vor dem 15. September 1949 begangen worden waren und mit einer Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten geahndet werden konnten. Gut 80 000 Personen profitierten davon. Ein Spezialparagraph schaffte explizit auch für jene Straffreiheit, die es als nationalsozialistische Amtsverwalter und SS-Leute nach 1945 vorgezogen hatten, sich durch falsche Angaben der Identität den Entnazifizierungs-Prozeduren zu entziehen.

Dem Straffreiheitsgesetz folgten auf Druck der rechtslastigen FDP ab 1950 mehrere Bundestagsdebatten, in denen immer wieder das Ende der Entnazifizierung gefordert wurde. Hier wurde nichts anderes gefordert als ein Schlussstrich-Denken – und mit dem sogenannten »131«-Gesetz gelang nun tatsächlich eine große Amnestie für alle jene, die als »verdrängte Beamte« oder Berufssoldaten wieder eingestellt und versorgt werden konnten.

Die bei den Deutschen ohnehin bestehende Neigung, den fundamentalen Unrechtscharakter des NS-Regimes und seiner Eroberungskriege aus dem kollektiven Bewusstsein auszublenden, wurde also von der Adenauer-Regierung konsequent umgesetzt. Vor allem die Justiz zeigte nur wenig Neigung, ehemalige NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen, zumal im Justizapparat bekanntlich eine besonders starke personelle Kontinuität mit der NS-Zeit bestand. Die Bereitschaft, in NS-Strafsachen zu ermitteln und zu handeln, war nahezu null.

Es gab Ausnahmen: Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen, ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft, der zu den wenigen unbelasteten Juristen gehörte, die in der jungen Bundesrepublik eine Führungsposition einnahmen, und nichts so sehr hasste, wie die gängigen Formeln der Verteidigung zur Entschuldigung und Verharmlosung. Bauer setzte die Aufhebung der Verjährungsfrist für NS-Morde durch, und ohne ihn hätte es 1963 den großen Frankfurter Ausschwitz-Prozess nicht gegeben. Und ohne diesen Prozess gegen ehemalige Bewacher des Vernichtungslagers wäre die deutsche Öffentlichkeit noch viel länger »davongelaufen« vor den NS-Verbrechen. Fritz Bauer zwang die Deutschen zum Hinsehen, trotz und inmitten einer Justiz, die noch immer von braunen Seilschaften durchsetzt war. »Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich feindliches Ausland«, beschrieb er einmal seine Lage später in einem Fernsehinterview.

Bauer erkannte klarsichtig, dass der NS-Staat kein Betriebsunfall der Geschichte war, und wies auf die geschichtlich gewachsenen Strukturen und Mentalitäten hin, welche den NS-Verbrechen so sehr entgegengekommen waren und die aufzubrechen mehr erfordern würde als Gerichtsprozesse. Damit handelte er sich nicht nur den Zorn konservativer Kreise ein. Bauer wurde gemieden, bekämpft und bedroht. In einer Nachkriegsjustiz, welche die personelle Kontinuität mit der NS-Justiz wieder hergestellt hatte, war er ein Ketzer. Wie ihm ging es vielen.

Beispielsweise der jüdischen Journalistin Inge Deutschkron, die – versteckt in Berlin – den nationalsozialistischen Terror überlebt hatte. Als sie 1955 nach Bonn kam, war sie mehr als irritiert, und das nicht bloß, weil Bonn für eine Berlinerin ein schwer zu ertragendes provinzielles Nest war, sondern vor allem wegen der Tatsache, dass alte Nazis wieder in zahlreichen Ämtern in hohen Positionen saßen und ohne Scham verkündeten, jetzt die Demokratie aufbauen zu wollen. »Das fand ich dann doch etwas merkwürdig … «

Zu diesem Zeitpunkt war in der provinziell-behäbigen Bundeshauptstadt Bonn auch ein Mann als Staatssekretär im Kanzleramt, an dem niemand in der Adenauer-Republik vorbeikam: Dr. Hans Josef Maria Globke. Eine exemplarische Täterfigur. Ein Prototyp des geschmeidigen Anpassers. Als Jurist und Ministerialbeamter im NS-Reichsinnenministerium hatte er 1936 den ersten Rechtskommentar zu den »Nürnberger Rassengesetzen« mitverfasst, detaillierte, mit Fallbeispielen angereicherte Erläuterungen zu deren praktischer Anwendung, die der »Reinerhaltung des deutschen Blutes« dienen sollten. Ehen und außerehelicher Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden wurden darin als »Rassenschande« geahndet. Die Kommentierungen des Schreibtischtäters Globke waren kein bloßes Papierwerk, vielmehr lieferten sie für harte Strafen die juristische Legitimation. Wegen »beischlafähnlicher Handlungen« waren infolge davon Menschen sogar zum Tode verurteilt worden.

