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vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

Johann Maier

Judentum

Studium Religionen

2., durchgesehene Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

| 2013, 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Printed in Germany.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Satz: images Hubert & Co, Göttingen
Druck und Bindung: CPI-Ebner & Spiegel, Ulm

UTB-Band-Nr. 2886

eISBN 978-3-8252-4072-1 (UTB-Bestellnummer)

Inhalt

Vorwort

Einführung

Teil I. Definitionen

1. Selbstbezeichnungen und Bezeichnungen

2. Zugehörigkeitskriterien

Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

Vorbemerkung

1. Die Verankerung in Schöpfungs- und Urgeschichte

1.1 Die Schöpfungsgeschichten

1.2 Die Sprache der Schöpfung

1.3 Die Siebentagewoche und der Sabbat

1.4 Schöpfungsplan und Naturordnung

1.5 Kalender und Zeitrechnung

1.6 älohîm und JHWH

1.7 Die Erschaffung des Menschen, die Gottebenbildlichkeit und die Natur des Menschengeschlechts

1.8 Paradies und Sündenfall

1.9 Das Wissen der Vorzeit

2. Neubeginn und erneute qualitative Differenzierung

2.1 Der Noahbund und die sieben noachidischen Gebote

2.2 Der ethnogeographische Raum der Heilsgeschichte

3. Bund und Erwählung

3.1 Der Abrahamsbund. Die Erwählung und das Bundeszeichen der Beschneidung

3.2 Abrahams Söhne und Enkel

4. Das Exil im »Sklavenhaus« Ägypten und der Auszug unter Mose (Ex 1–15)

5. Offenbarung bzw. Bundesschluss und Kultstiftung am Sinai (Ex 19ff)

5.1 Die Offenbarung durch Mose

5.2 Die Kultstiftung

5.2.1 Kultstätte und erwählter Kultort

5.2.2 Heiligkeit, rituelle Reinheit und Unreinheit

5.2.3 Kultfähigkeit und Kultgemeinschaft

6. Der Wüstenzug

7. Die Landnahme und das Land Israel

8. Von der Landnahme bis zur Zerstörung des Ersten Tempels

8.1 Die Richterzeit

8.2 Saul und David: Der ungehorsame und der gehorsame Gesalbte des HERRN

8.3 König Salomo und der Erste Tempel

8.4 Die Könige von Juda und Israel

9. Das babylonische Exil und die Heimkehr

10. Die Zeit des Zweiten Tempels

10.1 Babylonier, Perser und Griechen

10.2 Unter Jawan – Griechenland. Die Religionsverfolgung unter Antiochus IV. und die Rettung durch die Makkabäer

10.3 Die vier letzten Weltreiche

10.4 Edom/Esau: Rom als viertes Weltreich Daniels

11. Die messianische Herrschaft

12. Die Kommende Welt – der transzendente Heilszustand

Teil III. Jüdische Religion in der erlebten Geschichte

1. Von den Anfängen bis zur Diadochenherrschaft (323 v.Chr.)

Vorbemerkung

1.1 Der regionale und zeitliche Rahmen

1.2 Die Ausbildung der politischen und kultischen Institutionen

1.3 Vom Exil zur Restauration und zur hierokratischen Verfassungsform

1.4 Die Institution der Torah

1.5 Die Sichtung und chronographische Einbindung der Traditionen und Programme

2. Von der Diadochenherrschaft bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels

2.1 Einleitung

2.1.1 Neutestamentliche Zeitgeschichte und Hellenismus

2.1.2 Die literarischen Quellen

2.2 Unter ptolemäischer Herrschaft (305–200/198 v.Chr.)

2.3 Unter seleukidischer Herrschaft: Triumph und Zeit des Frevels

2.4 Hasmonäerherrschaft, Parteienstreit und Übergang zur Herrschaft Roms

2.5 Torah und Pentateuch

2.6 Die frühjüdischen Richtungen

2.6.1 Allgemeines

2.6.2 Essäer/Essener und die Gemeinschaften hinter den Qumrantexten

2.6.3 Sadduzäer

2.6.4 Pharisäer

2.6.5 Zelotismus

2.6.6 Taufsekten

2.6.7 Hellenistisches Judentum

2.6.8 Judenchristen

3. Die formative Periode des rabbinischen Judentums (70 n. Chr. bis zur arabischen Eroberung)

3.1 Traditionsbildung und literarisches Erbe

3.2 Die tannaitische Zeit (70–ca. 220 n. Chr.)

3.3 Die amoräische Zeit

4. Von der arabischen Expansion bis zur Vertreibung aus Spanien (632–1492)

4.1 Die neuen Verhältnisse

4.2 Religiöse Literatur

4.3 Die Halakah

4.4 Die Herausforderung durch das Christentum

4.5 Die Herausforderung durch den Islam

4.6 Die Herausforderung durch die karäische Bewegung

4.7 Profane Bildung und Tradition, Vernunfterkenntnis und Offenbarungsglaube

4.8 Kabbalah

5. Jüdische Religion von 1492 bis zur Aufklärung

5.1 Die neue Situation

5.2 Die religiöse Literatur

5.3 Das zweigeteilte sefardische Judentum

5.4 Kabbalah und Endzeitstimmung

5.5 Der osteuropäische Chasidismus

6. Jüdische Religion seit der Aufklärung

Vorbemerkung

6.1 Die Aufklärung im aschkenasischen Judentum

6.2 Erste Reformansätze und Wissenschaft des Judentums

6.3 Reformjudentum

6.4 Konservatives Judentum

6.5 Reconstructionism

6.6 Orthodoxie und osteuropäischer Chasidismus

6.6.1 Allgemeines

6.6.2 Aschkenasisch-osteuropäische Orthodoxie

6.6.3 Aschkenasisch-westliche Orthodoxie

6.6.4 Zionistische Orthodoxie

6.6.5 Sefardische und orientalische Orthodoxie

6.6.6 Chasidismus

6.6.7 Fundamentalismus und Extremismus

7. Zionismus und jüdische Religion

Vorbemerkung

7.1. Jüdische Religion und Mentalität unter dem unmittelbaren Eindruck der Šô′ ah

7.2 Jüdische Religion im jüdischen Staat

7.3 Jüdische Religion und Staat des jüdischen Volkes: Rechtszionistische Geschichtsrevision und Holocaust-Ideologie

Teil IV. Praktizierte Religion

1. Einführung

2. Heiligung des Lebens

3. Häuslicher Bereich und Familienleben

4. Gebetsleben und Lernen

Vorbemerkung

4.1 Benediktionen

4.2 Das Pflichtgebet Šema` Jiśra′ el (Höre, Israel)

4.3 Das Pflichtgebet Šemôneh-`eśräh (Achtzehngebet)

4.4 Das Qaddiš

4.5 Der synagogale Werktagsgottesdienst

4.6 Die Schriftlesung

5. Der Jahreszyklus

5.1 Allgemeines

5.2 Der Sabbat

5.3 Neumond

5.4 Der 1. Tišri: Ro′ š ha-šanah – Neujahr

