Friesenschuld

Ostfrieslandkrimi

Edna Schuchardt


ISBN: 978-3-95573-383-4
1. Auflage 2016, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2016 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag unter Verwendung eines Bildes von shutterstock.

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Winter 1945

Mühsam hob Lotte die Lider. Es dauerte einen Moment, ehe sie begriff, dass das klappernde Geräusch, das überlaut in ihren Ohren klang, von ihren Zähnen stammte, die heftig aufeinanderschlugen. Obwohl die Frauen mehrere Decken über sie gebreitet hatten, fror sie ganz erbärmlich. Ihr ganzer Oberkörper schien aus Schmerz zu bestehen, ihre Kehle fühlte sich rau an wie ein Reibeisen, sie hatte brennenden Durst.

„So kann sie unmöglich gehen“, hörte Lotte eine der Frauen sagen. „Wir müssen sie tragen.“

„Das überlebt sie nicht“, sagte eine andere Stimme.

Lotte versuchte, sich aufzurichten, um sich nach den Sprecherinnen umzusehen, doch ihr fehlte die Kraft. Einzig ein trockener, schmerzhafter Husten wütete in ihrer Brust. Es hörte sich an wie das Bellen eines großen Hundes.

„Aber hier kann sie nicht bleiben“, flüsterte die erste Stimme. Sie klang beunruhigt. „Sie muss weg, gleich, sofort. Sie können jeden Moment hier sein.“

„Aber wohin?“, fragte eine andere Frau, die Lotte bisher noch nicht gehört hatte. Sie hatte eine merkwürdig raue Stimme, so als ob sie erkältet wäre.

„Auf Heitjes Kutter“, antwortete die Erstsprecherin. „Ick bring sie denn heut Nacht rüber nach Memmert, da sucht sie keiner.“

„Das überlebt sie nicht“, raunte eine der Frauen. Ihre Stimme klang beschwörend. „Sie wird uns schon auf dem Weg zum Hafen sterben.“

„Und wie sollen wir überhaupt mit ihr bis zu Heitjes Kutter kommen?“ Das war die Frau mit der rauen Stimme. „Der Hafen wird doch bewacht.“

„Ach, die zwei Pappchinesen.“ Es klang zutiefst verächtlich. „Die wickelt unsere Elda doch leicht um’n Finger.“

„Wir legen sie auf den Karren im Schuppen und packen Strohsäcke drüber“, schlug die Erstsprecherin vor. „Dat kriegen wir schon.“

Eine Tür wurde geöffnet, Hände griffen nach Lotte, zogen sie von ihrem Lager, wickelten sie in die rauen Decken. Dann wurde sie hochgehoben.

„Die wiegt ja weniger als unser Dackel“, bemerkte eine der Frauen bestürzt. Dann wurde es noch kälter. Am liebsten hätte Lotte gerufen, dass man sie einfach sterben lassen sollte. Doch sie brachte keinen Ton heraus. Schlotternd vor Kälte musste sie es zulassen, dass die Frauen sie hochhoben, auf etwas Raschelndem niederlegten, das dem Geruch nach Stroh sein konnte, und anschließend mit Heu vollgestopfte Säcke über sie stapelten. Kurze Zeit später ging ein Ruck durch Lottes Unterlage und dann spürte sie, dass sie gefahren wurde.

Der Untergrund war holprig. Bei jedem Stoß schoss eine Schmerzwelle durch ihren Körper, die ihr fast den Atem nahm. Ihr Instinkt sagte Lotte, dass sie nicht schreien durfte, also biss sie die Zähne zusammen und unterdrückte auch bei den schlimmsten Bodenwellen oder Schlaglöchern jedes noch so leise Stöhnen.

Die Fahrt schien nie zu Ende zu gehen. Immer weiter und weiter rollte der Karren. Niemand sprach, nichts war zu hören als das Knacken des Holzkarrens und das Scheppern und Schnarren der Räder, wenn sie über steiniges Gelände fuhren. Lotte wusste nicht einmal, ob alle Frauen ihren Weg begleiteten. Doch das war ihr auch egal, denn die Schmerzen lähmten alle anderen Empfindungen und Gedanken.