Globkes oberster Dienstherr, Reichsinnenminister Wilhelm Frick, zeigte sich jedenfalls sehr zufrieden mit seinem Mitarbeiter, der zwar nie NSDAP-Parteimitglied war, aber als ehemaliges Mitglied der katholischen Zentrumspartei nun als diensteifriger Beamter loyal zu seiner nationalsozialistischen Aufgabenerfüllung stand. Am 25. April 1938 schrieb Frick in einem Vorschlag zu dessen Beförderung: »Oberregierungsrat Globke gehört unzweifelhaft zu den fähigsten und tüchtigsten Beamten meines Ministeriums.« Bis zum Untergang des »Dritten Reiches« blieb Ministerialrat Globke auf seinem Posten, auch nachdem Heinrich Himmler Frick als Innenminister abgelöst hatte. Ein stets pflichtgetreuer Beamter, ein loyaler Diener des Staates – bis zum bitteren Ende.

Nach dem Krieg setzte schlagartig Globkes Gedächtnisverlust ein. Globke hatte sich mit seinen juristischen Arbeiten im NS-System bewährt und wurde nun für Adenauer als heimlicher Generalsekretär und Schatzmeister der CDU dessen wichtigster Helfer. Ein Mann für alle Fälle. Verschwiegen, loyal, gut vernetzt. Ein Mann, der die Systeme nahtlos wechselte, sich anpasste, aber nie für sein Handeln Verantwortung übernahm – und schlimmer: nie für sein Tun – und der sich nie zu sehr mit den Systemen, denen er diente, identifizierte. Anpassungsfähigkeit und Expertentum – das half ihm, in jeder Lage seine Stellung zu festigen und seine Person zu retten.

Später beschreiben Alexander und Margarete Mitscherlich seine Rolle treffend in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern: »Durch Globke und seinesgleichen wäre die nationalsozialistische Herrschaft nie zu Fall gekommen. Es wäre für Globke also bei der Identifikationslinie mit den Rassengesetzen seiner damaligen Vorgesetzten geblieben; Globke wäre als einer der Repräsentanten dieser nationalsozialistischen Politik gestorben, wie er als Beauftragter der katholischen Zentrumspartei weitergedient hätte, wäre die Weimarer Republik nicht kollabiert.«

Gestorben ist der gut versorgte Pensionär am 13. Februar 1973 in Bonn als angesehenes Mitglied der Bonner Gesellschaft und engagiertes Mitglied im dortigen Rotary Club. Globke – eine deutsche Karriere, tatkräftig unterstützt und gefördert von Adenauer, dem politischer Pragmatismus wichtiger war als Moral. Seine Devise: »Man kann bei dem Aufbau wichtiger Ministerien nicht von vorneherein auf die Mitarbeit von erfahrenen Leuten verzichten.«

Vor allem die Übernahme zahlreicher ehemaliger NS-Diplomaten in das Außenministerium der Adenauer-Regierung ist dafür ein Beleg. Hier waren Anfang der Fünfzigerjahre rund zwei Drittel der leitenden Beamten und etwa vier Fünftel der Referatsleiter ehemalige NSDAP-Mitglieder. In anderen Ministerien sah es nicht viel anders aus.

Hans Josef Maria Globke – eine deutsche Karriere. Eine besonders erfolgreiche: vom NS-Juristen zur Grauen Eminenz der Bonner Republik. Aber keineswegs eine ungewöhnliche. Zehntausende von Juristen, Ärzten, Unternehmern, Journalisten und Offizieren, die dem NS-Regime in wichtigen Positionen gedient hatten, setzten – ausgestattet mit »Persilscheinen« und erfolgreich »entnazifiziert« – in der Bundesrepublik ihre Karrieren fort: Hermann Josef Abs, Hans Filbinger, Reinhard Gehlen, Werner Höfer, Erich Manstein, Josef Neckermann und viele andere.

Die personelle Kontinuität nach 1945 ist ein zweifelhaftes Lehrstück politischen Verhaltens zwischen Strafe und Reintegration, Kontrolle und Unterwanderung, Reform und Restauration. Aber nicht nur in Amtsstuben und Gerichtssälen hielten die ehemaligen Parteigänger und Funktionsträger wieder Einzug, sondern auch in der Bundeswehr und bei der Polizei, in den Verfassungsschutzämtern und bei den Geheimdiensten.

