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1. Auflage 2017

 

 

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Redaktion: Werner Wahls
Korrektorat: Sonja Rose

Umschlaggestaltung: Maria Wittek, München
Umschlagabbildung: picture alliance / Zach - Kiesli

Satz: mediaService, Siegen

 

 

ISBN Print: 978-3-95972-012-0

ISBN E-Book (PDF): 978-3-86248-997-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi): 978-3-86248-998-5

 

 

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I dedicate this book
to my children
Claudia & Alexander 

Vienna, March 2017

VORWORT VON MICHAEL MAIER

Bei Geheimdiensten denken viele zuerst an James Bond: Ian Flemings 007 hat mehrere Generationen auf unterhaltsame Weise davon überzeugt, dass niemand so unermüdlich für die Rettung der Welt kämpft wie die Spione ihrer Majestät. Mithilfe der meist etwas dämlich dargestellten Amerikaner verhindern sie, dass die Russen oder andere Bösewichte die Welt zerstören. Ian Fleming wusste, worüber er schrieb: Er war selbst britischer Geheimdienstoffizier und reiste 1941 mitten im Krieg mit seinem Chef John Godfrey zu US-Präsident Franklin Roosevelt nach Washington. Er überbrachte dem US-Präsidenten den dringenden Rat von Winston Churchill, einen modernen Geheimdienst aufzubauen. Der erste Chef der CIA, Allen Dulles, sagte später in seinen Erinnerungen, dass Fleming ein guter Freund geworden sei und immer wieder mit Vergnügen echte CIA-Leute sowie Geschichten verdeckt in seine Bond-Stories eingebaut habe. Der Geheimdienst-Historiker Christopher Moran schreibt, Dulles sei ein überzeugter Bond-Fan gewesen, weil die Figur die Möglichkeit eröffnete, »schamlos die Geheimdienst-Branche abzufeiern«.

Es gibt auch andere, schillernde Figuren, wie den zwischenzeitlichen Journalisten Udo Ulfkotte: Dieser behauptete, dass ihm bei seiner Arbeit für die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Geheimdienste die Artikel in die Feder diktiert hätten. »Ulfkotte« war eine nicht zu fassende Figur. Im Januar 2017, kurz vor der Inauguration von Donald Trump, meldete sein Verleger seinen Tod. Was von »Ulfkotte« bleibt: Tausende seiner Leser sind überzeugt, dass hinter jedem Artikel in einem westlichen Medium ein CIA-Mann stehe. Die Welt sei eine große, konspirative Veranstaltung. Ich habe mich immer gewundert, dass die FAZ gegen all die schweren Anschuldigungen nicht umfassend geklagt hat. Jenen, die die Welt gerne als von dunklen Mächten gesteuert wissen wollen, lieferte Ulfkotte eine nachhaltige Blaupause.

Die Geheimdienste verbreiten von sich selbst ein ganz anderes Bild: Nachrichtendienstliche Aufklärung sei nichts weiter als das unbestechliche Sammeln von objektiven Informationen, um den jeweiligen Regierungen Grundlagen für die richtigen politischen Entscheidungen zu liefern. Alles, was darüber hinausgehe, sei nicht Aufgabe der Dienste. Die Dienste stellen sich gerne als eine Art wissenschaftliche Archivare dar, deren Tätigkeit sich auf die nüchterne und neutrale »Aufklärung« konzentriert. Vor diesem Hintergrund soll es auch völlig unproblematisch erscheinen, dass sich die Geheimdienste aller modernen Technologien bedienen. Wie wir seit Edward Snowdens NSA-Enthüllungen offiziell wissen: Agenten lesen unsere E-Mails, durchwühlen unsere Facebook-Profile, hören unsere Telefonate ab und schauen uns bei jedem Chat über die Schulter. Sie tun das angeblich im Dienst der guten Sache. Mithilfe der Technologie ist Spionage flächendeckend, zeitlich unbegrenzt und mit allen Daten-Volumina möglich. Jeder angeblich verhinderte Terror-Anschlag scheint die Überwachung zu legitimieren. Die Geheimdienste nutzen für ihre Tätigkeiten alle Möglichkeiten der Infiltration über die Technologie: Die Enthüllungen von Wikileaks im März 2017 über die umfassende Manipulation von Smartphones, TV-Geräten und Computer durch die CIA haben uns vor Augen geführt, dass vor allem die Wirtschaft in Deutschland zum bevorzugten Objekt von Angriffen aller Art geworden ist. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum Politiker und Bürger in Deutschland so desinteressiert und lethargisch reagieren. Sie alle denken sich: »Ich habe nichts zu verbergen!« Sie übersehen dabei, dass jedes deutsche Unternehmen morgen schon wegen einer Spionage-Aktion in Schwierigkeiten geraten könnte – und unter Umständen viele Arbeitsplätze gefährdet sind.

Von 007 über Ulfkotte bis hin zur NSA reflektieren alle Bilder, die wir uns von Geheimdiensten machen, einen Teil der Wirklichkeit: Die Dienste sind politisch tätig, manchmal sogar in guter Absicht, sie sind Abschreckung bei Korruption, sie verhindern Konflikte, sie führen Operationen durch, sie schaffen Fakten und Fake News, sie erpressen, sie zerstören die Privatsphäre in der Informationsgesellschaft. Die Geheimdienste sind der Kontrolle durch die Öffentlichkeit entzogen. Sie laufen Gefahr, zum wichtigen Teil des berüchtigten »tiefen Staats« zu werden, also jener Parallel-Strukturen, in denen andere als die gewählten Regierungen die Entscheidungen treffen. Der Streit des neuen US-Präsidenten Donald Trump mit der »intelligence community« zeigt, wie explosiv die Lage ist. Die mediale Beschäftigung mit den Geheimdiensten changiert zwischen Erheiterung über ihre vermeintliche Tölpelhaftigkeit, Paranoia wegen ihrer angeblichen Macht und Ignoranz, weil man über sie im Grunde nichts Verlässliches schreiben kann.