5.5 Die zehn Bußtage

5.6 10. Tišri: Jôm kippûr/Jôm ha-kippûrîm – (Großer) Versöhnungstag

5.7 15–21. Tišri: Sûkkôt – Laubhüttenfest

5.8 Am 22./23. Tišri: Śimhat Tôrah – Torahfreude-Fest

5.9 Der 25. Kislev: Das Chanukkah-Fest

5.10 Der 10. Tebet

5.11 Der 15. Šebat: Neujahr der Bäume / T«W bi-šebat

5.12 Der 13. Adar: Ta`anît `Ester – Estherfasten

5.13 Der 14. bzw. 15. Adar: Purimfest

5.14 14.–20. Nisan: Päsach/Matzot-Fest

5.15 Die Omer-Periode

5.16 Der 27. Nisan: Jôm ha-šô′ ah – Holocaust – Gedenktag

5.17 Der 4.–5. `Ijjar: Jôm ha-zikkarôn – Gedächtnistag und Jôm ha-`açma `ût / Unabhängigkeitstag

5.18 Der 14. `Ijjar

5.19 Der 18. `Ijjar: La«G ba-`Omär

5.20 Der 28. `Ijjar: Jôm Jerûšalajim – Jerusalemstag

5.21 Šabû`ôt/`açärät – Wochenfest/Versammlung

5.22 Der 17. Tammuz

5.23 Der 9. ′Ab

5.24 Der 15. ′Ab

6. Der Lebenszyklus

Vorbemerkung

6.1 Geburt und Beschneidung

6.2 Pidjôn ha-ben – Auslösung des Sohnes

6.3 Kindheit

6.4 Bar miçwah - Gebotspflichtiger

6.5 Hochzeit

6.6 Im Trauerfall

Literatur

Vorwort

Das Judentum ist heute eine pluralistische Religion, gemeinsam ist aber allen Richtungen die lange Geschichte und die damit verbundenen Glaubensvorstellungen und Erfahrungen, auch wenn sie unterschiedlich beurteilt und rezipiert werden. Noch folgenreicher sind die Differenzen in der religiösen Praxis, die bis zur Aufklärung trotz Varianten eine massive Basis für die jüdische Existenz in der Zerstreuung dargestellt hatte. Die vorgelegte Beschreibung sucht dem komplexen Befund trotz des eng bemessenen Raumes gerecht zu werden und bei allen Unterschieden gerade auch die Gemeinsamkeiten aufzuzeigen.

Wie schon oft, möchte ich auch diesmal meiner lieben Frau für die Hilfe bei den Korrekturen herzlich danken. Dem Verlag und dem Herausgeber danke ich für das Interesse und die verständnisvolle Geduld.

Mittenwald, am 24. Jänner 2006                                              Johann Maier

Einführung

An den Universitäten war die Erforschung der Antike und des Orients bereits etabliert, als der Gedanke zur Diskussion gestellt wurde, das Judentum gesondert zum Gegenstand einer akademischen Disziplin zu machen. Die Voraussetzungen dafür waren wissenschaftsgeschichtlich so ungünstig nicht, denn Reformation und Humanismus hatten eine intensive, auf die Kenntnis der biblischen Sprachen gestützte Beschäftigung mit der jüdischen Tradition bewirkt. Darüber hinaus blieben jedoch christliche polemische Werke für lange Zeit die einzigen Informationsquellen über jüdische Religion.1 Aufmerksamkeit schenkte man am ehesten dem biblisch-jüdischen Recht, der Kabbalah und dem Brauchtum.2 Rühmliche Ausnahmen waren die Werke von Autoren wie Joh. F. Buddaeus (1667–1729)3 und Jacques Basagne sieur de Beauval (1653–1723),4 die sich durch Sachlichkeit und Fairness auszeichnen. Im 19. Jh. wurde das Judentum vorrangig ein Thema der neutestamentlichen Zeitgeschichte. Auf diesem Gebiet wurden auch große Standardwerke geschaffen, aber die Geschichte der nachtalmudischen Religion blieb bis auf Ausnahmen (wie Franz Delitzsch) weitgehend unbekannt.

Auf der jüdischen Seite war im 19. Jh. mit der Wissenschaft des Judentums (eine neutralere Formulierung lautet: Wissenschaft vom Judentum) und durch die staatlich forcierte Modernisierung der Rabbinerausbildung ein wissenschaftliches Potential herangewachsen, das sehr wohl in der Lage war, die Lücke in der Kenntnis des mittelalterlichen und neuzeitlichen Judentums zu füllen, doch innerhalb der Universitäten bot sich dazu keine Möglichkeit. Zunächst war man bestrebt, die Quellen zu sichten und bibliographisch zu erschließen. So kamen erste Übersichtdarstellungen der hebräischen und darüber hinaus der jüdischen Literaturgeschichte zustande, wobei Moritz Steinschneider bahnbrechend wirkte, und Gustav Karpeles das erste Standardwerk auf diesem Gebiet schuf.5 Eine monumentalere Präsentation, eine Gemeinschaftsarbeit mehrerer Gelehrter, aber mit zahlreichen Übersetzungen, haben danach Jacob Winter und August Wünsche herausgegeben.6 In den 30er Jahren des 20. Jh. publizierte Meir Waxman ein Werk, das in diesem Umfang bis heute unersetzt geblieben ist.7 Etwa zugleich begann Israel Zinberg eine zwar noch umfassendere, aber unvollendet gebliebene Darstellung in jiddischer Sprache.8 Sie wurde in Israel ins Hebräische übersetzt und ergänzt,9 und erschien schließlich in einer aktualisierten englischen Übersetzung.10 Für die erste Information liegen auch einige kleinere Überblicksdarstellungen vor.11

Im Gegenzug zur Behauptung eines geschichtslosen, versteinerten Judentums wurden nun der Reichtum und die Vielfalt der jüdischen Geschichte und Kultur dokumentiert. Die religiöse Vorstellungswelt des Judentums hingegen behandelte man mit einer gewissen Zurückhaltung, denn in der Konfrontation mit dem Christentum hatte man stets betont, dass das Judentum keine Dogmatik kennt. Meist zog man es vor, religiöse Vorstellungen unter dem Titel Religionsphilosophie oder Philosophie zu abzuhandeln, doch sah man sich letztlich genötigt, das Judentum für sich selbst und der Umwelt gegenüber auf der Basis der Aufklärung plausibel darzustellen, vor allem im Rahmen der geforderten modernen Religionslehrbücher, und auf biblischer Grundlage. Eingehendere Darstellungen spiegeln die Sicht der einzelnen jüdischen Denominationen, der Orthodoxie, des Reformjudentums, und des Konservativen Judentums. Ebenfalls durch die christlich-jüdische Auseinandersetzung und überdies durch die Konfrontation mit antisemitischen Vorwürfen geprägt, wurde die jüdische Ethik dargestellt,12 am gründlichsten durch M. Lazarus.13

