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Kai Voss

DAS NSU-PHANTOM

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Umschlaggestaltung: DSR – Digitalstudio Rypka GmbH, Thomas Hofer, Dobl, www.rypka.at

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ISBN 978-3-902732-35-4

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© Copyright by Ares Verlag, Graz 2014

Layout: Ecotext Verlag, Mag. Schneeweiß-Arnoldstein, 1010 Wien
Gesamtherstellung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan
Printed in Austria

Inhalt

Vorwort des Autors

1. Gladio – Terror durch den Staat

2. Der Vorwurf (lt. Bundestagsuntersuchungsausschuß)

3. Die „Dönermorde“

3.1Waren die Morde wirklich politisch motiviert?

3.2Enver imek, Nürnberg

3.3Abdurrahim Özüdoğru, Nürnberg

3.4Süleyman Taköprü, Hamburg

3.5Habil Kiliç, München

3.6Mehmet Turgut, Rostock

3.7Ismail Yaar, Nürnberg

3.8Theodoros Boulgarides, München

3.9Mehmet Kubaik, Dortmund

3.10Halit Yozgat, Kassel

4. Etliche Straftaten, aber kaum Motive

4.1Die Bombenattentate

4.2Der Heilbronner Polizistenmord

5. Der 4. November 2011

5.1Zwei Leichen und (k)ein Täter

5.2Die Sprengung in Zwickau

6. Beweismittel (die keine sind)

6.1Das Waffenlager

6.2Die Česká 83

6.3Das „Bekenntnis“ auf DVD

6.4Weitere Bekenner-Filme

7. Der Geheimdienstdschungel

7.1Bundesrepublikanische Schlapphüte

7.2NSU-Verstrickungen

7.3Der ominöse Carsten Schultze

7.4Der Fall „Michael Krause“

7.5Spitzel, Zuträger, Bedienstete

7.6Die unbekannte „P 46“

8. Vom Untergrund in die Weltöffentlichkeit

8.1Das Leben im Untergrund

8.2Prozeß oder Farce?

8.3Das mysteriöse Ableben auskunftsfähiger NSU-Zeugen

8.4Sebastian Edathy – nun selbst im Untergrund

9. Was noch zu sagen bleibt

9.1Wie es wirklich gewesen sein könnte

9.2Fazit

Anhang

Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Die Menschen glauben viel leichter eine Lüge,
die sie schon hundertmal gehört haben,
als eine Wahrheit, die ihnen völlig neu ist
.

Alfred Polgar

Vorwort des Autors

Mein Beweggrund, dieses Buch zu schreiben, ist vor allem der steigende Unmut über die offensichtlichen Widersprüche im Zusammenhang mit der Aufklärung der Vorgänge um den „Nationalsozialistischen Untergrund“ und die Art und Weise, wie darüber hinweggegangen wird. Als ich begann, die laufende Berichterstattung über Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe zu verfolgen, keimten nach wenigen Tagen die ersten Zweifel in mir auf, ob sich all das, was in den Medien behauptet wurde, wirklich so zugetragen hat. Die Ermittlungsbehörden würden schon Licht ins Dunkel bringen, war damals meine vage Hoffnung, die sich indes bald zerschlug. Es wurde nämlich immer offensichtlicher, daß gerade diese Ermittlungsbehörden mit noch fragwürdigeren Geschichten aufzuwarten bereit waren als die Medien. In mir verdichtete sich mehr und mehr der Verdacht, daß hier etwas „konstruiert“ werden sollte. Noch bevor überhaupt Anklage erhoben wurde, berichteten Medien und Buchautoren, wie sich welcher Mord zugetragen hat, wer welche Waffen geliefert hat und wer die Drahtzieher waren. Ein Effekt dieser Form des „Whistleblowings“ war, daß das Leben vermeintlicher NSU-Helfer dauerhaft und unwiederbringlich zerstört wurde. Einigermaßen irritierend ist auch die Entschädigungspraxis im Hinblick auf die NSU-Opfer auf Kosten des Steuerzahlers: Obwohl zum Zeitpunkt der Entschädigungszahlungen weder Anklage erhoben war noch ein plausibler Tatablauf präsentiert werden konnte, wurden die Angehörigen der mutmaßlichen NSU-Opfer mit einem Betrag von insgesamt mehreren hunderttausend Euro abgefunden. Eine Praxis, die Angehörigen „gewöhnlicher“ Opfer verwehrt bleibt. Zwar wurden in den Medien auch Angehörige zitiert, die die Zahlungen als „lächerlich“ oder als „Schweigegeld“ bezeichneten und behaupteten, das Geld nicht annehmen zu wollen. Ob sie die Annahme dann tatsächlich verweigerten, mag an dieser Stelle dahingestellt bleiben.

Es blieb aber nicht bei staatlichen Zahlungen. Wer die bundesrepublikanische „Opferkultur“ kennt, dem dürfte es wenig überrascht haben, daß schon bald Gedenkstelen eingeweiht wurden und zu Solidaritätsbekundungen (beispielsweise durch den Bundespräsidenten) aufgerufen wurde – ungeachtet der Hinweise darauf, daß einige Opfer der Mordserie einen kriminellen Hintergrund aufwiesen oder sich illegal in Deutschland aufhielten. Parallel dazu wird, je länger der vermeintliche Selbstmord der beiden NSU-Aktivisten Böhnhardt und Mundlos zurückliegt und je länger deren mutmaßliche Komplizin Zschäpe mehr oder weniger schweigend in Haft sitzt, mit Nachdruck die offizielle Version vom Terror des NSU kolportiert. Grund genug, den offensichtlichen Ungereimtheiten und Fehlern auf den Grund zu gehen und dort weiterzurecherchieren, wo andere mit dem Fragen aufhören.

Der Autor, im Juni 2014

1. Gladio – Terror durch den Staat

Man mußte Zivilisten angreifen, Männer, Frauen, Kinder, unschuldige Menschen, unbekannte Menschen, die weit weg vom politischen Spiel waren. Der Grund dafür war einfach. Die Anschläge sollten das italienische Volk dazu bringen, den Staat um größere Sicherheit zu bitten. […] Diese politische Logik liegt all den Massakern und Terroranschlägen zu Grunde, welche ohne richterliches Urteil bleiben, weil der Staat sich ja nicht selber verurteilen kann.1