Es gibt wenige Menschen, die in der Lage sind, über die Arbeit der Dienste offen und kritisch zu reden. Vielleicht muss man dazu aus einem neutralen Staat kommen: Gert R. Polli hat in Österreich das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung aufgebaut. Er war in Wien im Einsatz, in jener Stadt, in der der »Dritte Mann« von Graham Greene in der Verfilmung von Carol Reed aus dem Jahr 1949 der Agentenzunft im Kalten Krieg ein Denkmal gesetzt hat. Polli hat mit allen Geheimdiensten der Welt zusammengearbeitet. Er kennt die Zusammenhänge zwischen Wirtschaft, Politik und den Diensten. Er schreibt darüber offen und klar, ohne »das System« zu desavouieren. Er ist Insider und Kritiker von Fehlentwicklungen. In diesem Buch befasst er sich mit der veränderten geopolitischen Lage in der Welt. Diese hat dazu geführt, dass Deutschland »zwischen die Fronten« geraten ist. Im Zeitalter von virtuellen Realitäten und Terror ist es meist nicht klar, wo die Frontlinien verlaufen. Polli versteht es in diesem Buch meisterhaft, die Realität hinter der Realität zu beleuchten ohne zu spekulieren. Er beschreibt die verschwimmenden Grenzen zwischen Aufklärung und Desinformation, zwischen Abwehr und verdecktem Angriff, zwischen politischem Handeln und Agitation. Er zieht keine Schlüsse, befähigt den Leser aber zu einem fundierten, eigenen Urteil.

Ich habe Polli einmal gefragt, wem er denn selbst in diesem konfusen Umfeld traue. Seine Antwort kam ohne Zögern: »Niemandem.« Diese Lehre sollte man auch aus der Lektüre dieses Buches ziehen. Es versteht sich als Beitrag zur Stärkung der Transparenz in der demokratisch-freiheitlichen Gesellschaft.

Dr. Michael Maier
Herausgeber Deutsche Wirtschafts Nachrichten
Berlin im März 2017

VORWORT

Die Europäische Union steht vor der größten Herausforderung seit ihrem Bestehen: nämlich das unerwartete Tempo der sich abzeichnenden Desintegration zumindest zu verlangsamen. Ausgerechnet die viel beschworenen gemeinsamen Werte konnten mit der sogenannten Realpolitik nicht schritthalten. Die unterschiedlichen Sichtweisen der EU-Staaten in der Flüchtlingskrise waren nur der Auslöser für die sich abzeichnende moralische, wirtschaftliche und politische Desintegration. So verliert die EU als politische und wirtschaftliche Union zunehmend an Dynamik.

Dass die EU in dieser Abwärtsspirale in der Falle sitzt, auf die sie seit Jahren – für alle erkennbar – zusteuerte, ist zu einem Großteil auf eigenes und institutionelles Versagen zurückzuführen. Unbestritten aber ist die Tatsache, dass dieses Europa an der historischen – jedoch kritiklosen –transatlantischen Bindung um jeden Preis festhält. Europa hat dafür, wie es scheint, Eigeninteressen hintangestellt und zahlt den Preis dafür. Es fällt den europäischen Eliten schwer sich einzugestehen, dass die USA in fast allen wesentlichen Bereichen Nutznießer dieser Entwicklung sind. Das prominenteste Beispiel dieser Dominanz ist die faktische Gleichschaltung und Kontrolle europäischer Nachrichtendienste unter dem Mantel der gemeinsamen Terrorismusbekämpfung, die es nur auf dem Papier gegeben hat. Die unkritische Übernahme außenpolitischer US-Zielsetzungen hat die EU heute nahe an eine politische und wirtschaftliche Konfrontation mit Russland geführt.

Geopolitisch hat sich die EU in eine außen- und wirtschaftspolitische Sackgasse treiben lassen, indem die USA Russland zu einem klaren Feindbild erklärt haben und die EU somit vor sich hertreiben. Europa gerät zunehmend unter Druck, ist Russland doch zu einem Partner und essenziellen Energielieferant geworden und hat sich jüngst auch noch als ein nicht mehr wegzudenkender Anker im Nahen Osten etabliert. Eine der langfristigen geopolitischen Zielsetzungen der USA ist die Verhinderung einer Allianz zwischen Europa und Russland.1 Die Schwäche der EU wurde von den USA durch ein Bündel von Strategien und Maßnahmen – bewusst oder unbewusst – in Kauf genommen oder sogar herbeigeführt. Die derzeitige Flüchtlingskrise ist u.a. eine verzögerte Auswirkung jener Koalition unter der Führung der USA, die zur Destabilisierung einer gesamten Region führte. Die Auswirkungen auf Europa, seien sie politischer, wirtschaftlicher, oder sicherheitsmäßiger Natur, werden langsam sichtbar, und der nächste Konfliktherd nimmt bereits Konturen an, denn vor der Haustüre Europas zeichnet sich die nächste Flüchtlingswelle aus Afrika ab. Die destabilisierten Maghrebstaaten haben dieser Entwicklung nichts entgegenzusetzen und fallen auch noch als Ansprechpartner für Konfliktlösungsansätze aus. Doch die USA suchen skrupellos nach neuen Märkten und Einflussmöglichkeiten. Mit dem gekippten Freihandelsabkommen TTIP und der NATO-Ost-und Südosterweiterung soll ein erweitertes Europa ein noch stärkerer Absatzmarkt und eine Machtbasis sein.

Verschärft wird der globale Kampf um Ressourcen durch den internationalen Terrorismus, der den Krieg mitten ins Herz Europas trägt. Die Europäische Union ist in die schwerste Krise seit ihrem Bestehen geraten. Sie droht zu zerfallen. Mit dem Aufkommen neuer, EU-kritischer oder rechts- und linkspopulistischer Parteien sind auch in den demokratischen Strukturen in der EU Verschiebungen zu beobachten.

Für die Bürger ist kaum noch durchschaubar, wer hinter welchen Bewegungen steckt, die Geheimdienste sind die Speerspitze der globalen Veränderung geworden.

Gert R. Polli

Wien im März 2017


1 3. Februar 2015. Der Gründer und Direktor der weltweit führenden privaten US-Denkfabrik auf dem Gebiet Geopolitik STARTFOR (Abk. Strategic Forecasting) George Friedman über weltweite Geopolitik der USA und speziell in Europa. Zitat: »Das primäre Interesse der USA, wofür wir seit einem Jahrhundert die Kriege führen – Erster und Zweiter Weltkrieg und Kalter Krieg –, waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Denn vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann, und unser Interesse war es immer, sicherzustellen, dass dies nicht eintritt.« Ausschnitte. Quelle: The Chicago Council on Global Affairs.