Die Geschichte der Religion kam am ehesten im Rahmen großer Darstellungen der jüdischen Geschichte berücksichtigt. Den ersten Versuch unternahm der böhmisch-jüdische Aufklärer und Pädagoge Peter Beer,14 gefolgt vom Historiker Isaak Markus Jost (1793–1860).15 Beider Werke waren bald überholt, denn der konservative, aber rationalistische Historiker Heinrich Graetz (1817–1891) beherrschte lange Zeit die Szene und ließ an mystisch-esoterischen Traditionen kein gutes Haar.16 Für Simon Dubnow (1880–1941) galt das osteuropäische Judentum als Inbegriff der »Jiddischkeit«.17 Benzion Dinur schrieb hingegen ganz aus zionistischer Perspektive,18 eine Tendenz, die auch ein verbreitetes israelisches Gemeinschaftswerk kennzeichnet. Eine ausgewogenere Darstellung schuf Salo W. Baron (1895–1989), zurzeit das Standardwerk schlechthin.19

Gegen Ende des 19. Jh. und Anfang des 20. Jh. hatten die Wissenschaft des Judentums und die moderne Rabbinerausbildung in Europa und in Übersee (USA) ein hohes wissenschaftliches Niveau erreicht, und die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin wollte zudem trotz deutlicher Nähe zum Reformjudentum religiös möglichst neutral sein. Gleichwohl blieben Versuche zur Integration dieser Wissenschaft als einer akademischen Disziplin innerhalb philosophischer Fakultäten ergebnislos. Seit der NS-Herrschaft befinden sich die großen Zentren jüdischer Bildung im Staat Israel und in den USA. Die rabbinischen Bildungseinrichtungen in England und Frankreich haben ihre Tätigkeit allerdings kontinuierlich fortgesetzt, auch in Deutschland gibt es wieder Einrichtungen jüdischer Bildung, und derzeit setzt in Osteuropa eine Welle von Neugründungen ein. In fast allen Ländern sind inzwischen darüber hinaus an Universitäten Lehrstühle und Institute eingerichtet worden, die Judaistik bzw. Jüdische Studien als eine Disziplin unter den anderen vertreten und in die religiös unabhängige akademische Ausbildung einbringen.20

Der moderne Wissensstand hat sich mehrmals in imponierenden Nachschlagewerken niedergeschlagen, die in manchen Teilen noch heute wertvolle Informationen bieten, am umfangreichsten die neue Auflage der Encyclopedia Judaica; handlichere neuere Publikationen vermitteln eine raschere, vorläufige Orientierung (s. Literatur).

Einführungen in die jüdische Religion sind zurzeit mehrere im Handel, manche von ihnen sind inzwischen auch sehr verbreitet,21 sollten aber wegen der unterschiedlichen innerjüdischen Gesichtswinkel möglichst vergleichend gelesen werden. Sie ersetzen nicht eine Darstellung der Geschichte der jüdischen Religion. Andere neuere, weniger populäre Darstellungen führen in dieser Hinsicht weiter (s. Literatur). Ein Überblick in konziser Form war das Ziel der Geschichte der jüdischen Religion von J. Maier (Berlin 1972), deren zweite, überarbeitete Auflage (Freiburg i. Br. 1992) im Vergleich zur ersten den enormen Fortschritt des Wissensstandes nach zwei Jahrzehnten vor Augen führt. Sie wird für die folgende Beschreibung der jüdischen Religion als Leitfaden vorausgesetzt.


1  Bis ins 20. Jh. nachgewirkt hat EISENMENGER, JOH.A. (1654–1704), Entdecktes Judentum, gedruckt in Frankfurt a. M. 1700; Königsberg 1711; Frankfurt a. M. 1741.

2  SIMON, R., Comparaison des cérémonies des Juifs et de la discipline de l’Église, Paris 1681/Den Haag 1682; DA MODENA, J. Cérémonies et coûtumes qui observent aujourd’hui parmi les Juifs, Paris 1674; Neudruck Paris 1929; dazu kontroverstheologisch MEDICI, P., Ritie costumi degli ebrei confutati, Madrid 1737. SCHUDT, J.J., Jüdische Merkwürdigkeiten, 4 Bd., 1714; Nachdruck Berlin 1922; KIRCHNER, P.CHR., Jüdisches Ceremoniel, Nürnberg 1734, Nachdruck Leipzig 1998.

3  Introductio ad Historiam Philosophiae Ebraeorum, Halle 1701; 1720 Nachdruck Hildesheim 2004.

4  L’histoire et la religion des Juifs, depuis Jesus-Christ jusqu’ä present, Rotterdam 1706/7; 1710 durch ELLIS DU PINT unautorisiert in Paris herausgebracht, von BASNAGE DE BEAUVAL, J. mit der Ausgabe Rotterdam 1711 gekontert; zuletzt: La Haye 1716.

5  KARPELES, G., Geschichte der jüdischen Literatur, 2 Bd., Berlin 21909 (1886); Neudruck Hildesheim 1963.

6  WINTER, J./WÜNSCHE, A., Die jüdische Literatur seit dem Abschluß des Kanons, 3 Bd., Trier 1894-96; Nachdruck Hildesheim 1965.

7  WAXMAN, M., A History of Jewish Literature, 4 (5) Bd., New York 1930/36; 21960.

8  ZINBERG, I., Di geshikhte fun der literatur bej Jiden, 8 Bd., Wilna 1929/37.

9  ZINBERG, I., T6led6t sifrüt Jisra’el, Tel Aviv 1958/60.

10  ZINBERG I., A History of Jewish Literature, 12 Bd., New York 1968/1972.

11  HALPER, B., Postbiblical Jewish Literature, Philadelphia 1921; FEUER, L.I., Jewish Literature since the Bible, 2 Bd., Cincinnati 91963; STEMBERGER, G., Geschichte der jüdischen Literatur, München 1977.

12  Vgl. GRÜNEBAUM, E., Die Sittenlehre des Judenthums andern Bekenntnissen gegenüber, Mannheim 1868 (Straßburg 21878); WEILL, A., La morale du Judäisme, 3 Bd., Paris 1875/1877 (1814–1889, orthod.); KATZ, A., Der wahre Talmud-Jude, Berlin 41928 (1893).

13  LAZARUS, M., Die Ethik des Judentums, 2 Bd., Frankfurt a.M. 1899 (51904)/1911; The Ethics of Judaism, 2 Bd., Philadelphia 1900.

14  BEER, P., Geschichte, Lehren und Meinungen aller religiösen Sekten der Juden und der Geheimlehre der Kabbalah, 2 Bd., Brünn 1822/23.

15  JOST, I.M., Geschichte des Judenthums und seiner Sekten, Leipzig 1857/59.

16  GRAETZ, H., Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten, 11 Bd. (in 13 Teilen), Berlin 1890–1909; Darmstadt 1997

17  DUBNOW, S., Weltgeschichte des jüdischen Volkes, 10 Bd., Berlin 1928–1930.

18  DINUR, B.-Z., T6led6t Jisra’el, 10 Bd., Jerusalem 1961/72. Ebenfalls zionistisch ausgerichtet: BEN SASSON, H.H. (Hg.), Geschichte des jüdischen Volkes., 3 Bd., München 21992.