„Halt!“

Der Ruf durchdrang das Polster aus Heusäcken. Die Stimme klang laut, erwartete keinen Widerspruch. Sofort wurde der Karren gestoppt, die Männerstimme blaffte irgendwelche Worte, abgehackt, wütend. Lotte verstand nicht, was der Mann sagte, aber sie ahnte, dass dies Gefahr bedeutete. Im nächsten Moment wurden die Säcke hochgerissen, grobe Hände griffen nach ihr, rissen sie von ihrem Strohbett. Die Frauen schrien, eine stieß wüste Verwünschungen aus, die erst verstummten, als ein lautes Klatschen ertönte.

„So hol doch dein Mul, dösig Froo!“, zischte einer der Männer. „Bringst uns all’ noch in den Dood.“

„Schietkerle!“ Die Frauen gaben nicht auf. „Lasst se löß.“

Lotte konnte sich nicht auf den Beinen halten. Längst waren die Decken von ihren Schultern gerutscht. Sie zitterte so heftig, dass es ihren Körper regelrecht schüttelte. Vor Schwäche sackte sie zusammen, doch die Männerhände hielten sie, sodass sie nicht zu Boden fiel. Wieder begannen die Frauen zu schreien, zwei stürzten sich sogar auf die Angreifer, doch es waren zu viele. Durch einen Schleier aus Tränen und Fieberglanz versuchte Lotte, einzelne Gesichter zu erkennen. Es waren keine Soldaten, das konnte sie sehen. Doch die einzelnen Gesichter konnte sie nicht auseinanderhalten. Sie schienen zu zerfließen, waberten wie Nebelschwaden im Spätherbst vor ihren Augen.

Komischerweise hatte sie überhaupt keine Angst. Vielleicht lag es daran, dass sie so lange Jahre jeden Tag den Tod vor Augen gehabt hatte? Sie trauerte nur um diese Frauen, die versucht hatten ihr zu helfen und die man nun dafür bestrafen würde. Gerne hätte Lotte ihnen gesagt, wie sehr sie das bedauerte, und hätte ihnen gedankt. Doch sie war zu schwach, um Worte zu formulieren. Widerstandslos ließ sie sich von den Kerlen über den Acker schleifen. Schemenhaft tauchte die Silhouette eines Baumes vor ihr auf. Lotte schloss die Augen, sie wusste, was nun kommen würde.

Kalter Nieselregen, in den sich nadelspitzfeine Eiskristalle mischten, setzte ein, als einer der Männer ihr einen kratzigen rauen Strick um den Hals legte. Lotte ließ es geschehen. Sie schloss die Augen und dachte an ihre Familie, die sie nun bald wiedersehen würde.

Das Letzte, das Lotte hörte, ehe ihr Genick brach, war der hasserfüllte Ausruf einer der Frauen, der weithin über die nebelnasse Wiese schallte.

„Verflucht sollt ihr sein, allesamt und bis in alle Ewigkeit!“

 

Herbst 1995

Kriminalhauptkommissar Erich Hanschke, kurz KHK Hanschke, wedelte mit der Hand, als wollte er einen Schwarm Mücken verscheuchen. Kriminalassistent Heiner Rottach trat rasch zwei Schritte von ihm weg, um sich nicht versehentlich eine Watschen einzuhandeln.

„Jetzt sorgen Sie endlich dafür, dass diese Gaffer verschwinden!“

Der Befehl galt einem uniformierten Polizisten, der mit schreckgeweiteten Augen die Szene beobachtete. Dorfbulle, dachte KHK Hanschke verächtlich, den der Anblick überhaupt nicht berührte. Er hatte bereits so viele Leichen gesehen, dass seine Seele Hornhaut trug. Außerdem hatte er schon vor Jahren für sich beschlossen, nichts von dem, was er in seinen Mordermittlungen sah und hörte, an sich herankommen zu lassen.

„Hallo!“, herrschte Hanschke den Polizisten an, als dieser sich nicht rührte. „Sorgen Sie endlich dafür, dass diese dämlichen Gaffer verschwinden! Hier gibt’s nichts zu sehen.“

„Äh, ja.“ Der Beamte war beim harten Klang der Stimme zusammengezuckt. Jetzt nickte er eilig und wuselte davon, um seine Kollegen zu aktivieren, die genauso stumm herumstanden, wie er es eben getan hatte.

Im Stillen sagte er dem Kommissar die Meinung, die er nicht laut auszusprechen wagte. Seiner Ansicht nach war dieser Ermittler ein arrogantes Arschloch, das sich aufspielte, als wäre es Graf Koks. War hier angekommen, in seinen schicken auf Hochglanz polierten Slippern zu der Leiche getappt und hatte dabei die ganze Zeit über das Wetter, den Matsch und diese ganze verdammte Provinzgegend gemeckert. Dann hatte er kurz auf die Leiche des Mannes geschaut und „Selbstmord“ geurteilt.

