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Stefan Luft

DIE FLÜCHTLINGSKRISE

Ursachen, Konflikte, Folgen

Verlag C.H.Beck


Zum Buch

Schwere humanitäre Krisen und die Kluft zwischen Arm und Reich haben 2015 weit über eine Million Menschen den Weg nach Europa suchen lassen. Was wissen wir über die Ursachen der aktuellen Wanderungsbewegungen, die Rolle von Schleusern und die Wahl der Zielstaaten? Kann die Politik Migration steuern und gleichzeitig die Normen des internationalen Flüchtlingsschutzes einhalten? Was muss getan werden, damit sich diejenigen, die dauerhaft bleiben werden, integrieren? Stefan Luft erklärt Ursachen, Lösungswege und Handlungsoptionen.

Über den Autor

Stefan Luft lehrt Politikwissenschaft an der Universität Bremen. Schwerpunkt seiner Forschungen sind Fragen der Migration und Integration. Er war Sachverständiger verschiedener Enquetekommissionen der Länder zu dem Thema und von 1995 bis 1999 Sprecher des Bremer Innensenators.

Inhalt

Vorwort

1. Migration und Flucht im 21. Jahrhundert

Migration und Flucht weltweit

Motive und Migrationsströme

Flucht nach Europa und nach Deutschland

Herkunftsregionen, Herkunftsländer, Wanderungsursachen

Syrien  

Afghanistan

Irak

Afrikanische Staaten

Ukraine

Westbalkan-Staaten  

Fluchtrouten nach Europa

Schleuserorganisationen

Wohin in Europa? Die Auswahl von Zielstaaten

2. Migrationspolitik und Grenzregime der EU

Europäisierung der Asylpolitik

Grenzregime

«Intelligente Grenzen»

Visa-Politik

Exterritorialisierung

Scheitern des Dublin-Verfahrens

Lastenteilung und Solidarität

3. Die Steuerbarkeit von Zuwanderung und Asylmigration

Akteure

Rechtsgrundlagen

Verfahren – Dauer und Beschleunigung

Vollzugsdefizite

4. Bedingungen gelingender Integration

Integrationsprozesse

Rolle der Religion

Die Bedeutung der Kettenwanderung

Soziale und ethnische Mischung

Staatliches Handeln

Perspektiven

Nachwort zur 2. Auflage

Abkürzungsverzeichnis

Literaturhinweise

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Register

Meiner Frau und unseren Töchtern

Mögen sie dazu beitragen, die Welt von morgen friedlicher zu machen.

Vorwort

Im Jahr 2015 ist die globale Fluchtmigration ein weiteres Mal stark angestiegen. Das berichtete der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen im Juni 2016. Die humanitären Katastrophen in Syrien, Afghanistan, Somalia, Eritrea und zahlreichen weiteren Ländern sind inzwischen auch in den deutschen Medien an vorderster Stelle präsent, denn die Flüchtlingsbewegungen beschränken sich nicht mehr vorwiegend auf die Herkunftsregionen. Immer mehr Flüchtlinge halten die eigene Situation für derart unerträglich, dass sie die erheblichen Risiken des Weges zu den Wohlstandszonen Europas auf sich nehmen. Deutschland ist dabei eines der wichtigsten Zielländer. Neben den Abstoßungsfaktoren in den Herkunftsregionen der Flüchtlinge wirkt als Anziehungskraft der Ruf Deutschlands als Exportweltmeister, als politisch stabiler Hort der Sicherheit und als Land mit hohen sozialen Standards. Die öffentlichen Debatten der zurückliegenden Jahre sind stets wahrgenommen, die Berichte erfolgreicher Migranten registriert worden. Zum Wanderungswillen gehören aber stets auch Realisierungsmöglichkeiten: der Zerfall von Pufferstaaten wie Libyen, der Zusammenbruch des Dublin-Systems und die Öffnung Deutschlands im September 2015 für einen unkontrollierten Zuzug sowie die politischen Äußerungen, dies weiterhin hinzunehmen – all das trägt zu den vermehrten Wanderungsbewegungen bei. Europa als «Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts» muss sich im Umgang damit an seinen eigenen Maßstäben messen lassen.

Das vorliegende Buch soll einen Überblick über die «Flüchtlingskrise» und die Fluchtbewegungen nach Europa, ihre Ursachen und Konsequenzen geben. Nicht nur die Zahlen entwickeln sich mit großer Dynamik – auch die politischen Reaktionen bestimmen weiterhin die Nachrichten aller Medien. Diese Darstellung wurde für die zweite Auflage aktualisiert.