19  BARON, S.W., A Social and Religious History of the Jews, 18 Bd., New York 21952–1983.

20  STEMBERGER, G., Einführung in die Judaistik, München 2002. Einen weltweiten Überblick vermittelt das Academic Jewish Studies Internet Directory, http://www.jewish-studies.com/.

21  S. Literatur; weitere Angaben im Teil IV. Praktische Religion.

Teil I. Definitionen

1. Selbstbezeichnungen und Bezeichnungen

Israel und Israeliten bzw. Söhne Israels sind die traditionellen, in religiösen Texten vorherrschenden Selbstbezeichnungen für eine sowohl ethnische wie religiöse Einheit, die man demographisch-statistisch Judenheit (vgl. englisch jewry) und als Religion Judentum (vgl. englisch judaism) nennen kann. Für diese Gesamtheit gibt es im Hebräischen seit der Spätantike den übergreifenden Begriff kenäsät Jiśra′ el (Versammlung Israels), literarisch-dramatisch zu einer weiblichen Figur personifiziert, die vor Gott für Israel eintritt, während ansonsten der Erzengel Michael (»Wer ist wie Gott?«) Israel vor Gott und gegenüber den anderen (siebzig) Völkerengeln vertritt. Die Bezeichnung Synagoge als Gegenstück zu Kirche entspricht christlichem Sprachgebrauch.

Juden/Judäer nannte man ursprünglich Bewohner das Landes Juda/Judäa, nach dem babylonischen Exil (586–538 v.Chr.) immer öfter die Anhänger jener Richtung, die sich als Heimkehrergemeinschaft gegenüber anderen Israeliten abgrenzten. Schließlich wurde diese Bezeichnung – vor allem unter Nichtjuden – anstelle von Israeliten verwendet. Das griechische Wort judaismos bezeichnet hingegen vorrangig die Religion Israels. Hebräer deutet auf eine ethnische und sprachliche Gemeinsamkeit, und manchmal verweist es einfach auf die biblischen Ursprünge. In der Zeit der Aufklärung und der Emanzipation hat man die Bezeichnung Jude wegen ihrer Verwendung als Schimpfwort weithin vermieden und es wurden Selbstbezeichnungen gewählt, die den Akzent auf die biblischen Grundlagen rücken sollten, nämlich: hebräisch, israelitisch und mosaisch, und diese begegnen auch im staatlichen Sprachgebrauch. Heute sind Jude, Judentum und jüdisch wieder ohne negative Beiklänge allgemein üblich.

2. Zugehörigkeitskriterien

Die Zugehörigkeit zu Israel wird in erster Linie abstammungsmäßig definiert, und zwar (außer für den Stamm Levi) von der mütterlichen Seite her, was sich durch die moderne Genforschung als objektiv begründet erwiesen hat.1 Nach jüdischem Recht gilt als Jude, wer von einer jüdischen Mutter abstammt oder rite zum Judentum übergetreten ist. Dies wurde auch ins Personenstandsrecht des Staates Israel aufgenommen, mit der ausdrücklichen, ergänzenden Klarstellung: »und sich nicht zu einer anderen Religionsgemeinschaft bekennt«. Allerdings bereitet liberalen und v. a. säkularen Juden bzw. Israelis die Begrenzung der Religionsfreiheit Unbehagen, die durch die Bindung der Nationalität an die Religionszugehörigkeit vorgegeben ist. Einem jüdischen israelischen Staatsbürger wird nämlich im Reisepass unter Nationalität jüdisch eingetragen, doch wechselt er die Religion, verliert er die jüdische Nationalität. Zudem scheiden sich die Geister in Bezug auf die Bedeutung der Formulierung rite (also: ritualgerecht) übergetreten. Orthodoxe verlangen einen Übertritt nach orthodoxen Kriterien und auf Anerkennung durch ein orthodoxes Gericht, und da im Staat Israel das Judentum Staatsreligion ist und die Orthodoxie diesbezüglich ein Monopol hat, ergeben sich laufend Differenzen. Die Fronten haben sich zwar in den letzten Jahrzehnten etwas aufgeweicht, aber auch neue Hürden wurden errichtet, etwa wenn das Reformjudentum als Zugehörigkeitskriterium auch die Abstammung von einem jüdischen Vater anerkennt.

Die Einheit und Besonderheit Israels unter den Völkern wird in der Tradition nicht nur abstammungsmäßig, sondern auch traditionsgeschichtlich und erwählungsgeschichtlich begründet: Von Adam über Seth, Henoch und den Noah-Sohn Sem führt eine Linie von Urahnen und Traditionsträgern zu Abraham, Isaak und Jakob/Israel. Die 12 Söhne Jakobs gelten als Ahnherren der 12 Stämme Israels; darunter gilt Levi als Kultdiener-Stamm. Das ergibt eine dreigeteilte Rangfolge bzw. soziologische Makrostruktur: Priester (mit dem Hohepriester an der Spitze), Leviten (Kultdiener, Funktionäre in Verwaltung und Rechtswesen) und (normale) Israeliten bzw. Laien, eventuell mit einem König Israels an der Spitze. Mit der Tempelzerstörung im Jahr 70 n. Chr. verloren Priester und Leviten zwar ihre bis dahin dominante Position, die Voraussetzung einer (patrilinear!) abstammungsmäßig definierten Kultdienerschaft (Priester und Leviten) blieb aber in Geltung und bedingt gewisse Ehren-Vorrechte. Seither werden Sozialgefüge und Sozialprestige durch zwei Faktoren dominiert: die wirtschaftliche Elite, die in der Lage ist, den Bestand der Gruppe zu gewährleisten, und eine Gelehrtenschicht, deren Autorität die alte priesterliche Autorität und religiöse Kompetenz ersetzt.


1 Vgl. dazu KLEIMAN, Y., DNA and Tradition, Jerusalem 2004.

Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion

Vorbemerkung

Das Judentum gilt als geschichtsbewusste Religion mit der Vorstellung von einem linearen, zielgerichteten Geschichtslauf als Kennzeichen. Man hat oft versucht, Entsprechungen und Unterschiede zwischen griechisch-hellenistischem und biblisch-jüdischem Geschichts- und Zeitverständnis aufzuzeigen, und manchmal sogar Gegensätze postuliert.1 Wirklich eigentümlich ist Seite jedoch das Bemühen, die geglaubte Geschichte in einem universalgeschichtlichen Rahmen darzubieten, so dass der eigene Anspruch geschichtlich und sogar vorgeschichtlich begründet wird und die Realisierung dieses Anspruchs als Ziel aller Geschichte überhaupt erscheint. Die zielgerichtete Sicht schließt allerdings die Vorstellung von zyklischen Vorgängen keineswegs aus, und dazu trägt auch eine Neigung zu schematischen Periodisierungen bei. Alle religiösen Grundvorstellungen haben ihren eigentlichen Platz im Rahmen der geglaubten Geschichte,2 einige davon wurden infolge der Säkularisierung durch ideologisch motivierte teils ersetzt, teils durchsetzt,3 und die Vertreter solcher Geschichtsbilder übertragen gern den Autoritätsanspruch der Tradition auf die eigene Position.