Wahrscheinlich wäre er sofort wieder verschwunden, wenn sein Begleiter ihm nicht eindringlich geraten hätte, wenigstens das Ergebnis der ersten Untersuchung durch den Gerichtsmediziner abzuwarten.

„Der wird auch nichts anderes feststellen“, hatte KHK Erich Hanschke gemault, war aber geblieben. Jetzt stand er, nervös von einem Fuß auf den anderen tretend, auf der durchgeweichten Wiese und sah zu, wie der Mediziner die Leiche einer ersten Beschau unterzog.

Hinter der grausigen Szene standen die Bewohner des etwa drei Kilometer entfernten Weilers. Ein winziger Flecken, bestehend aus drei Häusern, in denen siebzehn Personen und fünf Hunde lebten. Sie standen da, stumm, mit unbewegten Gesichtern, und starrten zu dem Baum hinauf, in dem die Leiche eines Mannes hing.

Kriminalassistent Heiner Rottach sah nachdenklich zu ihnen hinüber. Ihre Mienen und ihr Schweigen ließen darauf schließen, dass sie den Toten nicht kannten. Außerdem war seine Kleidung eigentlich viel zu elegant für diese Gegend und für das kühlnasse Herbstwetter. Hier trug man um diese Jahreszeit dicke Norwegerpullover oder Troyer und obendrüber neben einer warmen Jacke auch noch eine dieser gelben Regenjacken, die selbst im Dunkeln zu sehen waren.

Der Tote trug eine feine Tuchhose, Slipper, die bestimmt nicht billig gewesen waren, und einen edlen Pullover. Der Kragen eines weißen Hemdes lag über dem Halsausschnitt. Alles ganz schick und für diese Gegend völlig unpassend. Dieser Mann war gekleidet, wie Städter sich anziehen, wenn sie ins Büro gehen. Der kam ganz bestimmt nicht von hier, sondern aus einer Großstadt. Wahrscheinlich nicht mal aus einer hier im Norden, sondern eher einer Richtung Süden. Frankfurt, Berlin oder München vielleicht. Trotzdem fand Rottach, dass man die Leute befragen sollte, ob sie den Mann kannten oder ob ihnen irgendwas aufgefallen war. Da sein Vorgesetzter keine Anstalten machte, dies in die Wege zu leiten, wandte Rottach sich schließlich in gebotener Vorsicht an ihn.

„Möchten Sie, dass ich mal herumgehe und die Leute frage, ob jemand den Toten kennt oder ob jemand was bemerkt hat?“

KHK Erich Hanschke stieß einen genervt klingenden Laut aus, nickte aber.

„Ja, machen Sie, damit die Routine stimmt.“

KA Heiner Rottach zückte seinen Notizblock und ging zu den Dorfbewohnern, die sich jetzt hinter das Absperrband zurückgezogen hatten. Sein Chef wandte sich indessen wieder dem Tatort zu, wo Dr. Meurer gerade mit zwei Helfern die Leiche vom Baum schnitt. In der Nähe warteten bereits die Angestellten der Pietät Schubert aus Norden. Graue, unauffällige Gestalten, die mit der herbstkahlen, nebligen Gegend zu verschmelzen schienen.

Als die Helfer den Leichnam auf die bereits ausgebreitete Plastikplane legten, trat KHK Hanschke hinzu, betrachtete den Toten einen Moment emotionslos und wandte sich dann an den Gerichtsmediziner.

„Und, ist’n Suizid, nicht wahr?“

Dr. Meurer hob die Schultern. „Genaues kann ich erst nach der Obduktion sagen“. Das war ein Standardsatz, den jeder Fernsehpathologe mindestens einmal pro Tatortfolge sagen muss und der Erich Hanschke zu den Ohren herauskam. „Momentan weiß ich nur, dass der Tod zwischen zwei und drei Uhr nachts eingetreten ist und dass der Mann tot ist.“

„Gibt es einen Abschiedsbrief?“ Es war eine Routinefrage, kein Interesse, das den Kommissar das sagen ließ.