1. Migration und Flucht im 21. Jahrhundert

«Krise» ist seit dem 19. Jahrhundert ein vieldeutiges Schlagwort. Krise sei, so Reinhart Koselleck in seinen «Historischen Grundbegriffen», zur «strukturellen Signatur der Neuzeit» geworden. Die Diagnose einer Krise kann Ausdruck einer Deutung politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Entwicklungen sein, die als Resultat oder Vorboten größerer Umwälzungen gesehen werden. Unsicherheit und Instabilität kennzeichnen Zeiten der Krise. Krise kann sowohl eine einmalige Zuspitzung, einen Wendepunkt, eine Situation der Entscheidung und Veränderung beschreiben als auch einen chronischen Zustand. Krisen kommen und gehen, lösen einander ab, gehen ineinander über. Klingt die eine Krise ab, werden die Vorboten der nächsten Krise ausgemacht. Krise ist zum Schlagwort geworden: Demokratie, Parteien, Politik, Regierungen, Euro, Wirtschaft – für alle wurden in den vergangenen Jahren Krisen ausgerufen, wobei für die Wirtschafts- und Finanzkrisen noch die objektivierbarsten Indikatoren vorliegen. Ob eine politische Konstellation als Krise verstanden wird, hängt von den Interpretationen und Interessen der beteiligten Akteure ab. «Krise!» kann auch als politischer Kampfbegriff verwendet werden, der Handlungsdruck erzeugen und die Durchsetzung politischer Ziele erleichtern soll. Regierungen von Aufnahmestaaten können angesichts von Flüchtlingsbewegungen bewusst krisenhafte Zuspitzungen herbeiführen, indem sie sich weigern, rechtzeitig Vorsorge für Schutz und Unterbringung zu treffen. Potentielle Abgabeländer setzen ihr Wanderungspotential auch als Druckmittel ein: So wurden in den 1990er Jahren Szenarien erheblicher Zuwanderungsgrößen von Regierungen potentieller Herkunftsländer gezielt eingesetzt, um westliche Länder zu Zugeständnissen und vor allem zu wirtschaftlicher Unterstützung zu veranlassen.

Entwicklungen, die als Flüchtlingskrisen verstanden wurden, hat es in Europa nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs mehrfach gegeben: die Wanderungsbewegungen Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre, die dazu beigetragen haben, den Zugang zu Asyl stark einzuschränken, sowie die Fluchtbewegungen als Reaktion auf den Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren aus Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo-Krieg. Mit den gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen verbindet sich mehr. Die Anschläge in zahlreichen europäischen Ländern, die Bilder aus dem Nahen und Mittleren Osten von Kriegswirren, terroristischer Gewalt und dem Exodus von Millionen lassen Ahnungen und Ängste entstehen. Auch die europäischen Kernstaaten, die auf eine historisch einmalige Phase des Friedens und der Prosperität zurückblicken, werden nicht länger von den Folgen der Verheerungen in zahlreichen afrikanischen Staaten, im Nahen und Mittleren Osten, unbehelligt bleiben. Die europäische Peripherie wirkt nicht länger geeignet, eine Pufferfunktion zwischen den Herkunftsregionen und den Zielstaaten wahrzunehmen. Flüchtlingsbewegungen wie die der Jahre 2014 und vor allem 2015 hat es in diesem Ausmaß seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Hinzu kommt: Die Flüchtenden kommen aus weit entfernten Weltgegenden, und was sie im Gepäck haben, sind zunächst die Erfahrungen entgrenzter, in Teilen religiös legitimierter Gewalt. Was das bedeutet, weiß niemand. Krisen drängen zu Entscheidungen. Sie sind im beginnenden 21. Jahrhundert allerdings in der Europäischen Union im Kollektiv der Mitgliedstaaten zu treffen. Deren Interessen sind selten gleichgerichtet, im Fall der Flüchtlingspolitik spielen nationale Identitätspolitiken eine wichtige Rolle. Identitätskonflikte werden meist unnachsichtig ausgefochten, so dass Kompromisse schwerer zu erreichen sein werden als auf anderen Gebieten. «Krisenmanager» der besonders betroffenen Mitgliedstaaten müssen die zahlreichen innerstaatlichen Akteure zu pragmatischem Improvisieren und zu Reformen motivieren, und sie müssen darüber hinaus die europäischen und internationalen Akteure von den Handlungsnotwendigkeiten, die sie sehen, überzeugen.