1. Die Verankerung in Schöpfungs- und Urgeschichte

1.1 Die Schöpfungsgeschichten

Im Orient kannte man schon früh Überlieferungen bezüglich der Entstehung der Welt, der Bedrohung ihres Bestandes durch Chaosmächte, und der Entwicklung kulturell-zivilisatorischer Errungenschaften bis zur Katastrophe einer großen Flut. Was in der Umwelt im Rahmen der polytheistischen Götterwelt und auf der Basis mythischer Vorstellungen dargelegt wird, erscheint auf dem Boden der JHWH-Religion als Geschichte der Welt- und Menschenschöpfung durch einen Gott und als Urgeschichte der Menschheit.4 Aber das Interesse galt nicht spekulativen Weltentstehungserklärungen, sondern der Konstruktion eines nach Generationen bzw. Lebenszeitdaten geordneten Geschichtsverlaufs, der mit der Weltschöpfung (Gen 1–2) einsetzt, mit der Sintflut aber beinahe wieder endet, dann mit den Noahsöhnen Sem, Ham und Jafet neu beginnt, um diese universale Urgeschichte auf die eigene Gemeinschaft und den eigenen Kult hin zuzuspitzen. Die Urgeschichte der Menschheit dient als Vorspann zur Geschichte Israels.

1.2 Die Sprache der Schöpfung

Eine in der priesterlichen Bildungstradition ausgefeilte Darstellung (Gen 1,1–2,4) setzt eine Weltschöpfung durch Gottesworte voraus.5 Zehn Schöpfungsworte (ma′ amarôt) zählt man, und sie wurden in der weiteren Folge zu einem schöpfungstheologischen Hauptmotiv.6 Als direkte Gottesrede gelten auch die Proklamation der Zehn Gebote (dibberôt) am Sinai (Ex 20), und dreizehn Wirkungsweisen (middôt) Gottes, die man aus Ex 34,6b–8 herausliest Von daher hat das Hebräische seinen Ruf als Sprache der Schöpfung erhalten. Bis zur Moderne herauf wurden (auch unter Christen) die anderen Sprachen in ihrem Verhältnis zum Hebräischen beurteilt und diesem als der Ursprache nachgeordnet.7 Das Hebräische blieb demgemäß auch die Sprache der religiösen Tradition, insbesondere der gesetzlichen. Die Rolle als Schöpfungssprache gilt auch für die Schrift. Die 22 Schriftzeichen (Konsonanten) des Hebräischen, die zugleich als Zahlzeichen dienen, wurden als Schöpfungspotenzen gedeutet, was eine reiche Buchstaben- und Zahlensymbolik nach sich gezogen hat.8 Die 22 Konsonanten und die Zahlen 1–10 ergeben zusammen die 32 »Wege der Weisheit«, seit der Spätantike eine Grundlage für allerlei Spekulationen. Etwa die Gematrie, wobei der Zahlenwert von Buchstaben, Wörtern, Sätzen und ganzen Texteinheiten errechnet, daraus eine besondere Bedeutung erschlossen und mit der Zahlensymbolik verbunden wird. Solche Vorstellungen waren auch in der Umwelt gang und gäbe,9 das Besondere ihrer jüdischen Anwendung liegt im Bezug auf die Torah als Schöpfungsordnung. Und natürlich standen dabei Buchstaben und Zahlenwerte biblischer Gottesbezeichnungen im Zentrum des Interesses. Heute werden dafür (manchmal bis zum Exzess) die Möglichkeiten der EDV genutzt.

Für Juden blieb das Hebräische folglich die eigentlich angemessene, eigene Sprache,10 andere Sprachen bezeichnete man gern als Fremdsprache (la`az) oder als »ihre Sprache«.

1.3 Die Siebentagewoche und der Sabbat

Die Zahleneinheit Sieben wurde Grundlage für zahlreiche kosmologische und chronographische Ausführungen. Der Schöpfungsvorgang verteilt sich auf sechs Wochentage mit dem siebten Tag als Ruhetag als Abschluss. Im traditionellen liturgischen Jahreszyklus wird die Schöpfung mit dem Neujahrsfest verknüpft.

1. Tag Sonntag Schöpfung von Himmel und Erde, Tohu-wa-Bohu, Urfinsternis, Urlicht, Trennung zwischen Licht und Finsternis
2. Tag Montag Schöpfung des Firmaments und Trennung der Wasser darüber und darunter
3. Tag Dienstag Trennung zwischen Wasser und Festland, Erschaffung der Flora
4. Tag Mittwoch Erschaffung der Gestirne, Beginn der Kalender-Zeitrechnung
5. Tag Donnerstag Erschaffung der Meerestiere und Vögel
6. Tag Freitag Erschaffung der Landtiere und des Menschen
7. Tag Samstag Sabbat = Ruhe(tag). Gedenken der Schöpfung, Vorgeschmack des endgültigen Heilszustandes

1.4 Schöpfungsplan und Naturordnung

Der erste Schöpfungstag impliziert als Tag 1 der Woche, dass davor Sabbat war, ein Ur-Weltensabbat. Man nahm daher später an, dass die Weltgeschichte nach 6 Zeiteinheiten (vor allem 6 Millennien) wieder auf einen Weltensabbat hinausläuft. Die Sabbatzyklen sind also nicht jenem Zeitlauf unterworfen, der mit der Erschaffung der Himmelskörper am 4. Schöpfungstag einsetzt, sie sind vorzeitlich und strukturieren die geschichtliche Zeit auf eine übergeschichtliche Weise, bringen Ewigkeit in die Zeit. Und da die Kultdienstordnung, der Wechsel der Dienstabteilungen, an die Sabbatzyklen gebunden war, gilt auch sie als ewige Ordnung. Symbolik und Festlichkeit der Sabbatfeier erhielten von daher ihre besondere Note (s. Reader, Nr. 2). Auch die Erwähnung der Sabbatheiligung im Schöpfungsverlauf wurde als Hinweis darauf verstanden, dass die Sinai-Torah an sich vor- und überzeitlich ist, denn die Sabbatheiligung gilt als ja eines der Torahgebote vom Sinai und nur für Israel allein verbindlich.

Folglich sprach man von der Torah als Schöpfungsplan, gottverfügter Naturordnung (s. Reader, Nr. 1 und 3), und das Bild von der Torah als Bauplan der Schöpfung war im hellenistischen Judentum wie in der rabbinischen Tradition bekannt. Dies bestimmte auch das Verständnis des ersten Wortes der Bibel (br′ šjt) in Gen 1,1 als »mit Anfang« und nicht als »am Anfang (hat Gott geschaffen)«. Und dieser Anfang ist die Schöpferweisheit, die Torah, der schon in Prov 8,22.30 vorweltliche Existenz zugesprochen wird und in Prov 8,22 r′ šjt drkw, »Anfang Seines Weges« heißt. Folgerichtig hat man angenommen, dass die Torah als Gottes ewige Weisheit und unveränderlicher Wille auch auf Erden nicht aufgehoben oder geändert werden kann.