ÜBER DIESES BUCH

Es war erst elf Tage her, dass ich im September 2001 vom militärischen Auslandsnachrichtendienst ins österreichische Innenministerium gewechselt bin und dort meinen Dienst angetreten hatte. Sichtlich nervös und hektisch wurde ich vom diensthabenden Beamten in den Lageraum gebeten. Eine kleine Personengruppe starrte ungläubig auf den übergroßen Monitor im Raum. Die Liveübertragung von CNN zeigte gespenstische und unwirkliche Bilder. Gerade nahm eine Passagiermaschine direkten Kurs auf einen der beiden Tower des World Trade Centers in New York. Ein Unfall, wie ich zuerst vermutete, bis mir klar wurde, dass dies nicht der erste Vorfall dieser Art war. Genau dieselbe Szene hatte sich einige Minuten zuvor mit einer anderen Maschine zugetragen. Zwei Passagiermaschinen, die jeweils in einen der beiden Türme einschlagen. Ich ahnte noch nicht, wie sehr das, was ich hier sah, mein berufliches und privates Leben verändern würde. Ich war gerade dabei, jene Organisation in Österreich zu reorganisieren und neu aufzustellen, die unter anderem für die Terrorismusbekämpfung federführend werden sollte: Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung BVT. Als ich drei Monate später mit der Leitung dieser Behörde betraut wurde, war nichts mehr so wie davor, und als ich im Jahre 2008 aus dieser Funktion ausschied, hatte sich die Welt grundlegend verändert – und ich mich mit ihr.

Das Erste, was ich wahrnahm, war ein unangenehmes Gefühl, das sich rational nicht festmachen ließ. Bis dahin hatte ich fast meine ganze berufliche Laufbahn als Analytiker für sicherheitspolitische Entwicklungen im Auslandsnachrichtendienst (HNaA) verbracht. Der Umgang mit ausländischen Geheim- und Nachrichtendiensten war für mich Routine. Ich fühlte mich sogar recht wohl in dieser Gesellschaft, und uns wurde suggeriert, es gäbe so etwas wie eine Intelligence Community, eine elitäre und freundschaftlich verbundene, grenzüberschreitende Gemeinschaft. Heute denke ich anders darüber. Die grenzüberschreitende, freundschaftlich verbundene Gemeinschaft der Geheim- und Nachrichtendienste ist eher so etwas wie ein »Deep State«, eine Art Weiterentwicklung einer Struktur und Ideologie, die ähnlich dem Gladio-Muster2 organisiert ist und weite Teile, auch der Zivilgesellschaft und der Eliten mit einschließt. Und mir ist noch etwas aufgefallen: Heute, im Zeitalter der Social Media, stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass die Mainstream-Medien so einheitlich berichten? Und wie ist es möglich, dass dieses Europa nicht von der Stelle kommt und dass sich insbesondere Deutschland in einer Art und Weise an die USA gebunden hat, dass selbst das Hinterfragen solcher Positionen als lästig und aufmüpfig empfunden wird. Selbst die staatstragenden politischen Parteien selektieren ihren eigenen Nachwuchs und Kader entlang einer transatlantisch ausgerichteten Harmonieskala – und das nicht nur in Deutschland. Kritische sicherheitspolitische Denker sind rar geworden. Wir haben gar nicht bemerkt, dass die transatlantische Umarmung so stark ist, dass wir nicht mehr in der Lage sind, uns zu bewegen.

Die erste Lektion, die ich nach 09/11 lernen musste, war, dass diese sogenannte Intelligence Community eine sehr einseitige Sache war beziehungsweise schlicht und einfach nicht existierte. Wohl aber so etwas wie ein »Deep State«, der erstmals nach 09/11 für mich sichtbar wurde. Wesentlich später erkannte ich, dass Nachrichtendienste als angeblich unabhängige Organe für die jeweilige Regierung ebenso gleichgeschaltet agieren wie Mainstream-Medien, Konzerne und vor allem Banken. Das Argument, dass die Terrorismusbekämpfung eine solche gemeinsame Ausrichtung eben erfordert, hat nicht nur die politische Landschaft in Europa stark beeinflusst, sondern auch die Legislative und vor allem die Wirtschaft. Als Akteure dieser Gleichschaltung agieren – nicht nur – amerikanische Dienste in Europa, allen voran die NSA und die CIA.

Nachrichtendienste folgen subjektiv wahrgenommenen politischen Interessenlagen und die amerikanischen sowie die britischen Dienste in Europa haben vom bis dorthin gemütlichen Miteinander nach 09/11 auf Kriegsmodus umgestellt. Eine Allianz hat damit Konturen gezeigt und jenseits demokratischer Grundprinzipien ihren enormen Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft unter Beweis gestellt. Die Dienste verstanden sich von nun an als Speerspitze für den »War on Terrorism«, den es so nie gegeben hat. Wie stark diese Umklammerung vor allem der europäischen Wirtschaft und Politik war und ist, wurde erst Jahre später durch die Enthüllungen Snowdens deutlich.

09/11 machte also ein gut vorbereitetes und organisiertes Netzwerk sichtbar, das in der Lage war, die politischen Eliten Europas unkritisch transatlantisch und neoliberal auszurichten. Noch viel bemerkenswerter aber war, wie gut die amerikanischen und britischen Nachrichtendienste ihre Hausaufgaben gemacht hatten: Es gab kaum einen Nachrichtendienst oder eine Polizeibehörde in Europa, die sich nicht bedingungslos dem »War on Terrorism« untergeordnet hätte. Es war völlig undenkbar und politischer Selbstmord, die bedingungslose Kooperation mit transatlantisch ausgerichteten Diensten kritisch zu hinterfragen. Es war die Zeit der Vorbereitung für die Irakinvasion, und US-Außenminister Collin Powell stand kurz davor, seine berühmt gewordene Rede vor der UNO-Generalversammlung zu halten. Eine Rede, von der er Jahre später sagte, sie wäre der größte Fehler seiner Karriere gewesen. Was folgte, war der Irakkrieg II und der Beginn einer Entwicklung, die den Irak in Bürgerkrieg und Chaos stürzte, den Bürgerkrieg in Syrien auslöste, den Aufstieg des IS förderte und den Terrorismus nach Europa brachte. 13 Jahre später wird der Präsidentschaftskandidat und spätere 45. Präsident der Vereinigten Staaten Donald Trump der neokonservativen Außen- und Wirtschaftspolitik seines Landes die Mitschuld für das Aufkommen des radikalen Islams und der ISIS geben. Der amerikanischen Nahostpolitik stellt er ein vernichtendes Zeugnis aus, indem er nüchtern feststellt, »unsere Handlungen im Irak, in Libyen und in Syrien haben dazu beigetragen, ISIS von der Leine zu lassen!«3. Heute kämpfen die europäischen Dienste und Sicherheitsbehörden damit, die Auswirkungen dieser unkritischen transatlantischen Ausrichtung abzufedern. Terrorismus und unkontrollierte Einwanderung sind heute die Auslöser für die Polarisierung, die wir in Europa überall wahrnehmen.