Wenn von «Flüchtlingskrise» die Rede ist, muss zuallererst die Krise der Flüchtlinge selbst in den Blick genommen werden. Bei vielen von ihnen hatte sich die Lage derart zugespitzt, dass sie sich zu einer Entscheidung gezwungen sahen: das Wagnis der Flucht (oder einer weiteren Flucht im Fall von Menschen in den Erstaufnahmestaaten) auf sich zu nehmen. Die Fluchtursachen sind in erster Linie in einer Krise der Herkunftsländer zu suchen, in denen sich langandauernde humanitäre Krisen zuspitzen und verdichten, so dass die Abstoßungsfaktoren immer stärker werden. Schutz finden die Flüchtlinge in erster Linie in benachbarten Ländern, die meist zu den wirtschaftlich schwächsten weltweit gehören. Soziale und politische Spannungen können in diesen Ländern ebenfalls krisenhafte Entwicklungen auslösen oder verstärken. Werden die Erstaufnahmestaaten nicht adäquat unterstützt, werden sie sich ihrer Aufgabe zunehmend verweigern – und die Flüchtlinge das Weite suchen. Krisenverstärkend können sich Flüchtlingsbewegungen für Transitstaaten auswirken, die nicht über die nötige Infrastruktur verfügen, um Hunderttausenden, die in kurzer Frist das Land betreten (in Griechenland rund 911.000 Personen im Jahr 2015), Schutz, Versorgung und Unterkunft zu gewähren. Auch in den Zielländern von Flüchtlingen kann die Situation als krisenhaft erlebt und gedeutet werden: wenn etwa die Aufnahmekapazitäten überfordert oder Überfremdungsängste geschürt werden, die rechte und rechtsradikale Parteien erstarken lassen und damit die innenpolitischen Spannungen erhöhen.

Migration und Flucht weltweit

Über 90 Prozent der Weltbevölkerung bleiben sesshaft und wandern nicht. 2013 schätzten die Vereinten Nationen die Zahl der internationalen Migranten weltweit auf 232 Millionen Menschen, das entspricht 3,2 Prozent der Weltbevölkerung. Grundlage hierfür sind die Angaben für jene Teile der Bevölkerung, die im Ausland geboren sind, oder – wenn diese Daten nicht zur Verfügung stehen – der Anteil der ausländischen Bevölkerung. Einschließlich der rund 40 Millionen Binnenflüchtlinge, also jener, die innerhalb ihrer Länder Schutz suchen, sind insgesamt rund vier Prozent der Weltbevölkerung auf der Flucht. Die jährliche Zunahme lag zwischen 2000 und 2010 bei 2,3 Prozent, fiel dann aber auf 1,6 Prozent. Weit darunter liegen die Schätzungen zu den Migrationsbewegungen, also zur Gruppe derjenigen, die tatsächlich innerhalb eines bestimmten Zeitraums über internationale Grenzen gewandert sind. Ihre Größenordnung liegt zwischen 2005 und 2010 bei 41,5 Millionen, was 0,6 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Trotz stark zunehmender Wanderungsgelegenheiten und der Durchdringung der Welt mit «westlichen» Werten, Lebensstilen und Bildern des Wohlstands ist die Zahl der Migranten in den vergangenen Jahrzehnten nur langsam gestiegen. Migration ist also bei weitem nicht der «Normalfall», sondern die Ausnahme.

Rund 40 Prozent der Migranten weltweit bewegen sich vom «armen» Süden in den «reichen» Norden. Etwa ein Drittel bewegt sich innerhalb des Südens und rund 20 Prozent innerhalb des Nordens. Afrikanische Migranten bewegen sich mehrheitlich innerhalb des Kontinents (innerhalb Westafrikas beschränken sich 70 Prozent der Wanderungen auf die Region). Migranten aus Süd-Asien und Süd-Ost-Asien wandern vorwiegend nach West-Asien und Nordamerika. Zu den Zielländern von Lateinamerikanern gehören Nordamerika und Staaten Südeuropas. Wanderungen nach Europa haben ihre Ausgangspunkte in nahezu allen Weltregionen.

Weltweit werden die Flüchtlingszahlen vom Hochkommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR), Regierungen und Nichtregierungsorganisationen erhoben. Für Angaben zu 63 Ländern ist der UNHCR die einzige Quelle, in 61 Ländern werden die Daten nur von staatlichen Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Die Aussagekraft von Daten zum weltweiten Flüchtlingsaufkommen ist daher zwangsläufig eingeschränkt. So beziehen sich die Angaben des UNHCR lediglich auf Flüchtlinge, die unter sein Mandat fallen (es zählen unter anderem weder die palästinensischen Flüchtlinge noch sämtliche Binnenflüchtlinge dazu). Die Zahlen zum Flüchtlingsaufkommen beruhen in der Regel auf Registrierungen, Zensusdaten und anderen Erhebungen sowie Schätzungen. Letztere gelten vor allem für unvorhergesehene Notsituationen und für Länder mit hohem Flüchtlingsaufkommen, die nicht über entsprechende Behörden und Kapazitäten zur Erhebung von Daten verfügen (wie in den großen Flüchtlingslagern Jordaniens oder des Libanon). Diese Unsicherheiten, die nur die Einschätzung von Größenordnungen ermöglichen, beschränken sich aber nicht allein auf Entwicklungsländer.