Drei Motive haben sich von dieser schöpfungstheologischen Voraussetzung her mit dem Begriff Torah verbunden. Das erste ist das Licht, wobei dem Licht des 2. Schöpfungstages – vor der Erschaffung der Himmelskörper am 4. Tag – besondere Bedeutung zukommt.11 Das zweite Motiv ist das Leben, und dazu gehört als drittes das Wasser im Sinne von »Wasser des Lebens/Lebenswasser.« Und selbstverständlich markieren die Gegensätze Finsternis, Tod und Torheit bzw. Unwissenheit, ein Leben ohne oder gar gegen die Torah. Damit war ein relativer dualistischer Ansatz vorgegeben, der jedoch wegen der schöpfungstheologischen Verankerung der Torah zu keinem absoluten Dualismus führen konnte. Die Torah wurde folglich als Lebensordnung und als Leben spendende Kraft begriffen, als Weg zum Leben, im Gegensatz zum Weg, der zum Tode führt. Im Mittelalter hat diese Torah- und Schöpfungstheologie in der Kabbalah ihre intensivste spekulative Ausprägung erfahren.12

Das theologische Konzept einer Torah im Sinne des offenbarten verbindlichen Gotteswillens ist offensichtlich älter ist als die inhaltliche Festschreibung. Schon in Dt 29,38 ist »Offenbares« das jeweils verbindliche, anwendbare Gottesrecht, das »Verborgene« der noch nicht offenbarte, aber vorhandene Gotteswille. Die Annahme, beides zusammen sei der Gotteswille schlechthin, die vollkommene Torah von Ps 19,8 (vgl. Josephus, Contra Apionem 2,184–189) und die Weltordnung, lag schon aufgrund der Kulttheologie mit ihrer Vorstellung von der kosmologischen Relevanz der kultischen Ordnung nahe. Dies alles verlieh der Torah eine universale und schöpfungstheologische Bedeutung, während erwählungstheologisch die Verpflichtung zur Torahverwirklichung auf Israel allein beschränkt blieb.

1.5 Kalender und Zeitrechnung

Weder die Orientierung am Mondlauf noch die Orientierung am Sonnenlauf ergibt eine volle Übereinstimmung mit den astronomischen Umlaufzeiten. Es kam daher zur Entwicklung unterschiedlicher Kalendersysteme, die einander aber nicht unbedingt ausschlossen, denn die Wahl eines Kalenders hing in erster Linie vom Zweck seiner Anwendung ab. Bis in die letzten vorchristlichen Jahrhunderte gab es in Israel auch einen Jahresbeginn im Frühjahr, vor allem in Verbindung mit einem vorrangig sonnenlauforientierten Kultkalender mit 364 Tagen, eingeteilt in 12 Monate zu je 30 Tagen (= 360) + 4 Quartals-Zusatztagen, wobei die Sabbat-bzw. Siebenerzyklen als vorgeschöpfliche Einheiten eine grundlegende Bedeutung für die Zeitrechnung hatten. Und in die Sabbatzyklen waren auch die Priesterdienstzyklen integriert.13

Seit dem 2. Jh. v. Chr. hat sich aber ein lunisolarer Kalender mit Jahresbeginn im Herbst durchgesetzt.14 Die Jahreslänge des durchgesetzten lunisolaren Kalenders richtet sich nach dem Sonnenjahr, der Monat wird nach dem Mondlauf bestimmt (Neumondfest) und zählt teils 29, teils 30 Tage. Die Monate heißen, nach den 4 Quartalen (teqûfôt) angeordnet:

I 1. Tišrî (Sept/Okt) 2. imageešwan (Okt/Nov) 3. Kislew (Nov/Dez)
II 4. Ţebet (Dez/Jan) 5. Šebaţ (Jan/Febr) 6. ′Adar (Febr/März)
III 7. Nisan (März/Apr.) 8. `Ijjar (Apr/Mai) 9. Sîwan (Mai/Juni)
IV 10. Tammûz (Juni/Juli) 11. ′Ab (Juli/Aug) 12. ′Elûl (Aug/Sept)

Zum Ausgleich bedarf es eines Schaltmonats (Adar II) in jedem 7. Jahr. Der große Nachteil gegenüber dem alten 364-Tagekalender besteht darin, dass er kein feststehender Kalender war und die Neumondbestimmung bis in die späte Antike nur durch Beobachtung und anhand von Augenzeugen möglich war.

Die Wochentage werden nach ihrer Position zum folgenden Sabbat als dem »siebenten Tag«, mit Tag eins (Sonntag) sechs (Freitag) bezeichnet. Als liturgisch-halakisch maßgeblicher Tagesbeginn gilt der Vorabend, von alters her nach dem Erscheinen von mindestens drei Sternen; heute wird der Beginn im Voraus errechnet und publiziert. Die heilige Zeit des Sabbat oder eines Feiertags wird von der profanen zu Beginn mit dem Qiddûš (»Heiligung«) und zum Ausklang mit der Habdalah (»Trennung«) getrennt und in den betreffenden Benediktionen auf die Schöpfung und die Trennung zwischen Licht und Finsternis sowie zwischen Israel und den Völkern Bezug genommen.

Auf der Basis der 7-Tage-Woche (6 Wochentage + 1 Sabbat) wurden größere Siebenereinheiten konstruiert: Die Jahrwoche (sieben Jahre). Das siebente Jahr gilt teils als Brachjahr (keine Bestellung der Felder), teils als Erlassjahr. Die Jobelperiode zählt 7 Jahrwochen = 49 Jahre. Im 50. Jahr sollen die alten Familienbesitzverhältnisse wiederhergestellt werden und eine Sklavenfreilassung stattfinden, was eine symbolische Bedeutung als Vorwegnahme der endgeschichtlichen Befreiung bewirkt hat. Der Zeitabschnitt von 10 Jobelperioden (490 Jahre), also 70 Jahrwochen, diente in alter Zeit mit der Jobelperiode selbst als Mittel chronographischer Darstellungen.