Vincenzo Vinciguerra, Gladio-Attentäter

Daß Geheimdienste oftmals in dunkle Machenschaften verwickelt sind, ist nicht nur der Drehbuchstoff für Hollywoodfilme. In der jüngeren Geschichte scheint die Arbeit der Dienste Blüten zu treiben, die so manchem Drehbuchautor allzu absurd erscheinen dürften. Nicht immer wird dabei, wie beispielsweise im Falle der Ermordung John F. Kennedys oder der Terroranschläge vom 11. September 2001, „nur“ deutlich, daß getäuscht, vertuscht und geschwiegen wurde, so daß eine stille Mehrheit die offiziell behaupteten Vorgänge nahezu anzweifeln muß. Nein, einige Male wurde die Arbeit geheimer Dienste so vollumfänglich aufgedeckt, daß man sich wundern muß, warum nach wie vor die Bereitschaft vorhanden ist, unkontrollierbare staatliche Behörden mit Steuergeldern zu finanzieren. Hierbei geht es nicht um Dienstwagenaffären, Bestechlichkeit, Korruption und Vorteilsnahme, Steuerhinterziehung und sonstige politisch übliche „Kavaliersdelikte“ – auch in Fällen von Mord und terroristischen Anschlägen sind Roß und Reiter durchaus bekannt. Die geringe Aufklärung der Öffentlichkeit hierüber läßt in bezug auf die Kontrollfunktion der Medien und die angebliche Freiheit der Presse nur den Schluß zu, daß neben staatlichen Institutionen auch die Medienlandschaft manipuliert und kontrolliert wird, ja daß manche Pressevertreter sogar als Erfüllungsgehilfen fungieren. Wie ist es sonst erklärbar, daß zwar der Mord an mehreren Einwanderern monatelang für Titelseiten, Dokumentationen, Analysen und wildeste Spekulationen sorgt, die Information über klar nachgewiesene Anschläge unter Beteiligung der Geheimdienste aber nur über Medien mit Kleinstauflagen überhaupt eine (geringe) Verbreitung erfährt?

Eine (neben vielen anderen indizienreichen Fällen) besonders interessante Aufdeckung geheimdienstlicher Aktivitäten, die im Zusammenhang mit der angeblichen NSU-Zelle ebenfalls einen tieferen Sinn ergibt, bezog sich auf paramilitärische Truppen, die unter dem Namen „Gladio“ bekannt wurden und deren Existenz 1990 von offizieller Seite bestätigt wurde.2

Als die Wehrmacht im Mai 1945 kapitulierte, wurde das Deutsche Reich unter den Siegermächten in Besatzungszonen aufgeteilt. Es folgte der „Kalte Krieg“, in dem der Westen stets befürchtete, von der Sowjetunion überrollt zu werden und umgekehrt. Bald nach dem Ende des Krieges, um 1950 herum, begannen die Westmächte mit dem Aufbau sogenannter Überrollgruppen, in diesem Falle intern „Stay-behind“ genannt. Wie der Name schon sagt, handelt es sich hierbei um paramilitärische Einheiten, die hinter den feindlichen Linien operieren und sich zu diesem Zwecke von den sowjetischen Truppen überrennen lassen sollten. Im Hinterland hätten diese dann in der Lage sein sollen, Sabotageakte durchzuführen, den Nachschub des Feindes zu stören, anderweitige Anschläge zu verüben und nachrichtendienstliche Funktionen wahrzunehmen.3 Der Westen befürchtete – vermutlich nicht ganz zu Unrecht –, daß sowjetische Truppen im Falle eines Einmarsches mit konventionellen Streitkräften bis zum Atlantik kaum aufzuhalten gewesen wären.

Das „Stay-behind“-Netzwerk war in ganz Westeuropa aktiv, aber auch in Griechenland und der Türkei. Hier wurde nach dem Krieg mit der Anlage zahlreicher illegaler Waffendepots begonnen, die im Falle eines feindlichen Einmarsches auch zum Bewaffnen entstehender Widerstandsgruppen hätten dienen können. Die Führung und Anwerbung der Einheiten wurde neben CIA und MI6 (also den Geheimdiensten der USA und des Vereinigten Königreichs) besonders von den nationalen Geheimdiensten (bzw. kleinsten Unterabteilungen) der jeweiligen Länder übernommen. Eine Unterabteilung des Bundesnachrichtendienstes führte die bundesdeutsche „Stay-behind“-Einheit.4

Rekrutiert haben sich die Guerilla-Kommandos aus Mitgliedern militärischer Spezialeinheiten, aus Geheimdienstlern und aus radikalen Antikommunisten, die im Falle eines sowjetischen Angriffs ohnehin den Kern potentieller Widerstandsgruppen gebildet hätten. Überdies gab es strukturell einen Kreis von zivilen Unterstützern, die im Ernstfall aktiviert werden sollten, um den „Kleinkrieg“ zu unterstützen. Für den Fall der Besetzung weiter Teile Westeuropas wurden im gesamten europäischen Raum zahlreiche Waffenlager, meist in Erdverstecken, angelegt. Bestückt waren diese unter anderem mit Funkutensilien, unterschiedlichsten Schußwaffen, aber auch mit Panzerfäusten, Handgranaten und Sprengstoff.5 Der Einmarsch der Roten Armee blieb aus, aber die Strukturen zu dessen Bekämpfung waren aufgebaut und einsatzbereit …

Den Völkern und Regierungen wurde die Errichtung solcher Untergrundarmeen nicht bekannt gemacht. Daß sie heute überhaupt bekannt sind, ist besonders dem Untersuchungsrichter Felice Casson geschuldet, der in den 1980er Jahren ein Bombenattentat von 1972 untersuchte, bei dem drei italienische Polizisten umkamen. Casson fand heraus, daß einige der angeblichen Beweise – man schob die Verantwortung für das Attentat der kommunistischen Organisation „Rote Brigaden“ zu – offensichtlich gefälscht waren, während andere schwerwiegende Indizien nicht beachtet wurden.6 Gerade hier werden Zweifler an der NSU-Geschichte hellhörig und das – betrachtet man den Heilbronner Polizistenmord näher – wohl nicht zu Unrecht (siehe Kapitel 4.2: Der Heilbronner Polizistenmord). Besagter Untersuchungsrichter fand heraus, daß zum Beispiel der Sprengstoffgutachter Mitglied einer militanten Gruppierung war (aus der auch der wirkliche Täter hervorging) und diese beste Kontakte zum italienischen Militärgeheimdienst hatte (der den Sprengstoff lieferte).