Eine beschämende Tatsache: Die Täter des Dritten Reiches wurden nicht marginalisiert, nicht verfolgt oder gar verurteilt. Die Generation der Täter und die ihrer Kinder schlossen gewissermaßen einen generationsübergreifenden Pakt: eine Komplizenschaft, die auf konsequente Ausgrenzung, Strafverfolgung und Verurteilung verzichtete. Die Ära Adenauer: der große Frieden mit den Tätern. Danach, was ihre Großväter und Väter angerichtet, was sie zugelassen und wobei sie weggesehen hatten, wurde erst in den Sechzigerjahren gefragt.

Gibt es eine kollektive Schuld? Gibt es nicht eine individuelle Moral, eine ganz und gar persönliche Schuld? Und machen sich nicht alle, die die Vergangenheit verdrängen oder gar leugnen und zudecken, mitschuldig? Der Publizist Ralph Giordano hat dafür den Begriff von der »zweiten Schuld« geprägt.

Wer waren die Täter des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges? Waren sie Bestien oder Befehlsempfänger, desinteressierte Bürokraten und willenlose Rädchen im Getriebe? Waren sie ideologisierte Überzeugungstäter oder gewöhnliche Verbrecher? Die Geschichtswissenschaft hat sich jahrzehntelang fast ausschließlich auf die Haupttäter Hitler, Himmler und Heydrich oder auch auf Schreibtischtäter wie Eichmann konzentriert und die Akteure der zweiten und dritten Ebene, die Vollstrecker vor Ort, ausgespart.

Ja-Sager, Mitläufer, Befehlsempfänger, Mittäter, Täter – die Grenzen waren fließend. Das geschmeidige Wechseln war situationsbedingt. »Deshalb konnte, anders als die Geschichtsfolklore es nahelegt, auch ein totalitäres System wie der Nationalsozialismus auf den flexiblen Menschen, nicht auf den starren, unflexiblen Funktionsträger bauen«, konstatieren die Autoren Michael Pauen und Harald Welzer, die sich seit Jahren mit Täter-Biographien wissenschaftlich beschäftigen und nach den ihnen zugrunde liegenden Mustern und Prägungen, Erfahrungen und Weichenstellungen der Beteiligten fragen.

Wie man zum Täter, zum Befehls-Verbrecher wird und wie extrem sich Konformitätsbereitschaft entladen kann, illustrieren diverse Studien der Täterforschung. Nicht sadistische Vollstrecker, sondern »ganz gewöhnliche Männer« werden zu Massenmördern, wenn Gruppendruck und Situationen es erfordern – oder soll man sagen: ermöglichen?

Ein Fall, der das Spannungsverhältnis zwischen Verweigerung und Mitmachen besonders eindringlich illustriert, sind die Vorkommnisse um das Reservepolizeibataillon 101, über die Christopher Browning ausführlich berichtet hat und die Pauen und Welzer als Beispiel für den Konformitätsdruck innerhalb militärisch-polizeilicher Gruppierungen anführen: »Am Morgen des 13. Juli 1943 traten die Männer des Reservebataillons 101 an. Der bei seinen Männern sehr beliebte Kommandeur, der 53-jährige Wilhelm Trapp, war bei dem, was er nun sagte, bleich und nervös …« Er teilte den 500 Angehörigen seiner Truppe mit, es gäbe in Jozefow Juden, die mit den Partisanen unter einer Decke steckten. Das Bataillon habe nun den Befehl, diese Juden aufzufinden, zusammenzutreiben und danach die Männer im arbeitsfähigen Alter auszusondern, damit diese in ein Arbeitslager gebracht würden. Alle anderen, Frauen, Kinder und Alte, seien auf der Stelle zu liquidieren. Und er machte seinen Männern ein außergewöhnliches Angebot: Wer sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühle, könne beiseitetreten. Den Männern war also freigestellt, ob sie beim Massenmorden mitmachen wollten. Heraustreten oder Stehenbleiben? Nur zehn oder zwölf Männer machten davon Gebrauch – 448 blieben stehen.

Was aber trieb sie dazu, zu Mördern zu werden? Loyalität, Gruppenzwang oder Angst vor Konsequenzen? Auf jeden Fall, so Pauen und Welzer – unabhängig von nationalsozialistischer Gesinnung oder individueller moralischer Einstellung – vor allem der Konformitätsdruck. Soldaten handeln unter den Bedingungen des Krieges nie allein, es dominiert das Wir-Gefühl. Die Rolle der Gruppe, des Verbandes, der Einheit, des Bataillons ist für das Verhalten des einzelnen Soldaten wichtiger als ideologische, politische oder persönliche Motive.

Gilt das, was für den Soldaten zutrifft, auch für den »gewöhnlichen« Deutschen? Sind sie nur mitgelaufen, haben sie weggesehen, weil alle weggesehen haben? Säuberung und Verhaftung, Vertreibung und Inhaftierung, Judenstern und Bücherverbrennung – fast alle konnten es sehen.