„Ja.“ Der Mediziner gab einem der Helfer ein Zeichen, worauf dieser eine kleine Plastiktüte aus dem mitgebrachten Alukoffer nahm. „Auf dem Computer geschrieben, keine handschriftliche Signatur.“

Bei KHK Hanschke weckte die Information nur äußerst mäßiges Interesse. Er zuckte nur gleichgültig die Schultern. Klar war ein Computerbrief etwas ungewöhnlich. Normalerweise schrieben Selbstmörder ihre letzten Worte per Hand auf ein Stück Papier. Aber die moderne Technik schritt immer weiter voran. Schon heute schrieb kaum noch jemand auf einer Maschine und per Hand, mit Kuli oder Füller, nur noch alte Leute.

Dieser Tote da auf der Plane war nicht alt. Zudem war er wie ein Businesstyp gekleidet. Solche Leute hatten Sekretärinnen, die ihre Briefe schrieben, und wenn sie tatsächlich mal selber was zu Papier brachten, dann benutzten sie dafür mit Sicherheit ihren schicken Apfel-Laptop.

Nein, für den Kommissar war das kein Verdachtsmoment. Er war wild entschlossen, den Fall so rasch wie möglich zum Ende zu bringen und sich nicht von irgendwelchen Zweifeln oder Zweiflern seine schöne Aufklärungsrate versauen zu lassen.

KA Rottach kehrte mit seinem Notizblock zurück, was Hanschke innerlich aufstöhnen ließ. Sein karrieregeiler Assistent hatte wahrscheinlich genau den einen Typen gefunden, der den Toten kannte und zu hundert Prozent davon überzeugt war, dass der keinen Suizid begangen hatte, weil er doch gerade erst im Lotto den Jackpot gewonnen hatte. Doch Hanschkes Besorgnis war unbegründet.

„Ich habe alle befragt“, eröffnete KA Rottach seinem Vorgesetzten sichtlich enttäuscht. „Niemand kennt den Toten, niemand hat etwas gesehen oder gehört. Sie haben alle tief und fest geschlafen.“

„Na also.“ KHK Hanschke war vorerst zufrieden. Wenn die Angehörigen jetzt nicht noch Schwierigkeiten machten, sondern was von Depressionen oder Problemen erzählten, dann war der Fall geritzt. Egal, was es war, das den Kerl aus dem Leben getrieben hatte, Hauptsache, es reichte, um als Grund für den Selbstmord herzuhalten.

Der Assistent legte die Plastikplane zusammen, dann winkte er die beiden Angestellten des Beerdigungsinstitutes heran, die den Sack in einen Zinksarg legten.

„Wir haben seine Daten“, sagte Dr. Meurer, an KHK Hanschke gerichtet.

„Okay, wer ist es?“ Es interessierte ihn nicht wirklich.

„Robert Weise, zweiunddreißig Jahre alt, aus Wiesbaden.“

Na also, hatte er es doch gewusst! Das war ein typischer Großstädter, der nur hierher gekommen war, um ungestört seinem langweiligen Leben ein Ende zu machen. Hanschke grinste vor Zufriedenheit. Er kannte halt die Menschen und ihre Macken!

„Gut, ich warte dann auf Ihren Bericht“, sagte er zu dem Gerichtsmediziner, der ihn mit unverhohlener Abneigung ansah. „Und auf den Ihren auch.“ Damit war der Leiter des Spurensicherungsteams gemeint, das nun mit seiner Arbeit begann. „Ich bin dann weg.“

Schon im Umdrehen begriffen hob der Kommissar die rechte Hand zum Gruß und ging davon, dabei emsig darauf bedacht, in keine der Lachen zu treten, die sich auf der Wiese gebildet hatten. Ein ziemlich unnützes Bemühen, weil die Erde so mit Wasser vollgesogen war, dass sich bei jedem Schritt sofort eine kleine Pfütze um Hanschkes Schuhe bildete.

„Mistgegend!“, fluchte er ärgerlich, als er endlich sein Dienstfahrzeug erreichte. „Wie ich diese dreckige, verlauste Gegend hasse! Hier können echt nur Idioten überleben.“

„Mir gefällt es. Ich bin hier geboren“, bemerkte KA Rottach spitzmündig, was bei seinem Vorgesetzten nur ein verächtliches Schnauben hervorrief.

„Na also, sag ich doch“, bellte er unfreundlich und ließ sich in den Sitz fallen. „Ins Präsidium“, wies er den Assistenten an. „Um die Hinterbliebenen soll sich die Wiesbadener Polizei kümmern.“

Heiner Rottach warf ihm einen erstaunten Blick zu, behielt aber seine Gedanken für sich. Gehorsam startete er den Motor und lenkte den Wagen zur Straße.