Casson ermittelte nun unermüdlich weiter und kam dem eigentlichen Täter auf die Spur, dem Rechtsextremisten Vincenzo Vinciguerra. Er gestand das Attentat und gab in seinem Geständnis an, vom Geheimdienst gedeckt worden zu sein und mit seinem Anschlag Teil einer großen Strategie gewesen zu sein.7 Casson bezeichnete dies später als die „Strategie der Spannung“. Diese Strategie sieht vor, staatliche Organe mit verdeckten Maßnahmen (Terroranschläge, politische Morde, Unruhen, Anschläge unter falscher Flagge) Angst und Verunsicherung schüren zu lassen, um politische Richtungen zu diskreditieren oder unliebsame politische Entscheidungen fällen zu können. In der Bundesrepublik wurde ein allgemeines Erstarken gemäßigter Linker durch den RAF-Terror verhindert und eine starke Anhebung des Budgets für die innere Sicherheit erreicht.8 In Italien wurden Terroranschläge wie von Vinciguerra unter Fälschung von Beweisen linken Gruppierungen zugesprochen, das Erstarken linker Parteien abgewendet und der vermeintliche Kampf gegen den Terror forciert; mit dem Ziel der Erstarkung staatstragender Sicherheitsbehörden. Vinciguerra gab gegenüber der englischen Zeitung The Guardian an:

Der Weg des Terrors wurde von getarnt agierenden Personen verfolgt, die zum Sicherheitsapparat gehörten, oder die durch Weisung oder Zusammenarbeit mit dem Staatsapparat verbunden waren. Jede einzelne der Gewalttaten nach 1969 paßte genau in ein einheitliches, organisiertes Schema … Die Avanguardia Nazionale wurde ebenso wie der Ordine Nuovo für einen Kampf mobilisiert, der Teil einer antikommunistischen Strategie war. Diese entstammte nicht etwa staatsfernen Institutionen, sondern dem Staatsapparat selbst, spezifisch dem Bereich der Verbindungen des Staats zur NATO.9

Zu glauben, solche Aktionen seien immer gegen die linke Richtung gewendet gewesen, griffe zu kurz. Die Initiatoren einer solchen Spannung sind pragmatische Machtmenschen, denen es um die Festigung bestehender Herrschaftsverhältnisse geht. Ob der Feind rechts oder links steht, ist vollkommen egal. Es kommt hierbei auf die aktuelle politische Situation im jeweiligen Staat an und ob man in die eine oder die andere Richtung dämpfend wirken muß. Eine zum jetzigen Zeitpunkt durchgeführte Denunzierung linker Gruppen durch Terror unter falscher Flagge würde die gesamte Parteienlandschaft der Bundesrepublik in Bedrängnis bringen, die seit dem Ende der Ära Kohl einen gemeinschaftlichen Ruck nach links vollzogen hat.

Casson jedenfalls recherchierte weiter und nahm den italienischen Militärgeheimdienst unter die Lupe. Er entdeckte dabei das, was die Türken den „tiefen Staat“ nennen, nämlich eine Struktur geheimer staatlicher Stellen mit kriminellen und terroristischen Verknüpfungen. Casson stieß auf ein riesiges Netzwerk, das bis in die höchsten Regierungskreise, bis tief in die CIA und bis zum Oberkommando der NATO reicht(e) und fand damit die Bestätigung für die These der „Strategie der Spannung“. Zahlreiche Morde und Terroranschläge waren auf die „Stay-behind“-Einheiten Italiens zurückzuführen, die die Vorkommnisse mit Fehlinformationen und Fälschungen den starken kommunistischen Parteien zuschoben und so eine Regierungsbeteiligung zu verhindern suchten. Ziel der NATO war es, politische Brückenköpfe der Sowjetunion in NATO-Ländern zu verhindern.10 Eine italienische Untersuchungskommission stellte 2000 fest:

Diese Massaker wurden organisiert oder unterstützt von Menschen in Institutionen des italienischen Staates und Männern, die mit dem amerikanischen Geheimdienst in Verbindung standen.11

Als die Zusammenhänge publik wurden, kam der italienische Ministerpräsident Andreotti nicht umhin, die Existenz der italienischen „Stay-behind“-Einheit „Gladio“ (römisches Kurzschwert) zuzugeben, nicht aber ohne darauf hinzuweisen, daß Italien nicht der einzige europäische Staat mit einer Untergrundarmee sei. Im Laufe des sich ausbreitenden Skandals kam es zu Anfragen in etlichen Parlamenten und in Belgien, der Schweiz sowie Italien auch zu entsprechenden Untersuchungskommissionen. Im Vergleich zum NSU-Komplex waren die auftauchenden Beweise für kriminelle Machenschaften des Staates für die Bundesrepublik nicht so brisant, daß diese zu einem Untersuchungsausschuß geführt hätten – auch wenn das Europäische Parlament einen forderte! Die angebliche Mordserie der Rechtsradikalen aus Jena führte hingegen zu mehreren Ausschüssen in den Landtagen sowie einem Ausschuß im Bundestag. Zahlreiche Wortmeldungen hoher Regierungsvertreter und Ausschüttungen an die Hinterbliebenen der Opfer lassen auch ein weitaus höheres Engagement erkennen, als es bei der Aufdeckung staatlicher Terroreinheiten zur Wendezeit der Fall war. Ein ähnlicher Fleiß beim vermeintlichen Aufklären wie im Zuge der „Dönermorde“ war bisher nur zu erkennen, wenn der Verdacht eben weg von staatlichen Einheiten und hin zu mißliebigen Akteuren gelenkt werden mußte.

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Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 324, S. 201, 24. Dezember 1990

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Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 324, S. 202, 24. Dezember 1990

In der Bundesrepublik Deutschland gab es damals nur eine parlamentarische Anfrage zu den Vorgängen um die „Stay-behind“-Gruppen. Die Regierung antwortete, daß sie keine Kenntnis über „aktuelle“ Aktivitäten dieser Einheiten in Deutschland habe, bestätigte damit aber zumindest deren frühere Existenz. Im Dezember 1990 gab die Bundesregierung schließlich bekannt, daß das deutsche Pendant zu Gladio bis zum April 1991 aufgelöst werden solle.12 Über eine Vollzugsmeldung ist aber nichts bekannt geworden.

Insgesamt wurden paramilitärische Geheimeinheiten in nahezu jedem westeuropäischen Land und darüber hinaus bekannt.13 In Italien konnten durch die angestoßenen Ermittlungen 622 Mitglieder der Gladio-Einheit identifiziert werden.14 Wie viele Einheiten es wirklich gab, wird schwerlich herauszufinden sein, da die nationalen Parlamente eine Aufklärung massiv erschwerten, indem sie die vielfach geforderten Kommissionen nicht einsetzten (Ausnahmen: Schweiz, Belgien und Italien).15 Auch die NATO versuchte über viele Jahre hinweg, ihre Beteiligung zu verschleiern und gab erst im Jahre 2006 indirekt zu, daß die NATO und die CIA ein zentrales Element in der Steuerung der „Stay-behind“-Einheiten waren,16 nachdem der Historiker Daniele Ganser im Rahmen seiner mehrjährigen Forschung zu dem Thema Beweise und Indizien veröffentlicht hatte.