Es war aber auch die Zeit, in der die NSA und das britische GCHQ begannen, Europa flächendeckend zu überwachen: Nicht nur Regierungen, sondern auch EU-Bürger, die deutsche Politik und Wirtschaft und ganz gezielt die Industrie. Zu dieser Zeit stieg mein Argwohn und ich begann zu vermuten, dass all das, was passierte, nicht ohne Grund geschah. Ich konnte die dichte Abfolge von Gesprächsterminen mit britischen und amerikanischen Vertretern von Sicherheitsbehörden kaum mehr ertragen, die immer wieder vorstellig wurden und angebliche neue Beweise für die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak präsentierten, um weitere Maßnahmen zu rechtfertigen oder zu fordern. Ich begann langsam zu verstehen, dass europäische Nachrichtendienste als Transmissionsriemen benutzt wurden, um die jeweiligen Regierungen mit den »richtigen« Informationen zu versorgen; genau das war die Rolle, die man kleineren Diensten zugedacht hatte. Deutschland spielte hier in einer anderen Liga.

Das Jahr 2017 wird für Europa zum sicherheitspolitischen Schicksalsjahr. Nicht nur deshalb, weil sich mit Donald Trump das transatlantische Verhältnis nach und nach verändern wird, sondern auch deshalb, weil die EU Zentrifugalkräften ausgesetzt ist, die ihren Bestand in der jetzigen Form herausfordern. Wir nähern uns einer Zeit, in der sozialer Friede in Europa nicht mehr als selbstverständlich angesehen werden kann.

Die Bewältigung der innen- und außenpolitischen Herausforderungen wird über den sozialen Frieden in Europa ebenso entscheiden wie über die Zukunft der EU. Dass wir heute an einem Scheideweg stehen, war seit Jahren vorhersehbar und wurde von der Politik viel zu spät wahrgenommen. Nirgends in Europa wird das deutlicher als in Deutschland. Deutschland ist ein Indikator für den Weiterbestand der EU in dieser Form, aber auch ein Indikator für die Bewältigung aufkommender sozialer, wirtschaftlicher und politischer Eruptionen. Eines habe ich gelernt: Nichts passiert abrupt, alles ist eine Folge langfristiger und schleichender Entwicklungen. Dass sich dahinter in der Regel handfeste politische Interessengemengelagen verbergen, liegt auf der Hand.

Dieses Buch geht der Frage nach, wer die Profiteure dieser Entwicklung sind und wie dieser Prozess am Laufen gehalten wird. Die Rolle der Nachrichtendienste im laufenden, transatlantischen Krieg der Interessen wird kritisch beleuchtet und hinterfragt. Ohne die Enthüllungen Edward Snowdens würden wir wohl noch immer der Auffassung sein, dass das transatlantische Korsett ein bequemes und sicheres Ruhekissen für Deutschland und Europa ist. Die Erkenntnis, dass dies nicht unbedingt zutrifft, ist für viele Bürger und Politiker ein Schock.

Dass der ehemalige Leiter eines Nachrichtendienstes ein Buch schreibt, ist nicht unbedingt zu erwarten. Eigentlich liegt es außerhalb des Selbstverständnisses dieser Personengruppe, die sich als Teil eines oft falsch verstandenen Systems versteht. Die Motivation, es doch zu tun, hängt auch damit zusammen, dass es mir darum geht, größere sicherheitspolitische Zusammenhänge für jedermann verständlich darzustellen und Tendenzen und Schlussfolgerungen offenzulegen, die sich ansonsten nicht so ohne Weiteres erschließen. Ich möchte mit diesem Buch aber auch die Aufbruchsstimmung in Europa unterstützen. Eine Aufbruchsstimmung hin zu einem Mehr an europäischer Identität in Schlüsselbereichen der Nationalen Sicherheit und eine Rückbesinnung auf die Werte, die dieses Europa verkörpert. Das muss kein Widerspruch sein, vielmehr ist es ein »Gordischer Knoten«, der zerschlagen werden muss, soll dieses Europa in der uns bekannten Form weiter Bestand haben.

Gert R. Polli


2 Gladio war der Deckname für Widerstandsgruppen, organisiert durch die NATO in ganz Westeuropa, mit dem Ziel militärischen und paramilitärischen Widerstand zu leisten, nachdem der Warschauer Pakt die Staaten militärisch überrannt hat. Gladio war auch als Stay-Behind-Organisation bekannt.

3 Original Zitat: »Our actions in Iraq, Libya and Syria have helped unleash ISIS.« Donald J. Trump: Foreign Policy Speech, Presseveröffentlichungen von der offiziellen Webseite, Transcript, 27.04.2016, https://www.nytimes.com/2016/04/28/us/politics/transcript-trump-foreign-policy.html?_r=0.

1.EINLEITUNG

Die EU befindet sich Anfang 2017 in einer existenzgefährdenden Krise. Die Migrationsproblematik hat die Politik unerwartet und unvorbereitet getroffen, obwohl alle europäischen Nachrichtendienste rechtzeitig auf diese Herausforderung aufmerksam gemacht hatten. Europa hat es versäumt, sich darauf vorzubereiten und rechtzeitig darauf zu reagieren. Und nicht nur darauf. Seit Jahren schon registrieren die Sicherheitsbehörden die Zunahme salafistischer Tendenzen in Deutschland. Dieser salafistische Nährboden in Europa ist vielerorts die Basis und bietet auch die Logistik für die unkontrollierte Migration mit fundamentalistisch islamischem Hintergrund. Eine besorgniserregende Tendenz, die bereits vor 2015 zu beobachten war. Das ist jedoch nur der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die im ursächlichen Zusammenhang mit den Folgewirkungen von 09/11 steht. Unter der Führung der USA erfolgte 2003 der Einmarsch in den Irak und damit die Destabilisierung einer gesamten Region mit den bekannten Konsequenzen für Europa. Natürlich ist die Bewältigung der Flüchtlingsproblematik nicht die einzige Herausforderung der EU. Sie ist aber ein Indikator für den Werteverfall und den Aufstieg von Partikularinteressen im Euroraum. Eurokrise, Brexit, aufkommende rechts- und linkspopulistische Parteien, das angespannte Verhältnis zu Russland und die Instabilitäten vor der europäischen Haustür wären fundamentale Herausforderungen sogar für eine starke EU. Aber die EU ist nicht stark. Sie befindet sie sich in einer fundamentalen Führungskrise, und dies in einem Moment, in dem Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit gefordert wären.

Wir werden Zeuge einer Entwicklung hin zur Re-Nationalisierung europäischer Politik. Ob es sich um die Wiedereinführung von Grenzkontrollen, die Erhöhung der nationalen Verteidigungsausgaben, die Aufrüstung der Nachrichtendienste oder um die Ausweitung der Befugnisse von Polizei, Streitkräften und Geheimdiensten handelt, alle diese Maßnahmen verstärken den Eindruck, dass sich die europäischen Regierungen auf Szenarien vorbereiten, die auf das Ende des sozialen Friedens hindeuten. Auch ein letztes Aufbäumen, wie die Diskussion um eine Europäische Armee, die Aufwertung von Europol oder die Forderung nach dem Schutz der EU-Außengrenzen täuschen nicht darüber hinweg, dass die EU nach und nach erodiert.