Die traditionelle Zählung der Jahre ab der Schöpfung der Welt wurde durch die Vorstellungen von Weltzeitaltern und von Millennien (1000-Jahr-Perioden) angeregt, vor allem durch die biblische Folge von sechs bzw. sieben Schöpfungstagen, die man gemäß Ps 90,4 (tausend Jahre sind vor Dir wie ein Tag) als Millennien deutete. Auf dieser Basis wurden in Anlehnung an die biblischen Angaben über die Generationenfolgen schon in der Antike Schöpfungschronologien und die Dauer der Weltzeit überhaupt errechnet. Im Mittelalter wurde eine Zählung üblich, die als ersten Schöpfungstag den 7. Oktober 3760 v.Chr. voraussetzt. Das ergibt als Millenniumsdaten: 1000 = 2760 v.Chr.; 2000 = 1760 v.Chr.; 3000 = 760 v.Chr.; 4000 = 240 n.Chr.; 5000 = 1240 n.Chr.; 6000 = 2240 n.Chr. Weil aber das jüdische Jahr im Herbst beginnt, überlappen sich die beiden Jahre etwas, das Jahr 5768 nach der Schöpfung entspricht also unserem Kalenderjahr 2007/8 (von Herbst zu Herbst). Ab 5000 wird die Jahrtausendangabe meist nicht angegeben (also 767 für 5767), man nennt dies die »kleine Zählung«. Für die Umrechnung jüdischer Jahresdaten stehen eigene Nachschlagewerke zur Verfügung.15

Die von der Schöpfungsvorstellung her motivierte Buchstaben- und Zahlensymbolik und die Bemühungen um die Erstellung einer kalendarischen Ordnung, einer Zeitrechnung und einer Metrologie im Einklang mit den kosmischen Gegebenheiten sind Merkmale der jüdischen Religion geblieben. Was immer man dafür auch aus der Umwelt übernommen hat, es wurde der Torah untergeordnet, auch die Astrologie und die moderne Naturwissenschaft, denn nicht die Schöpfung bzw. die Natur selbst liegt im Brennpunkt des Interesses, sondern die Torah als dahinter stehende Schöpfungs- und Naturordnung.16

1.6 älohîm und JHWH

Israels Gott wurde zwar vom babylonischen Exil an als einziger Gott überhaupt proklamiert, aber die biblischen Gottesnamen und Gottesattribute haben immer für Spekulationen und Diskussionen gesorgt (s. Reader, Nr. 7.1–2). Zu geläufigen Umschreibungen wurden auch »der Ort« und »der Himmel« und sehr häufig wurde Gott durch sein Wort oder durch seine Gegenwart (šekînah) und dergleichen ersetzt. Das erweckte gelegentlich den Eindruck, dass zwei oder gar mehr göttliche Mächte oder neben Gott noch Engelwesen am Werk waren und sind, eine jenseitige Gottheit und eine Schöpfermacht, ein verborgener und ein sich (Israel) offenbarender Gott.17

Der erste, priesterliche Schöpfungsbericht verwendet die Gottesbezeichnung ′älohîm. Das ist ein Plural (von ′ äah), der auch »Götter« heißen kann, zumeist aber wie ′ el für den Begriff Gott allgemein steht. Im Lauf der Zeit wurde ′ älohîm ganz bewusst mit Gottes Schöpferrolle und Richterrolle verbunden, während der Name JHWH (das »Tetragramm«) dem gnädigen Gott gilt, der sich Mose bzw. Israel offenbart hat. Die beiden Bezeichnungen sind aber nur zwei von vielen. Manche antiken Quellen setzen für JHWH die Aussprache mit den Vokalen a – e voraus, was eine Verbalform im Kausativ (jahwäh: ruft ins Dasein, verursacht Seiendes) ergibt. Besser bezeugt ist die Lautfolge a – u (Jahû), die durch alte griechische Übersetzungen sowie durch theophore Namensformen wie Netanjahu/Jehonatan etc. gestützt wird. Schon in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten ersetzte man die Aussprache von JHWH durch jene von ′ aDoNaJ »Herr« (Murmelvokal – o – a), griechisch kyrios (artikellos wie ein Eigenname), später auch durch »der Name« oder »der Ewige«. Im Mittelalter wurde JHWH mit den Vokalzeichen von `adonaj (»Herr«) punktiert, was von Christen missverstanden wurde und den Namen Jehovah verursacht hat.

In Ex 3,14 beantwortet Gott die Frage des Mose nach dem Namen mit ′ähjäh ′ ašär ,ähjäh, wörtlich übersetzt, etwa: »Ich werde sein, der ich sein werde«. Man hat den Nahmen JHWH von diesem Verb hjh (werden, sein) her zu erklären versucht. Und weil es in Ex 3,14 danach heißt: »′ähjäh hat mich zu euch geschickt«, wurde auch ,ähjäh für sich als Gottesname verstanden. In der Kabbalah bezeichnete man damit die erste Sefirah, die erste Wirkungsweise bzw. Seinsstufe, die aus der verborgenen Gottheit emaniert, und aus der wieder alle weiteren neun Sefirot und alles darunter emanieren, während JHWH für die zentrale sechste Sefirah verwendet wurde, ′ el für die vierte Sefirah (absolute Güte) und ′ älohîm für die fünfte h(absolute Strenge), ′ ädonaj (Herr) für die zehnte.

1.7 Die Erschaffung des Menschen, die Gottebenbildlichkeit und die Natur des Menschengeschlechts

Der priesterliche Schöpfungsbericht setzt die Erschaffung des Menschen auf den letzten Tag der Schöpfungswoche an, den Freitag. Gen 1,26 spricht dem Menschen eine stellvertretende Herrschaftsfunktion über die Schöpfung zu, daher fungiert als Abbild bzw. Repräsentation des Herrschers. Und zwar Mann und Frau zusammen, als »männlich und weiblich«, ohne erkennbare Abstufung (Gen 1,26 f) und als Abschluss der mit »sehr gut« bewerteten Schöpfung (Gen 1,31).18 Diese schöpfungsmäßige Gleichheit begründete aber keine sozialrechtliche Gleichstellung, denn in der kultischen Tradition wurde die Position der Frau gegenüber jener des Mannes merklich herabgestuft. In der älteren und noch recht mythisch gestalteten Schöpfungserzählung (Gen 2,4b–25) erscheint Eva von vornherein als ein dem Adam beigeordnetes Geschöpf. Rolle und Status der Frau konnten im Judentum daher schöpfungstheologisch nicht einheitlich begründet werden.

Der Sündenfall im Paradies führt zum Verlust der Ebenbildlichkeit, die im Gehorsam gegenüber Gottes Willen begründet ist, und darum wird vorausgesetzt, dass die Torah-Offenbarung am Sinai die Ebenbildlichkeit für Israel(iten) potentiell wiederbringt (s. Reader, Nr. 3).

Der Begriff Ebenbild Gottes setzt aber nicht nur die Gottähnlichkeit des Menschen, sondern auch die Menschenähnlichkeit Gottes voraus, und das verursachte heftige Auseinandersetzungen. Ihre Verfechter wussten sich v. a. durch die prophetischen Visionsberichte in Jes 6 und in Ez 1–3 bestätigt, in denen Gott bzw. die Erscheinung seiner Gegenwart (kabôd, später: šekînah) im Heiligtum als überdimensionale Königsgestalt thront. Doch gab es schon früh Tendenzen, Gottes Übermenschlichkeit und Überweltlichkeit deutlicher hervorzuheben, und biblische Passagen, in denen Gott körperliche und psychische Eigenschaften und Verhaltensweisen (Anthropomorphismen und Anthropopathismen) zugeschrieben werden, als bildliche Rede zu verstehen. Für die Volksfrömmigkeit verbürgte eine solche Redeweise zusammen mit der Vorstellung eines persönlichen Gottes die Gottesnähe. Wann immer aber unter Juden philosophische Bildung zum Zug kam, wurde der Widerspruch zur Vorstellung einer transzendenten Gottheit bewusst und entsprechend thematisiert. Im 13./14.Jh. n.Chr. entbrannten darüber so heftige Kontroversen, dass es fast zu einem Schisma kam. Der Kabbalah des Mittelalters gelang es, diesen Konflikt aufzulösen, indem sie an der absoluten Transzendenz der Gottheit selbst festhielt und die anstößigen biblischen Aussagen auf die aus der transzendenten Gottheit emanierenden zehn Sefirot (Wirkungskräfte der Gottheit) bezog. Damit konnte der Wortsinn der betroffenen Bibeltexte unbeschadet der anderen (drei) Schriftsinne beibehalten werden.