In Italien konnten etliche inszenierte staatsterroristische Anschläge aufgedeckt werden, bei denen insgesamt vermutlich mehr als 200 Menschen getötet und dreimal so viele verletzt wurden. Der „Terroranschlag“ auf den Hauptbahnhof von Bologna im Jahre 1980 war der wohl größte Anschlag, bei dem Vertuschungsaktionen nachgewiesen werden konnten. Zwei Beamte wurden wegen Behinderung der Ermittlungen verurteilt.17 Auch der Bombenanschlag auf der Piazza Fontana mit 17 Toten wird dem Gladio-Netzwerk zugerechnet und hatte die massenhafte Verhaftung linker politischer Gegner zur Folge.18

In Belgien wurde die „Bande von Nivelles“ oder auch „Killerbande von Brabant“ auch von politischer Seite verdächtigt, eine „Stay-behind“-Einheit zu sein. Mit hoher Professionalität ermordete die Gruppierung bei Überfällen 28 Menschen, teilweise mit Waffen, die aus einem Polizeidepot entwendet (!?) wurden. Die Gruppe bestand aus drei festen Mitgliedern und mehreren anderen, die nicht bei jedem Überfall anwesend waren.19 Nach dem Auffliegen der italienischen Gladio-Einheit installierte Belgien eine parlamentarische Untersuchung, um der Frage nachzugehen, ob die ins Muster passenden, nie aufgeklärten Attentate auch auf eine westliche Untergrundarmee zurückzuführen sind. Hierbei kam zutage, daß in Belgien eine „Stay-behind“-Einheit mit dem Namen „SDRA8“ aktiv war und dem militärischen Geheimdienst unterstand.20 Der Direktor des Geheimdienstes weigerte sich, dem Parlament zuzuarbeiten und die Namen der Beteiligten zu übergeben, trotz Freigabe des Verteidigungsministers. Eine Zuordnung der Einheit zu den Massakern ist bis heute also nicht abschließend möglich.

1990 gab ein Regierungsmitglied gegenüber dem Luxemburger Parlament zu, daß es seit 1959 auch in Luxemburg eine „Stay-behind“-Einheit gab, deren Koordination der NATO oblag.21 Die umgehende Auflösung wurde angeblich in die Wege geleitet und die noch lebenden Angehörigen über diesen Vorgang informiert. Angeblich habe ihre Aufgabe aber nur darin bestanden, im Falle eines sowjetischen Angriffs die Informationsübermittlung an die westlichen Verbündeten sicherzustellen. Im Rahmen eines Gerichtsprozesses 2013 traten aber andere Dinge ans Licht. Ein Zeuge berichtete unter Eid, daß ein damaliger hoher Militär, Ben Geiben, Initiator der luxemburgischen Spezialeinheit BMG, vor ihm geprahlt habe, für die Bombenanschläge der Jahre 1984 bis 1986 verantwortlich zu sein. Eine weitere eidesstattliche Aussage unterstützt die Vermutung, daß hier „Stay-behind“ im Einsatz gewesen sein könnten. Der umstrittene deutsche Historiker Andreas Kramer, ehemaliger Mitarbeiter der Deutschen Bundestagsverwaltung, verriet, was ihm sein Vater Johannes Karl Kramer anvertraut haben soll. Dieser war Hauptmann im Verteidigungsministerium und hochrangiger Agent des Bundesnachrichtendienstes (BND) – sein Deckname war „Cello“. Wie sein Sohn aussagte, soll er auch Operationsleiter von „Stay-behind“ gewesen sein und Einsätze in der Bundesrepublik Deutschland, in den Benelux-Staaten und der Schweiz koordiniert haben. Kramer habe die Aktionen mit dem späteren Chef des luxemburgischen Geheimdienstes abgestimmt. Laut Kramer sei Luxemburg der perfekte Ort für Terrorübungen gewesen, weil das Land zu jenem Zeitpunkt die Haager Konvention zum Verbot von Sprengfallen noch nicht unterzeichnet gehabt habe. Der ehemalige Geheimdienstchef Hoffmann gab seine Arbeit für „Stay-behind“ zu, widersprach aber der Darstellung, daß hierfür auch Polizisten und Militärs geworben worden seien. Ein luxemburgischer Soldat schildert dies aber anders und spricht von streng geheimen Spezialaufträgen, bei denen er US-Fallschirmspringer in zivilen Fahrzeugen transportiert habe. Ein Treffen in der Nähe eines Militärdepots sei damals mißlungen, die abzuholenden Soldaten waren nicht am Treffpunkt, dafür seien mehrere Streifenwagen mit Blaulicht und Sirene an ihm vorbeigefahren. Als er eine geheime Notfallnummer anrief, wurde er informiert, daß die Operation schiefgelaufen sei. Drei Jahre später kam es zu einem blutigen Angriff auf eine belgische Kaserne. Die Parallelen zu der vorherigen „Übung“ habe der ehemalige Soldat sofort erkannt. Warum sollten US-Soldaten geheime Übungen bei luxemburgischen Militäreinrichtungen unternehmen, ohne daß die luxemburgischen Behörden informiert worden waren? Und warum kann so eine Operation schiefgehen, wenn nicht illegale Aktivitäten geplant waren? Sollten es Übungen zum Entwenden von Waffen aus regulären Einrichtungen gewesen sein, so würde dieses Vorgehen tatsächlich zu den Ereignissen passen, die „Stay-behind“ unter anderem in Belgien zur Last gelegt werden.

Auch die Schweiz setzte eine Untersuchungskommission ein, deren Ergebnisse bis heute größtenteils der Geheimhaltung unterliegen. Fakt ist, daß eine Organisation namens P-26 geheime Waffenlager unterhielt und mit dem britischen MI6 kooperierte. Angehörige der P-26 wurden laut der Forschungen Daniele Gansers in England ausgebildet und verwendeten das Funksystem der Geheimarmeen. Oberstleutnant Alboth, ein ehemaliges Mitglied eines geheimen Armeestabsteils, bot der Kommission an, als Zeuge zu fungieren und die ganze Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Kurz vor seiner Aussage wurde er erstochen in seiner Wohnung aufgefunden. Die Behörden vermuten ein Beziehungsdelikt, der Mörder ist aber bis heute unbekannt. Die Schweiz hält den kompletten Bericht bis heute unter Verschluß, weil dieser nach Aussagen von offizieller Seite die guten Beziehungen zu anderen Ländern gefährden könnte!