Natürlich setzte diese Entwicklung nicht von heute auf morgen ein, sondern ist der vorläufige Abschluss einer bereits vor der Jahrtausendwende einsetzenden Entwicklung, die sehr eng mit der Rolle der Nachrichtendienste verknüpft ist.

Es ist eine Art Hegemonie, die das Selbstverständnis der amerikanischen Nachrichtendienste gegenüber Europa und der EU am besten beschreibt. Der Siegeszug des Internets und das amerikanische Bestreben jegliche Form der Kommunikation und die digitale Welt weltweit kontrollieren zu wollen, hatte bereits Anfang der 80er-Jahre eingesetzt. Heute mehr denn je bleibt es unwidersprochen, dass die U.S.A. und ihre Nachrichtendienste das Internet und die damit zusammenhängende IT-Landschaft geradezu in ihren Besitz genommen haben. Umso erstaunlicher sind die russischen Aufholversuche in der Welt der digitalen Spionage. So wurde es den russischen Diensten zugeschrieben, den Server des Democratic National Committee (DNC) gehackt zu haben und mit den generierten Informationen Einfluss auf den Wahlausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2016 genommen zu haben. Belastbare Spuren oder Beweise konnten jedoch nicht erbracht werden.

Fakt ist, dass wir uns seit Jahren in einer diffusen Welt des Cyberwars befinden. Wie intensiv diese digitale Auseinandersetzung der Geheimdienste bereits eskaliert ist und wie sehr sich die amerikanischen Dienste in der digitalen Welt der europäischen Wirtschaft und Politik verankert haben, das hat uns erst der amerikanische Whistleblower Edward Snowden so richtig bewusst gemacht. Vor allem die Verflechtung der NSA mit den europäischen Diensten, allen voran dem BND, wirft im Nachhinein die Frage auf, wie unabhängig europäische und deutsche Politik bisher sein konnten. Die Verflechtung und Kontrolle ist so eng, dass der deutschen Regierung bis zu Kohl und Schröder zurück der Vorwurf nicht erspart werden kann, wissentlich deutsche und europäische Interessen den U.S.A. geopfert zu haben. Dem BND kommt in dieser Kooperation eine äußerst fragwürdige Rolle zu.

Erst 09/11 und seine Folgewirkungen für Europa haben das Projekt der EU erst richtig ins Wanken gebracht. Daraus aber eine geopolitische Strategie seitens der U.S.A. abzuleiten, das wäre zu weit gegriffen. Es ist eine unglückliche Konstellation, die Europa in diese Position gebracht hat. Es ist eine Mischung aus amerikanischer Dominanz, basierend auf wirtschaftlichen und nachrichtendienstlichen Ansätzen und der Unfähigkeit europäischer Staaten, diesen Ansatz als das zu erkennen, was er ist: Eine Mischung aus Neoliberalismus und Kolonialismus. Deutschland hat in dieser Konstellation eine zentrale Rolle. Bis heute gilt Deutschland als Angelpunkt amerikanischer Aufklärung und Wirtschaftsspionage. Alle diese Erkenntnisse sind grundsätzlich nicht neu. Sie erscheinen jedoch heute in einem anderen Licht. Einer der Gründe dafür sind die Veröffentlichungen der NSA und CIA Spionageaktivitäten gegen Deutschland, die auch von der Politik ab 2013 nicht mehr negiert werden konnten. Trotz des Versuches, mit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, mit der Verabschiedung eines neuen BND-Gesetzes und mit der Veröffentlichung eines Weißbuches gegenzusteuern, ist die institutionelle und nachrichtendienstliche Klammer zwischen der deutschen und der amerikanischen Politik nicht so ohne weiteres zu lockern. Es ist aber ein Anfang, dass die deutsche Regierung das Verhältnis zu den U.S.A. nicht mehr ausschließlich durch eine rosarote Brille sieht. Auch das haben wir Edward Snowden zu verdanken, von dem beide Chefs der deutschen Nachrichtendienste, BND und BfV meinen, es handle sich um einen russischen Spion.

Das Buch beschäftigt sich in den ersten Kapiteln mit dem Thema Wirtschaftsspionage und dem dadurch entstandenen Schaden für Europa, vor allem für Deutschland. Es ist der Anteil der Nachrichtendienste, der dieses Thema so brisant macht. Längst geht es den amerikanischen Diensten nicht mehr darum, durch gezielte Spionage einen Technologievorsprung eigener Unternehmen zu fördern. Wirtschaftsspionage und die Rolle der amerikanischen Dienste haben seit den 80er-Jahren einen fundamentalen Strategiewandel vollzogen. Abgestützt auf eine fast weltweite technische Spionagestruktur können amerikanische Nachrichtendienste aus dem Vollen schöpfen, und das völlig legal. Die vertraglich vereinbarten technischen Kooperationen, wie das Netz des Echelon-Nachfolgeprojektes in Europa – und darüber hinaus – bilden das Grundgerüst um vor allem die europäischen Verbündeten abzuhören, abzuschöpfen und finanziell zur Ader zu lassen. Volkswagen, die Deutsche Bank und Siemens sind nur einige Beispiele, wie amerikanische Datenhoheit brutal gegen europäische Unternehmen eingesetzt wird. In diesem Teil des Buches wird aufgezeigt wie die eng verflochtenen deutsch-amerikanischen Mechanismen und Strukturen nachrichtendienstlicher Zusammenarbeit eine von den USA unabhängige deutsche Politik kaum mehr zulassen. Europa, vor allem aber Deutschland, hat diese Entwicklung verschlafen, um hier zeitgerecht gegenzusteuern. Die Kritik an Deutschland trifft vor allem jene deutschen Behörden, die eigentlich für die Spionageabwehr zuständig wären. Nach der Wahl von Donald Trump zum 45. amerikanischen Präsidenten ist die europäische Wirtschaft genauso geschockt wie die europäische und deutsche Politik. Diese Schockstarre gilt insbesondere für die deutschen Dienste, die über Jahre hindurch eine enge technische und operative Kooperation mit vermeintlich amerikanischen Partnern eingegangen sind. Diese Umklammerung ist nicht von heute auf morgen zu lockern und stellt eine der schwierigsten Herausforderungen künftiger deutsch-amerikanischer Beziehungen dar.