1.8 Paradies und Sündenfall

Der »sehr gute« Urzustand, versinnbildlicht durch den Garten von Eden, wird durch die Übertretung des göttlichen Gebots beendet.19 In der Folge muss sich der Mensch durch Arbeit ernähren, mit unsicherem Erfolg, weil der Acker verflucht ist, und wegen der eingetretenen Sterblichkeit muss er sich – mit besonderen Risiken für die Frau – fortpflanzen. Das aber wird nicht nur auf das erste Menschenpaar zurückgeführt, denn da war noch die Schlange, im späteren Verständnis der Satan, eine Macht, die den Menschen versucht und verleitet.20 Die neuen Zwänge des Daseins, das Wissen um Gut und Böse, somit die Notwendigkeit moralischer Entscheidungen und die Unentrinnbarkeit der Verantwortung bestimmen die menschliche Existenz nach dem missglückten Versuch, »wie Gott« zu werden. Kennzeichnend für diesen neuen Normalzustand ist der Brudermord Kains an Abel und die Rückführung zivilisatorischer »Errungenschaften« auf die Kainiter. Der stufenweise Niedergang der Menschheit wird überdies auch mit abnehmenden Lebensalterdaten markiert.

In alter Zeit hat man von zwei Geistern gesprochen, die im Menschen um den Menschen ringen und zwischen denen man sich entscheiden muss, auch wenn sehr viel einfach vorgegeben bzw. determiniert ist, vor allem auch durch den Einfluss der Gestirnsmächte.21 In der talmudischen Literatur begegnet dafür die Rede von zwei Veranlagungen, einem guten und einem schlechten Trieb (jeçär ţôb und jeçär ra`), wobei der »schlechte Trieb«, wenn er im Torahgehorsam unter Kontrolle gehalten wird, auch positiv zur Wirkung gebracht werden kann, nämlich im Sinne berechtigter Selbsterhaltung und gebotener Fortpflanzung. Mittel und Wegweisung bei solchen Entscheidungen, die Grundlage des jüdischen Ethos, ist natürlich die Torah.22

Die Paradieserzählung mit dem Sündenfall (Gen 2–3) und der Totschlag des Kain an seinem Bruder Abel (Gen 4,1–16) markieren die Zäsur zwischen dem »sehr guten« Urzustand und den späteren Verhältnissen.23 Die ersten Errungenschaften der Zivilisation und die Gründung von Städten, im Alten Orient ein festes Thema, wurden in der Bibel im Rahmen des Kainiterstammbaums aufgeführt (4,17–24) und skeptisch beurteilt; zusammen mit fragwürdigen Künsten wie Magie, Kosmetik und Waffentechnik.24 Diese zunehmende Verderbnis wurde freilich auch durch übermenschliche Mächte mitverursacht (Gen 6,1–4; vgl. Hen 6–11; Buch der Giganten).25 Schließlich endet die schematisch konstruierte Generationenfolge von Adam bis Noah (Gen 5) beinahe in der Sintflut (Gen 6–9), ebenfalls ein altes, weit verbreitetes Motiv.26 Die Bewertung der Urgeschichte ist also vernichtend: einzig Noah überlebt mit seiner Familie die Katastrophe. Alles Weitere steht schöpfungstheologisch gesehen nicht mehr unter dem Prädikat »sehr gut«, doch für Israel bietet die Torah einen Heilsweg und begründet die Hoffnung auf eine Restitution des Urzustandes am Ende der Geschichte bzw. die Erwartung einer Neuschöpfung.

1.9 Das Wissen der Vorzeit

Abgesehen vom Kainiterstammbaum (Gen 4,17 ff) behaupten Überlieferungen, die in Gen 6,1–4 knapp angedeutet und in anderen Kontexten (wie Hen 1–36) breiter ausgeführt werden, dass die Entwicklung der Menschheit maßgeblich durch ein Wissen bestimmt wird, das ambivalent bis negativ zu werten ist. Vor allem, weil ein Teil dieses Wissens durch gefallene Engel vermittelt wurde. Dem gegenüber stehen positive Wissenstraditionen, die von der Urzeit her über die Sintflut hinweg weitergegeben werden konnten. Auch dies beruht auf verbreiteten altorientalischen Vorstellungen.27 Das positive Wissen wurde teils von Adam her über Set weitergegeben, teils auf den Urvater Henoch (Gen 5,21–24; Jub 4,16–26; Henoch-Bücher), der sie von seinem Aufenthalt in himmlischen Regionen mitgebracht haben soll. Dahinter steht der Anspruch einer Bildungselite, von Schreibern, die vorrangig an Heiligtümern wirkten, also an Orten, deren mythische Qualität sowieso eine enge Beziehung zwischen himmlischem und irdischem Kultpersonal voraussetzte. Die Henochfigur wurde für die Folgezeit zum Inbegriff einer Bildungstradition, für die überirdischer Ursprung und eine Kontinuität von der Urzeit her behauptet wird.28 Henochs Lebensjahre, 365, entsprechen der Zahl der Tage des natürlichen Jahres fast genau, in den Kalendersystemen war aber diese schlecht teilbare Zahl nicht praktikabel anwendbar. Man wusste um diesen richtigen Sachverhalt und damit auch um die Unzulänglichkeit der gängigen Systeme. Der Gedanke, dass die Urverderbnis der Menschen eine gewisse Unordnung in der Schöpfungsordnung bewirkt hat, lag also nahe. Umso wichtiger erschien die Kontinuität einer Tradition dank einer genealogischen Reihe von Auserwählten, die das positive Urwissen kennen, das mit der »vollkommenen Torah« in eins fällt und auf »himmlischen Tafeln« von ewig her und auf immer festgeschrieben ist. Es ging dabei nicht nur um Spekulationen, sondern um die Begründung und Verteidigung von bestehenden Ordnungen und Ansprüchen. Das hat einen gewissen Zwang zur Systematisierung mit sich gebracht und in der Folge zu mehr oder weniger geschlossenen Weltbildern geführt. In der Spätantike bot die Stoa dafür Parallelerscheinungen, die man kaum als fremd empfinden konnte.

Mit der Gleichsetzung von Weisheit und Torah wird postuliert, dass alles Wissen aus der Torah als der Schöpfungsordnung stammt. Das hatte zwei gegenläufige Tendenzen zur Folge, die eine ist exklusiv, möchte sich mit der eigenen Überlieferung begnügen und lehnt alle »fremde« Weisheit ab, die andere ist inklusiv29