In Österreich wurde mithilfe der CIA der Österreichische Wander-, Sport- und Geselligkeitsverein (OeWSGV) zu einer „Stay-behind“-Einheit ausgebaut. Sie genoß eine paramilitärische Ausbildung und wurde finanziell über Scheinfirmen unterstützt. Stück um Stück wurde diese Organisation aufgelöst, als sich der „Kalte Krieg“ entspannte.22 Unklar ist nach wie vor, ob die über 100 versteckten Waffendepots, die nach Veröffentlichung von US-Geheimdokumenten gefunden wurden, der Ausrüstung des OeWSGV dienen sollten. Fakt ist aber, daß der Verein Grundstücke zur Lagerung von Kriegsmaterial besaß, Tarnfirmen installierte und den Schutz des Innenministeriums genoß: Als bei der Erprobung neuer Funkgeräte, die im gesamten österreichischen Raum vergraben werden sollten, Sicherheitskräfte auf das Treiben des Vereins aufmerksam wurden, wurden die Geräte beschlagnahmt – und später sofort vom Innenministerium wieder herausgegeben, als dieses gewahr wurde, welchem Verein diese gehörten.23

In der Türkei wird die sogenannte „Counter-Guerilla“ dem Gladio-Netzwerk zugeordnet. Abdullah Çatli war eine der Hauptpersonen der Guerilla und bildete junge Türken für den Kampf gegen Linksradikale aus. Auch einige blutige verdeckte Aktionen, die schließlich in den Militärputsch von 1980 mündeten, werden ihm zugerechnet. Zusammen mit dem Papst-Attentäter Mehmet Ali Ağca ermordete Çatli 1979 den Çhefredakteur der bedeutenden türkischen Zeitung Abdi Ipekçi.24 Der Journalist hatte im Vorfeld die CIA aufgefordert, die vermutete Unterstützung für die rechten Gruppierungen einzustellen. 1996 starb Çatli bei einem Verkehrsunfall. Zu diesem Zeitpunkt wurde er offiziell von den türkischen Behörden und von Interpol gesucht. Ebenfalls bei dem Unfall verstarben eine ehemalige Schönheitskönigin und der stellvertretende Polizeichef von Istanbul. Der einzige Überlebende war der Abgeordnete der Regierungspartei Sedat Bucak. Im Unfallwagen fand man außerdem mehrere Handfeuerwaffen mit Schalldämpfern (!) und einen Reisepaß, der vom damaligen Innenminister persönlich unterschrieben war und den Gesuchten Çatli als Staatsbeamten auswies. Als der Minister die merkwürdige Situation damit zu erklären versuchte, daß Çatli erst kurz zuvor verhaftet worden sei, wurde er schnell der Lüge überführt und mußte zurücktreten. Das sich später offenbarende Geflecht bewies die Verknüpfung zwischen der hohen Politik, dem Militär, mehreren Geheimdiensten und dem organisierten Verbrechen.25

Wie bereits erwähnt, sollte der bundesdeutsche „Stay-behind“-Zweig bis zum April 1991 aufgelöst werden. Darüber hinaus gab es keine weiteren Verlautbarungen von politischer Seite, was für Ausmaße das deutsche Gladio annahm und welche tatsächlichen Verstrickungen vorlagen.

Erst 15 Jahre nach dem Auffliegen der Geheimarmee Gladio erfuhr der Interessierte mehr über die Geheimdienststruktur in der Bundesrepublik. Norbert Juretzko, ein ehemaliger Agent des Bundesnachrichtendienstes, veröffentlichte in seinem Buch „Bedingt dienstbereit“ Interna über den deutschen Arm der Geheimgruppierung. 1987 sei Juretzko zu Gladio gekommen; er weiß von einer „Mischung aus staatsgefährdenden Geheimdienst-, Militär- und Neonazimauscheleien“ zu berichten.26 Laut Juretzko war „stay-behind“ in der Bundesrepublik eine Unterabteilung des BND mit der Bezeichnung „12C“, der damals seinen Hauptsitz in Pullach bei München hatte. (Juretzko spricht zusätzlich aber auch von „Außenstellen“.27) Die Abteilung hatte einen Stab, Verbindungsführer und unter anderem einen Leiter „Operationen“.28 Als Juretzko in der Einheit aufgenommen wurde, gab es 104 Mitarbeiter und 26 hauptamtliche Führungspersonen – auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges sollen es bedeutend mehr gewesen sein.29 Die Aussagen des Insiders zur Organisation der „Stay-behind“-Gruppierungen sind äußerst aufschlußreich:

Die zentrale Koordination kam von einem ziemlich mysteriösen „Allied Clandestine Committee“ (ACC) mit Sitz im Nato-Hauptquartier unweit von Brüssel. Wir bildeten die unterste Ebene und sorgten dafür, daß unsere zivilen Helfer im Kriegsfall Zugriff auf Depots mit Waffen, Sprengstoff, Funkgeräten und Finanzen hatten und damit auch umgehen konnten. Unsere „Verdeckten Operationen“ waren äußerst heikel.30

Juretzko beschreibt eine Waffen- und Sprengstoffausbildung in Bayern auf einem riesigen Grundstück, das von „stay-behind“ genutzt wurde. Hier sei auch das Verfahren der Ablageorte (AO) und der Dauerverstecke (DV) thematisiert gewesen.31 Solche Verstecke spielten häufig eine Rolle, so auch im Umfeld des Oktoberfestanschlags.

Der Anschlag auf das Oktoberfest paßt von Ausführung, Wirkung und anschließender Ermittlungstätigkeit her haargenau zu den Verbrechen, die man den „Stay-behind“-Gruppierungen bisher nachweisen konnte, zeigt aber auch viele Parallelen zur NSU-Geschichte: Die Ermordung der vielen Unschuldigen wurde einem toten (!) Täter zugerechnet, dem Verbindungen zu einem politischen Rand unterstellt wurden, auf deren Grundlage Organisationsverbote durchgesetzt wurden. Spuren, die gegen die Einzeltäterschaft von Gundolf Köhler sprachen, wurden wohl nie verfolgt. Der Zeuge, der Köhler vor dem Ablegen der Bombe in dem Papierkorb mit zwei Männern in Parkas heftig diskutieren sah, wird von den Ermittlern demontiert und stirbt bald darauf – mit 38 Jahren – an Herzversagen.32 Mehrere andere Zeugen nahmen vor und nach der Tat Gespräche und Handlungen wahr, die ebenfalls gegen die Einzeltätertheorie sprechen. Eine damals 14jährige gibt sogar an, von einem Mann kurz vor der Explosion weggezogen worden zu sein, mit dem Hinweis, hier passiere gleich etwas Schlimmes. Ein Bombenleger, der im Rahmen von Gladio-Attentaten in Italien vernommen wurde, soll ebenfalls über das Oktoberfestattentat ausgesagt haben.33 Die deutschen Behörden soll dies alles aber nicht interessiert haben.

Daß der 21jährige Köhler kurz zuvor Geld für seinen Bausparvertrag eingezahlt und sich für den nächsten Tag mit einer Rockband verabredete hatte, spricht dagegen, daß er von seiner tödlichen Fracht wußte. Aber damit nicht genug: Der Journalist Ulrich Chaussy fand heraus, daß Köhler in der Zeit, in der er die professionelle Bombe gebastelt haben soll, eine Ferienreise unternahm und ansonsten einer bezahlten Ferientätigkeit nachging.34 Gleichfalls war er nicht der psychisch Auffällige ohne Perspektive, als den ihn die Ermittler hinstellen wollten.