In den darauffolgenden Kapiteln werden die Instrumente beschrieben, mit denen Deutschland bis heute durch die Alliierten kontrolliert wird. Es ist paradoxerweise das Thema der Terrorismusbekämpfung und die salafistisch geprägte Radikalisierung, die in Deutschland dazu geführt hat, dass die seit der Nachkriegszeit durch die Alliierten eingeführte deutsche Sicherheitsarchitektur unter Druck geraten ist. Durch eine Vielzahl von Gegensteuerungsmaßnahmen, wie z.B. zentrale Datenbanken oder gemeinsame Lagezentren, oder das 2017 in Kraft getretene BND-Gesetz ebenso das Weißbuch, versucht die Bundesregierung die unzeitgemäße und starre deutsche Sicherheitsstruktur wieder flott zu machen. Angesichts der enormen externen Herausforderungen kommen diese Maßnahmen aber zu spät oder tragen schlichtweg das falsche Etikett. Betrachtet man die sogenannten Sicherheitspakte und die legistische Aufrüstung der Sicherheitsbehörden aus einer gewissen Distanz, so kann man sich des Verdachtes nicht erwehren, dass sich die Bundesregierung weniger auf terroristische Bedrohungslagen einstellt, als vielmehr zu erwartende soziale Unruhen.

Der dritte und letzte Teil des Buches beschäftigt sich mit dem sicherheitspolitischen Umfeld, also mit der Frage, was auf Europa und insbesondere Deutschland zukommt. Das Flüchtlingsaufkommen vor dem Hintergrund bereits in Europa und Deutschland existierender salafistischer Strukturen wird als eine der zentralen gesellschaftspolitischen Herausforderungen charakterisiert. Die sich solcherart abzeichnenden sicherheitspolitischen Gefährdungen werden noch zusätzlich durch deutliche Erodierungstendenzen der EU verstärkt. Schon heute hat die Brexit-Abstimmung in Großbritannien die geopolitische Landkarte Europas nachhaltig beeinflusst. Auch die NATO als Anker europäischer Sicherheit steht vor Veränderungen. Sollte sich die NATO, nach Vorstellungen des amerikanischen Präsidenten verstärkt der Terrorismusbekämpfung widmen, so hat das politisch wie militärisch fundamentale Änderungen der NATO-Struktur zur Folge. Schon heute werden europäische Lösungen oder europäische bilaterale militärische Ansätze in einem neuen Licht diskutiert. Deutschland, ob es will oder nicht, wird in eine europäische Führungsrolle gedrängt und löst damit historisch bedingte Ressentiments bei den osteuropäischen Partnerstaaten aus. Noch nie war die EU so gespalten wie Anfang 2017. Diese Tendenz wird sich wohl fortsetzen und fordert den Weiterbestand der EU, so wie wir sie kenne, nachhaltig heraus. Diese Themen werden im letzten Teil des Buches beschrieben.

Wie eng dieses transatlantische Konzept nicht nur Deutschland einschnürt und wie sehr wir an einer neuen politischen Schwelle in Europa stehen, darüber handelt dieses Buch. Europa muss sich neu gestalten und auf Deutschland wird eine neue Rolle in einem veränderten Europa zukommen.

2.DEUTSCHLAND ALS ZENTRUM DER ALLIIERTEN WIRTSCHAFTSSPIONAGE

Deutschland ist zu einem prominenten Aufklärungsziel für alle Formen der Wirtschaftskriminalität aufgestiegen. Zugleich sind die deutschen Behörden technisch kaum in der Lage, Wirtschaftsspionage ausländischer Nachrichtendienste mit der dafür notwendigen Nachhaltigkeit und Expertise aufzuklären. Die Abwehr von Wirtschafts- und Industriespionage war primär auf Russland, China und Nordkorea ausgerichtet. Spionage der NATO-Partner in Deutschland war hier kein Thema. Spionage, vor allem Wirtschaftsspionage, durch die Alliierten, allen voran durch die USA, aber auch durch Großbritannien und Frankreich, wurde von den Sicherheitsbehörden und auch von der deutschen Politik kaum wahrgenommen. Seit Snowden hat jedoch ein Umdenken eingesetzt.

Die Sicherheitsbehörden in Deutschland sind ein fester Bestandteil des ehemals alliierten Aufklärungsverbundes im Bereich der Spionageabwehr, auch bei der Abwehr von Wirtschaftsspionage. Deutschland wurde, als Teil eines westlichen Systems, über Jahrzehnte hindurch gegen Russland und China ausgerichtet. Eine Vielzahl von Einrichtungen, die diesem Zweck dienen, werden heute noch von den Amerikanern mitbetrieben, beispielsweise in Bad Aibling. Langjährige Zusammenarbeit und Kooperationen mit den ehemaligen Alliierten haben das »Sicherheitssystem Deutschland« bereits in einem Maße unterwandert, dass in vielen Bereichen von einer Eigenständigkeit und Selbstständigkeit deutscher Behörden nicht mehr die Rede sein kann. Sowohl technisch als auch politisch befindet sich Deutschland in einer prekären Situation. »Weakness«, wie der chinesische Kriegsherr Sunzi richtig anmerkt, »is an invitation to invade«. Übersehen hat man, dass dieser Grundsatz nicht nur für den Feind, sondern offenbar auch für den alliierten Partner gilt.

Dies gilt insbesondere für die Wirtschaftsspionage gegen Deutschland, die erst seit den Erkenntnissen in der Snowden-Affäre politisch überhaupt ein Thema ist. Obwohl die Schätzungen über den angerichteten Schaden enorm sind, hatte die Abwehr von Wirtschaftsspionage durch die alliierten Partner seitens der Bundesregierung und der Sicherheitsbehörden bisher keine Priorität. Die davon betroffenen Unternehmen bleiben meist auf sich allein gestellt. Dazu tragen auch jene US-Gesetze bei, die im Zuge der Terrorismusbekämpfung verabschiedet wurden und der europäischen Wirtschaft und ihren Unternehmen bisher enormen Schaden zugefügt haben.

Die Regierung ist sich durchaus bewusst, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland Gefahr läuft, seine Attraktivität zu verlieren. Die über Jahre hindurch betriebene Wirtschafts- und Industriespionage, aber auch die Konkurrenzspionage durch ausländische westliche Nachrichtendienste in Deutschland, allen voran durch die NSA und das britische GCHQ, wurden bisher schlichtweg unterschätzt.

Wirtschafts-, Industrie- und Konkurrenzspionage

Unter Wirtschaftsspionage versteht man die staatlich gelenkte oder gestützte, von Nachrichtendiensten fremder Staaten ausgehende Ausforschung von Volkswirtschaften, Wirtschaftsunternehmen und Betrieben. Diese Definition basiert auf einem einheitlichen Verständnis deutscher Sicherheitsbehörden. Ist ein ausländischer Nachrichtendienst involviert, fällt Wirtschaftsspionage in die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes. Konkurrenzausspähung, also das Ausforschen konkurrierender Unternehmen, fällt nicht in die Kompetenz des Verfassungsschutzes.4

In der Praxis ist die Unterscheidung nicht ganz so einfach, wie die Definition vermuten lässt. Was in der Regel von der einschlägigen Literatur als Wirtschaftsspionage bezeichnet wird, ist in der Praxis eine Mischung aus Wirtschafts-, Industrie- und Konkurrenzspionage. Daher ist auch das verwendete Zahlenmaterial eine Mischung aus allen Phänomenen der gegen die Wirtschaft gerichteten Spionage und nur bedingt verlässlich. Tatsächlich ist eine eindeutige Zuordnung genauso schwierig, wie hierfür belastbares Zahlenmaterial auszuweisen. Der Verein Deutscher Ingenieure, VDI, geht aber von dramatischen Zahlen aus und spricht von einer Größenordnung von 100 Milliarden Euro Schaden für die deutsche Wirtschaft jährlich. Die vom Verfassungsschutz präsentierten Schadenssummen wären, so der VDI-Vorsitzende, deutlich zu niedrig.5

Die Schwankungsbreite für Schätzungen des Schadens durch Wirtschaftsspionage haben unterschiedliche Ursachen:

Die Aufklärungsrate für elektronisch vorgetragene Angriffe ist sehr gering und der Ausgangspunkt dieser Angriffe nur unter großem Aufwand nachzuweisen. Klein- und Mittelbetriebe verfügen kaum über die dafür notwendigen Ressourcen.

Wirtschaftsspionage, in der Nachrichtendienste als Verursacher vermutet werden, ist für die betroffenen Unternehmen, wenn überhaupt, erst viel später erkennbar und wird seitens der Behörden mangels Ressourcen und Technik nur selten erfolgreich untersucht. Die Masse solcher Angriffe erfolgt unter Einbeziehung des Internets als unbefugter Zugriff auf interne Netzwerke und sensible Daten.

In den meisten Fällen werden erkannte Angriffe durch Nachrichtendienste von den betroffenen Firmen nicht öffentlich gemacht. Das gilt ebenso für Konkurrenzspionage, bei der Mitbewerber oder kriminelle Strukturen als Urheber erkannt oder vermutet werden. Zu groß ist die Furcht vor Reputationsverlust, insbesondere wenn das Unternehmen in einer sensiblen Branche tätig ist.

Der Schaden, den Nachrichtendienste der deutschen Wirtschaft zufügen, wird sowohl von der Politik, als auch von der öffentlichen Wahrnehmung völlig unterschätzt oder ist schlichtweg unbekannt. Nach einer 2015 von Bitkom vorgestellten repräsentativen Umfrage wurden zwei von drei deutschen Industriebetrieben bereits Opfer von Datendiebstahl, Spionage oder Sabotage.6 Führungskräfte und Sicherheitsexperten von über 500 deutschen Unternehmen mit mehr als 10 Mitarbeitern wurden befragt. Mehr als 50 Prozent gaben an, bereits von Datendiebstahl und Sabotage betroffen gewesen zu sein. Der Schaden, so die Bitkom-Studie, ergibt sich durch Patentverletzungen, den Verlust von Wettbewerbsvorteilen, Kosten für Rechtsstreitigkeiten und Verluste durch Plagiate.

Der Schaden, der durch Wirtschaftsspionage ausländischer Nachrichtendienste verursacht wird, wird eher selten angesprochen. Dies ist auffällig, da bekannt ist, dass die amerikanischen, britischen, französischen, chinesischen und russischen Dienste ein dezidiertes Mandat seitens ihrer Regierungen haben, Wirtschaftsspionage zu betreiben. In Deutschland ist dies nicht der Fall. Das neue BND-Gesetz schließt Wirtschaftsspionage sogar explizit aus. Fest steht jedoch, dass Deutschland eines der primären Spionageziele aus Ost und West ist.

Seit der NSA-Affäre ist allerdings Bewegung in die Diskussion gekommen. Es wird nicht mehr so selbstverständlich mit zweierlei Maß gemessen, wie dies in der Vergangenheit noch der Fall war: Vor der Snowden-Affäre war Wirtschaftsspionage durch alliierte Dienste in Deutschland kein Thema. Die deutschen Sicherheitsbehörden verfolgten mit ihrem Fokus auf Russland und China in dieser Sache ein anderes Feindbild. Über viele Jahre wurden die Abwehrstrukturen der Sicherheitsbehörden auf die Gefahr aus dem Osten hin ausgerichtet. Dies ändert sich nun allmählich. Zu deutlich sind die Hinweise in den Snowden-Papieren auf Wirtschafts- und Industriespionage der NSA, um sie weiterhin politisch ignorieren zu können.

Für den ehemaligen Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt (1991 bis 1998) Bernd Schmidbauer besteht über die Hintergründe der flächendeckenden NSA-Überwachung kein Zweifel. Für ihn ist klar: Es geht um »Wirtschaftsspionage im großen Stil«, wie er in N24 am 01.07.2013, unmittelbar nach Bekanntwerden der NSA-Affäre, zitiert wird.7

Schmidbauer bestätigt nur das, was von den meisten Leitern europäischer Nachrichtendienste unter vorgehaltener Hand oder im vertrauten Kreis preisgegeben wird: Die USA gelten als der aggressivste Faktor der nahezu global aufgestellten Abhörmaschinerie. Schwerpunkt des Interesses sind forschungsintensive Sektoren wie Computertechnik, Mikroelektronik und Kommunikationstechnologie. Das Interesse gilt nicht nur der Industrie und Großkonzernen, wie Opel, BASF, Volkswagen und Siemens, sondern auch staatlichen Forschungseinrichtungen, Universitäten und interessanten mittelständischen Unternehmen. Das globale Interessenprofil wurde in den Snowden-Dokumenten belegt, unter anderem durch den Fünfjahresplan der NSA für Wirtschaftsziele, den »Sigint Mission Plan FY 2008–2013«.

Wie aber gelangen jene Informationen, die für die amerikanische Wirtschaft von Interesse sind, dorthin? Im amerikanischen Handelsministerium ist das diskrete Office of Intelligence Liaison angesiedelt. Als im Jahre 1993 die Existenz dieses Büros durch einen britischen Sender bekannt wurde, hieß es ab 1996 Office for Executive Support. Die Ziele blieben dieselben, nämlich als Schnittstelle von NSA und CIA zu amerikanischen Unternehmen zu fungieren.