Zwei Freunde Köhlers gaben bei Befragungen nach der Tat an, daß Heinz Lembke ihnen Waffen, Munition und Sprengstoff aus Waffendepots angeboten habe. Die Ermittlungsbehörden unternehmen aber nichts, trotz dieser heißen Spur. Lembke war Rechtsextremist mit vielfältigen Verstrickungen ins Milieu, darunter gewaltbereite Personen und Gruppen.

Erst ein Jahr später sieht sich die Staatsanwaltschaft gezwungen, gegen Lembke zu ermitteln, als Waldarbeiter am 26. Oktober 1981 auf eines seiner Depots stoßen.35 In Untersuchungshaft offenbart Lembke den Standort von 33 illegalen Waffen- und Sprengstoffverstecken mit einer ungeheuren Anzahl an Waffen, unter anderem 156 Kilogramm Sprengstoff und 258 Handgranaten.36 Lembke gab am 31. Oktober gegenüber dem Staatsanwalt an, am nächsten Tag die Hintergründe und Hintermänner seiner (für Gladio üblichen) Depots bei der Vernehmung benennen zu wollen. Am nächsten Tag, dem Tag der geplanten Vernehmung, wurde Lembke erhängt in seiner Zelle aufgefunden, die Ermittlungen kurz darauf eingestellt und der Tote wie auch Gundolf Köhler zu einem Einzeltäter und Selbstmörder erklärt.37 Der Gladio-Experte und Buchautor Daniele Ganser hält die Depots von der Ausrüstung und der Art der Anlage her für Waffenverstecke einer „Stay-behind“-Einheit.38 Das Buch Juretzkos läßt hinsichtlich der Aussagen über die Beschaffenheit der Depots ebenfalls darauf schließen, daß die Verstecke staatlicherseits angelegt wurden.39 Die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen läßt vermuten, daß ein Vergleich zwischen dem Sprengstoff Lembkes und dem beim Attentat verwendeten Sprengstoff nie erfolgte. Die Bundesregierung gibt an, daß keine Verbindungen zu Lembke aufgedeckt worden seien, daß nur eine begrenzte Sichtung der Akten möglich gewesen sei, der gesichtete Teil keinen Rückschluß auf die Herkunft des Sprengstoffs zulasse und daß man nachrichtendienstliche Fragen nur in den entsprechenden Gremien erläutern werde.40

Die letzte Aushebung großer illegaler (vermutlich halbstaatlicher) Waffendepots erfolgte übrigens 2009 in Österreich, Thüringen und Bayern. Der Mann, bei dem die Lagepläne gefunden wurden, wohnte ganz in der Nähe der sogenannten „Zwickauer Terrorzelle“, und zwar nur 40 Kilometer entfernt. Einer seiner Sprengsätze soll ganz erhebliche Ähnlichkeit mit der selbstgebauten Bombe gehabt haben, die beim Anschlag in Köln verwandt wurde.41

Zurück zum Oktoberfestattentat: Tobias von Heymann nimmt in seinem Buch „Die Oktoberfestbombe“ Bezug auf Unterlagen des MfS (Ministerium für Staatssicherheit), die besagen, daß 22 Stunden vor dem Attentat mehrere Landesämter für Verfassungsschutz in München mit der „Aktion Wandervogel“ begannen, die gegen die „Wehrsportgruppe Hoffmann“ (die vermeintlichen Drahtzieher) gerichtet war. Heymann bezieht sich auch auf die angebliche Selbstbezichtigung eines V-Mannes innerhalb der Wehrsportgruppe, der gesagt haben soll, er sei am Anschlag beteiligt gewesen.42 Ein Prozeß in Luxemburg brachte die Verstrickung des BND bei den Geschehnissen tatsächlich zum Teil ans Licht der Öffentlichkeit – viele Jahre nach der Vernichtung der Verwahrstücke.

Juretzko gibt in seinem Buch an, daß das Ministerium für Staatssicherheit der DDR oftmals einen Schritt weiter war als bundesdeutsche Geheimdienste und daß sogar die geheime Zentrale der „Stay-behind“-Gruppe des BND in München rund um die Uhr von der „Stasi“ überwacht wurde, was der Bundesnachrichtendienst erst nach dem Mauerfall erfuhr.43 Tobias von Heymann berichtet:

Für die Stasi hat sich nie die Frage gestellt, war Gundolf Köhler Einzeltäter, ja oder nein […]. Für die Stasi war von Anfang an klar, Gundolf Köhler hat diesen Anschlag verübt, zusammen mit anderen, im Rahmen eines internationalen Terrornetzwerkes.44

Interessant ist ebenso, daß die „Stasi“ Funksprüche aus der BND-Zentrale mithörte, die einer „Stay-behind“-Gruppe 27 auferlegte, Waffenverstecke anzulegen. Die „Gruppe 27“ war in der Lüneburger Heide aktiv; dort, wo die Depots Heinz Lembkes gefunden wurden. Ziel der oben erwähnten Operation war die „Wehrsportgruppe Hoffmann“ (WSG Hoffmann), zu deren Umfeld Gundolf Köhler gerechnet wurde. Wenn die Behörden also vorher schon von Anschlagsplänen wußten, stellt sich die Frage, warum sie Köhler nicht aufhielten. Außerdem spräche dies gegen die Einzeltätertheorie. Glaubhafter ist eine geheimdienstliche Verstrickung. Schließlich sprechen keine später getätigten Ermittlungen nach dem Attentat von früheren Hinweisen auf einen Anschlag. Falls es wirklich Beziehungen zu den Gladio-Attentaten in Italien gab, bei denen linke Strukturen verantwortlich gemacht werden sollten, dann beweisen die Schuldzuweisungen an vermeintlich rechtsextreme Drahtzieher beim Oktoberfestanschlag, daß die entsprechenden staatlichen Stellen eben nicht nur mit verkappten Rechtsradikalen durchsetzt sind. Auch wenn der Bürger sich für mündig und aufgeklärt hält, wenn er den Mitarbeitern der Verfassungsschutzämter eine „Sympathie für rechtes Gedankengut“ unterstellt, ist er den verborgenen Machtkomplexen trotzdem auf den Leim gegangen. Gladio, der Oktoberfestanschlag, die dritte Generation der RAF (siehe S. 28) und der angebliche NSU belegen vielmehr, daß es sich bei den agierenden (halb)staatlichen Gruppierungen um Strukturen handelt, die das Prinzip der Spannung frei von jeglichem ideologischem Extrem aufrechterhalten wollen – zuungunsten jedes brauchbaren politischen Gegners.