Von dort aus gehen die relevanten Informationen direkt zu den amerikanischen Firmen. Genannt werden in diesem Zusammenhang häufig General Electric, Lockheed Martin, Boeing, McDonnell-Douglas, aber auch Software-Entwickler und Chiphersteller wie Microsoft, Intel, Netscape etc. Seit der NSA-Affäre ist die Verbindung zwischen den in den USA ansässigen Providern und der NSA kein Geheimnis mehr.8

Noch deutlicher als der ehemalige Geheimdienstkoordinator Schmidbauer wird der Amerikaner Andrew Denison, Direktor des in Königswinter angesiedelten Forschungsverbundes Transatlantic Networks, ein Zentrum für politische Beratung. In einem Interview für das Magazin Cicero im April 2015 sagt er, für ihn sei Wirtschaftsspionage durch amerikanische Dienste, auch gegen Deutschland, keine Überraschung, ja, sie sei sogar legitim.

»Meistens sind die, die sich unter dieser amerikanischen Lupe befinden – die Sanktionsbrecher und Geldwäscher, die Kleptokraten und ihre Schmiergeldzahler sowie die ausländischen Spione – auch für Deutschland eine Gefahr. Möglicherweise ist es illegal, dass Amerikaner nach russischen, iranischen, chinesischen, oder dschihadistischen Agenten in der deutschen Regierung und dem Militär sowie unter Journalisten und Geschäftsleuten suchen. Doch sie werden es weiter tun. ... Natürlich wäre es besser, Deutschland könnte selbst seine eigenen Firmen und Beamten ausreichend schützen. Nur wer ist in Deutschland bereit, dafür zu bezahlen?«9

Ist der Schaden durch Konkurrenzspionage, sofern er bekannt wird, noch einschätzbar, so ist dies beim Phänomen der Wirtschafts- und Industriespionage umso schwieriger, wenn der Verdacht besteht, dass ausländische Nachrichtendienste involviert sind.

Der Schaden, der durch Wirtschaftsspionage, meist digitaler Art, für Deutschland entsteht, lässt sich nur schwer schätzen. Auch der Verfassungsschutz ist dabei auf Vergleichswerte angewiesen. Es ist auch kaum möglich, zwischen privaten und staatlich gelenkten Angriffen zu unterscheiden. Genauso ist die Grenze, wie schon erwähnt, zwischen Konkurrenz- und Industriespionage fließend. Hinzu kommt, dass vor allem Klein- und Mittelstandsunternehmen digitale Angriffe nicht unmittelbar wahrnehmen. Im Durchschnitt werden erfolgreich durchgeführte Cyberangriffe erst ein halbes Jahr später erkannt, wenn der Schaden längst angerichtet ist. Der durch Datendiebstahl, Spionage und Sabotage angerichtete Schaden für die Wirtschaft wird von Fachleuten seit Jahren gleichbleibend mit mehr als 50 Milliarden Euro jährlich beziffert. In diese Schätzung fließt der Schaden, der durch NSA und GCHQ der deutschen Wirtschaft zugefügt wird, noch gar nicht mit ein, da nach wie vor keine konkreteren Erkenntnisse des Verfassungsschutzes darüber vorliegen.10

Bisher keine Spuren ...

Am 28. Juni 2016 wurde der Verfassungsschutzbericht 2015 durch Bundesinnenminister Thomas de Maizière und den Präsidenten des deutschen Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen vorgestellt. Jene Affäre, welche die nationale deutsche Sicherheit wohl am stärksten hinterfragt, wird nur am Rande beleuchtet, ohne spezifisch darauf einzugehen.11 Im Verfassungsschutzbericht des Vorjahres wurde zumindest die Erwartungshaltung geweckt, dass die im Sommer 2013 eingerichtete Sonderkommission im darauffolgenden Jahr mit Ergebnissen aufwarten kann.12

Zwei Jahre nach Bekanntwerden der bisher umfassendsten Spionagevorwürfe durch die NSA und durch den britischen GCHQ finden sich im deutschen Verfassungsschutzbericht 201513 keine Hinweise auf Spionagevorwürfe, die sich auf die von Snowden veröffentlichten Dokumente beziehen. Unabhängig von der Snowden-Affäre wird nur von einem Fall berichtet, in dem die CIA verdächtigt wurde, über einen längeren Zeitraum einen Mitarbeiter des BND von Wien aus geführt zu haben. Obwohl dies nur am Rande mit der Snowden-Affäre zu hat, handelt es sich dabei doch um einen der seltenen Fälle, in denen der Verfassungsschutz aufgrund des Verdachts von geheimdienstlicher Agententätigkeit gegen einen westlichen Geheimdienst aktiv wurde.

Der Verfassungsschutzbericht 2015 fügt sich inhaltlich nahtlos in die Reihe vorangegangener Berichte ein, wonach Russland und China als die Hauptgefährder für Cyberattacken und Wirtschaftsspionage allgemein identifiziert werden. Weder die USA, noch Großbritannien und auch kein anderer westlicher Verbündeter wird explizit im Zusammenhang mit den von Edward Snowden bekannt gemachten Spionagetätigkeiten erwähnt.14

Vor diesem Hintergrund sind die Verfassungsschutzberichte ab 2014 zum Thema Snowden und NSA-Affäre ernüchternd. Die Behörde schlussfolgerte in ihrem Bericht, dass »ein Ausleiten von Daten im Inland an deutschen Internetknotenpunkten oder bei deutschen Telekommunikationsdienstleistern ... bislang nicht nachgewiesen werden (konnte). Aufgrund der Architektur des Internets kann das Routing innerdeutscher Kommunikation auch über fremdes Hoheitsgebiet nicht ausgeschlossen werden. Eine Ausleitung von Daten im Ausland ist seitens deutscher Sicherheitsbehörden nicht detektierbar.«15 Mit anderen Worten: Die deutsche Spionageabwehr ist nicht in der Lage, der NSA Spionage bzw. strafrechtliches Verhalten nachzuweisen, da man bis heute nicht ausschließen kann, dass das Abgreifen der Daten außerhalb Deutschlands erfolgte. Die Kommentare zur NSA-Affäre werden im darauffolgenden Verfassungsschutzbericht noch dünner. Pikanterweise wurde nicht einmal der Versuch unternommen, im Ausland auf dem Weg der Amtshilfe aktiv zu werden. Man weiß schlicht und einfach nicht, wo man mit den Nachforschungen beginnen soll.

Der Verfassungsschutzbericht 2015 nimmt nur mehr indirekt Bezug auf die NSA-Affäre, und räumt ein, dass es »immer wieder Hinweise gibt, dass einzelne Partnerdienste durch Überwachung von Telekommunikationseinrichtungen und sonstigen Datenströmen oder mittels menschlicher Quellen Spionage in beziehungsweise gegen Deutschland betreiben«.1617