Diese Vermutungen wurden 2013 durch die eidesstattliche Aussage des bereits erwähnten Historikers Andreas Kramer gestützt, der nach dem Tod seines Vaters Johannes Karl Kramer über dessen „berufliche“ Machenschaften im Dienste des Bundesnachrichtendienstes aussagte. Seiner (fragwürdigen) Aussage nach – vor einem Gericht und unter Eid – habe der Gladio-Bereich des BND versucht, Karl-Heinz Hoffmann zu instrumentalisieren/anzuwerben; dieser habe aber immer jegliche Zusammenarbeit abgelehnt. Man habe sich deswegen an jüngere Mitglieder gewandt und diese manipuliert. Der Anschlag ginge auf das Konto des Bundesnachrichtendienstes, die Bombe selbst stamme von Johannes Karl Kramer. Eine gewisse Plausibilität bekommt die Geschichte durch den ehemaligen Agenten Juretzko, der seine „Stay-behind“-Ausbildung von einem kurz vor der Pensionierung stehenden Mann namens „Cello“ erhalten haben will.45 Kramer berichtet vor einem Luxemburger Gericht unabhängig davon, daß sein Vater unter dem Decknamen „Cello“ agiert habe.46 Der Prozeß bewirkte immerhin eine weitere offizielle Stellungnahme der bundesdeutschen Regierung. Kanzleramtschef Pofalla räumte ein, daß der deutsche Geheimdienst an sechs Operationen oder Übungen der Geheimarmee Gladio teilnahm. Die politische Führung war aber nicht bereit, Konkretes offenzulegen:

Das Informationsinteresse des Parlaments tritt nach konkreter Abwägung der betroffenen Belange hinter die berechtigten Geheimhaltungsinteressen zurück.47

Der BND habe sich Mühe gegeben, den Aufbau des Sprengsatzes primitiv aussehen zu lassen, weiß der jüngere Kramer, von seiner eigenen Familie als Lügner bezeichnet, im Prozeß zu berichten. Bedient habe man sich aus den Depots, die im Auftrage von „Stay-behind“ zum Beispiel in der Lüneburger Heide angelegt wurden. Lembke, der Forstwirt, der sich kurz vor seiner Aussage erhängte, sei ebenfalls von Kramer angeworben worden. Er sollte die Erdverstecke im Wald in regelmäßigen Abständen kontrollieren, damit keine Feuchtigkeit eindränge. Der Forstwirt wurde angeworben, da er von seinem beruflichen Hintergrund her weniger Verdacht erregen würde. Es ist davon auszugehen, daß er im Auftrag von Gladio Wehrsportgruppenmitgliedern Waffen anbot, um die WSG Hoffmann zu radikalisieren und zu kriminalisieren. Das erklärt, warum das direkte Umfeld des vermeintlichen Attentäters Gundolf Köhler angesprochen wurde. Andreas Kramer gab bei seiner Aussage an, zu vermuten, daß „Stay-behind“-Agenten (im Regelfall Beamte mit Zugang auch in Gefängnisse etc.) Heinz Lembke vor seiner geplanten Aussage in seiner Zelle aufsuchten und ihm den Selbstmord nahelegten – oder einen Selbstmord vortäuschten.48

Die Widersprüche, die im Zusammenhang mit der dritten Generation der RAF zutage getreten sind, würden hier zu weit führen. An dieser Stelle sei das umstrittene Buch „Das RAF-Phantom“49 erwähnt, das nichtsdestoweniger Ideengeber für den Titel des vorliegenden Werkes war. Die Parallelen zur NSU-Geschichte sind aber so gravierend, daß man nicht umhinkommt, einige Aspekte näher zu erläutern.

Hervorzuheben ist, daß die Opfer dieser angeblich linksextremen Terrorgruppe überhaupt nicht ins linke Feindbild passen oder deren Ermordung einen politischen Vorteil für die linke Weltanschauung gebracht hätten – so wie die Ermordung von ausländischen Kleingewerbetreibenden durch den NSU. Alfred Herrhausen, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, forderte einen Schuldenerlaß für die Dritte Welt,50 Detlev Karsten Rohwedder, Vorsitzender der Treuhandanstalt, forderte eine vorsichtige Reorganisation der ehemaligen Volkseigenen Betriebe der DDR, befürwortete teilweise sogar ihre Verstaatlichung. Aus welchem Grund sollten sie Feinde von Linksextremen sein? Nach der Ermordung Herrhausens und Rohwedders wurden sie durch – man möchte fast sagen – konformere Personen ersetzt.

Analog zum NSU-Komplex und abweichend zu den vorherigen RAF-Attentaten gibt es einige Auffälligkeiten: Die erste und die zweite Generation der RAF hinterließen bei ihren Überfällen und Attentaten stets Spuren und konnten nie über einen längeren Zeitraum unentdeckt bleiben. Nach wenigen Wochen konnten die Mitglieder in der Regel festgenommen werden oder die Behörden wußten, wo sich diese aufhielten. Bei den Prozessen konnte den RAF-Mitgliedern aufgrund erkennungsdienstlicher Mittel eine Täterschaft nachgewiesen werden. Die dritte Generation hingegen hinterließ nie verwertbare Spuren und das trotz der weit verbesserten Technik der ermittelnden Stellen. Auch dem angeblichen NSU kann man bis heute keine Tat aufgrund unwiderlegbarer Beweise zuordnen. Es bleiben nur Indizien, die staatlicherseits so gedeutet werden, daß es sich bei den Tätern um Böhnhardt und Mundlos gehandelt haben könnte. Die Morde der – so die These – staatlich instrumentalisierten RAF-Bande wiesen eine Professionalität auf, die es zumindest zweifelhaft macht, daß die Täterschaft allein bei den verdächtigten Personen aus der linken Szene zu suchen ist. Auch den Morden, die heute dem NSU angelastet werden, wurde eine hohe Professionalität bescheinigt; verzweifelte Ermittler sprachen vom „perfekten Mord“. Bei der dritten RAF-Generation mußten für die Tatzuweisung Bekennerschreiben herhalten, deren Urheberschaft unklar ist und die von beliebigen Personen hätten erstellt worden sein können – so wie die Paulchen-Panther-DVD der „Zwickauer Terrorzelle“.

Die Autoren des „RAF-Phantom“ wundern sich, warum die Authentizität der Bekenntnisse von den Behörden stets bekundet worden war, obwohl keine kriminaltechnischen Untersuchungen den Beweis hierfür erbracht hatten. Die einzigen Personen, denen man bis heute vorwirft, sie hätten der dritten Generation angehört, waren Birgit Hogefeld, Wolfgang Grams und Horst Ludwig Meyer. Hogefeld bestritt ihre Beteiligung an den Morden und wurde aufgrund fragwürdiger Indizien verurteilt. Grams und Meyer wurden erschossen, als sie sich mit Waffengewalt ihrer Verhaftung widersetzten. Gewisse Parallelen zu Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos sind nicht zu leugnen …

Die Beweismittel zum Oktoberfestanschlag sind mittlerweile vernichtet worden, darunter viele, die den Zweifel an der offiziellen Variante nähren würden. Mehrere Initiativen, um die Ermittlungen wieder aufzunehmen, wurden abgeblockt; noch immer aber wird von verschiedenen Seiten eine Wiederaufnahme gefordert.51

Juretzko, der Gladio-„Insider“, berichtete in seinem Buch, daß er 1992 und 1993 seine alten „Stay-behind“-Quellen nach einem Auftrag wieder reaktivierte. Juretzko wechselte schließlich zu einer gemeinsamen Dienstelle von BND und DIA. Der US-Nachrichtendienst DIA spielt bei dem Polizistenmord in Heilbronn, der dem NSU mittlerweile zugeschrieben wird, wieder eine Rolle. Juretzko wurde erklärt, die Amerikaner seien jetzt für die „operativen Einsätze verantwortlich“.52

Auch in bezug auf die „Dönermorde“ ist (wie auch bei dem Oktoberfestanschlag) seit dem 4. November 2011 die Ermittlungsrichtung strikt vorgegeben und die Bundesanwaltschaft wetteifert mit den Journalisten darum, auf alten Rechtsprinzipien wie der Unschuldsvermutung herumzutrampeln. Aber auch die Querdenker, die Skeptiker und die, die dem Staat sowieso keinen Fußbreit trauen, werden versorgt und bekommen eine Erzählung vorgesetzt über den rassistischen Verfassungsschutz und die intolerante Polizei, die Ermittlungen über Jahre hinweg boykottiert hätten. Damit können vielleicht die Widerstandsgelüste einiger besonders kritischer Zeitgenossen gestillt werden– der Wahrheit kommt man trotzdem nicht näher. Und was hat die Kritik bewirkt? Der Verfolgungsdruck auf einen ohnehin am Boden liegenden politischen Gegner wird bis zur Absurdität erhöht, staatliche Organe erhalten eine straffere Zentralisierung und mehr Befugnisse – nicht nur gegen Rechtsradikale, sondern im Zweifelsfall gegen uns alle. Denn schließlich ist das ja das Ziel der inneren Spannung: Ablenkung, Verunsicherung und Ausbau der Machtpositionen.

1 Ganser, Daniele: „Nato-Geheimarmeen und ihr Terror“, in: Der Bund, 20. 12. 2004, siehe http://php.isn.ethz.ch/news/mediadesk/documents/bund_20_12_2004.pdf; letzter Aufruf: 4. 11. 2013.

2 Entschließung des Europäischen Parlaments zur NATO-/CIA-Organisation Gladio; Amtsblatt der Europäischen Union Nr. C324/201, Seiten 201/202, veröffentlicht am 24. Dezember 1990.

3 http://de.wikipedia.org/wiki/Gladio; letzter Aufruf: 3. 11. 2013.

4 Norbert Juretzko, Wilhelm Dietl: Bedingt dienstbereit, Berlin 2004.

5 http://de.wikipedia.org/wiki/Gladio; letzter Aufruf: 3. 11. 2013.

6 Gunther Latsch: Die dunkle Seite des Westens. In: Der Spiegel, Nr. 15, 11. 4. 2005, S. 48-50.

7 Gunther Latsch: Die dunkle Seite des Westens. In: Der Spiegel. Nr. 15, 11. 4. 2005, S. 48-50.

8 Hans-Jürgen Lange (Hrsg.): Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Deutschland, Opladen 2000.

9 Ed Vulliamy, in: The Guardian, 5. 12. 1990, S. 12.

10 http://www.heise.de/tp/artikel/28/28766/1.html; Interview mit Daniele Ganser.

11 Gunther Latsch: Die dunkle Seite des Westens. In: Der Spiegel. Nr. 15, 11. 4. 2005, S. 48-50.

12 Daniele Ganser: NATO’s Secret Armies: Operation Gladio and Terrorism in Western Europe: An Approach to NATO’s Secret Stay-Behind Armies. Cass, London 2005, S. 195.

13 http://de.wikipedia.org/wiki/Gladio; letzter Aufruf: 3. 11. 2013.

14 http://de.wikipedia.org/wiki/Felice_Casson; letzter Aufruf: 3. 11. 2013.

15 http://de.wikipedia.org/wiki/Gladio; letzter Aufruf: 3. 11. 2013.

16 US-Außenministerium: Misinformation about „Gladio/Stay-behind“ Networks Resurfaces, 20. 1. 2006; http://iipdigital.usembassy.gov/st/english/texttrans/2006/01/20060120111344atlahtnevel0.3114282.html; letzter Aufruf: 4. 11. 2013.

17 http://de.wikipedia.org/wiki/Gladio; letzter Aufruf: 3. 11. 2013.

18 Gerhard Feldbauer: Von Mussolini bis Fini – Die extreme Rechte in Italien, Berlin 1996; S. 120 ff.

19 http://de.wikipedia.org/wiki/Bande_von_Nijvel; letzter Aufruf: 3. 11. 2013.

20 Daniele Ganser: Terrorism in Western Europe: An Approach to NATO’s Secret Stay-Behind Armies. In: The Whitehead Journal of Diplomacy and International Relations, South Orange NJ, 2005, Vol. 6, 1, S. 85.

21 http://www.wort.lu/de/view/„Stay-behind“-kalter-krieg-oder-kalter-kaffee-4f6f2243e4b01a5276117ae1; letzter Aufruf: 4. 11. 2013.

22 http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichischer_Wander-,_Sport-_und_Geselligkeitsverein; letzter Aufruf: 9. 11. 2013.

23 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45794053.html; letzter Aufruf: 5. 6. 2014.

24 http://de.wikipedia.org/wiki/Gladio; letzter Aufruf: 9. 11. 2013.

25 http://www.welt.de/welt_print/article2382453/Ein-sicherer-Hafen-fuer-dietuerkischen-Schmuggler.html; 2. 9. 2008.

26 Juretzko, S. 130.

27 Juretzko, S. 76.

28 Juretzko, S. 90.

29 Juretzko, S. 91.

30 Juretzko, S. 92.

31 Juretzko, S. 94.

32 http://www.focus.de/politik/deutschland/tid-19865/wiesn-attentat-mysterioesetodesfaelle-und-vernichtete-beweise_aid_552848.html; letzter Aufruf: 8. 11. 2013.

33 Interview mit Hans-Christian Ströbele (MdB), http://www.heise.de/tp/artikel/37/37061/1.html; Aufruf: 4. 11. 2013.

34 Ulrich Chaussy: Oktoberfest. Ein Attentat; Darmstadt/Neuwied 1985.

35 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-39997525.html; 11. 4. 2005.

36 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-39997525.html; 11. 4. 2005.

37 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-39997525.html; 11. 4. 2005.

38 Vgl. http://www.hintergrund.de/201009141128/politik/inland/waren-geheimdienstein-das-oktoberfest-attentat-involviert.html

39 Juretzko, S. 105 f.

40 http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/16/135/1613527.pdf; Aufruf: 9. 11. 2013.

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