Erhebliche Abweichungen (bis zu einem Drittel) zwischen den offiziell gemeldeten Zahlen und den tatsächlich gestellten und bearbeiteten Asylanträgen sind auch für die 26 Schengen-Staaten, die 28 Mitgliedstaaten der EU und die 32 Staaten, die dem Dublin-Verfahren angeschlossen sind, festzustellen. Doppelzählungen (etwa Asylbewerber, die nach dem Dublin-Verfahren überstellt werden oder irreguläre Migranten, die zweimal nacheinander EU-Außengrenzen überqueren), unterschiedliche Erhebungs- und Zählverfahren gehören ebenso zu den Gründen wie Unterscheidungen zwischen Asylantragstellern, Asylanträgen und Asylverfahren. Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass die EU-Mitgliedstaaten mit Außengrenzen – zumindest zeitlich befristet – mehr Flüchtlinge aufnehmen als aus den Statistiken zu den Asylanträgen hervorgeht (weil sie die Erstregistrierung, zu der sie nach dem Dublin-Verfahren verpflichtet wären, nicht durchführen). Die Zahl der Asylbewerber dürfte auch in den Hauptzielländern größer sein als von den Statistiken angegeben, da den Rückübernahmegesuchen in Dublin-Verfahren nur zu einem geringen Teil Abschiebungen entsprechen. Auch für die Bundesrepublik Deutschland können für 2015 keine verlässlichen Zahlen genannt werden, weil spätestens seit August 2015 ein großer Teil der einreisenden Flüchtlinge erst zeitverzögert registriert wurde. Die Bundesregierung hat im November 2015 eingeräumt, sie wisse nicht, wie viele Flüchtlinge sich in Deutschland aufhalten.

Die Zunahme der weltweiten Flüchtlingsbevölkerung beschleunigt sich seit 2011 jährlich. Wurden 2011 vom UNHCR 42,5 Millionen Flüchtlinge registriert, waren es 2014 bereits 59,5 Millionen. Dieses starke Wachstum hat sich auch 2015 fortgesetzt: auf 65,3 Millionen Flüchtlinge. Mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit (54 %) kamen 2015 aus drei Staaten: Syrien (4,9 Mio.), Afghanistan (2,7 Mio.) und Somalia (1,1 Mio.). Der größte Teil aller Flüchtlinge (40,8 Mio.) sucht Schutz innerhalb ihrer Länder – als Binnenflüchtlinge stellen sie seit Jahrzehnten die absolute Mehrheit der globalen Flüchtlingsbevölkerung. Zu den Staaten mit den meisten Binnenflüchtlingen gehören Kolumbien (6,9 Mio.), Syrien (6,6 Mio.), Irak (4,4 Mio.) und Sudan (3,2 Mio.).

Das bedeutet: Im Jahr 2015 sind durchschnittlich pro Tag 34.500 Menschen zu Flüchtlingen geworden. Insgesamt wurden 8,6 Millionen neue Binnenflüchtlinge und 3,8 Millionen internationale Flüchtlinge und Asylbewerber zusätzlich registriert. Mehr als die Hälfte der neuen Binnenflüchtlinge im Jahr 2015 sind das Ergebnis der Krisen im Jemen, in Syrien und im Irak. Die meisten neuen Fluchtbewegungen innerhalb eines Landes gab es 2015 im Jemen – 2,5 Millionen Menschen sind dort Binnenvertriebene, das entspricht neun Prozent der Bevölkerung. Neue oder wieder aufgeflammte Konflikte in Burundi, Irak, Libyen, Niger und Nigeria zwangen Menschen zur Flucht ebenso wie bereits länger andauernde Krisen in der Zentralafrikanischen Republik, der Demokratischen Republik Kongo und dem Südsudan. Zum ersten Mal tauchte 2014 in der Berichterstattung die Ukraine mit mindestens 647.000 (2015: 800.000) intern Vertriebenen auf.

Von den internationalen Flüchtlingen, also jenen, die sich gezwungen sehen, den Herkunftsstaat zu verlassen (21,3 Mio.), verbleibt der überwiegende Teil in den Anrainerstaaten. Die meisten Flüchtlingskrisen werden also regional aufgefangen. So gehören die Nachbarländer Syriens zu jenen Staaten, die weltweit die größten Flüchtlingsgruppen beherbergen: Türkei mit 2,5 Millionen, Libanon 1,1 Millionen, Iran 0,979 Millionen und Jordanien 0,654 Millionen. Von den insgesamt 2,6 Millionen Flüchtlingen aus Afghanistan leben in Pakistan rund 1,6 Millionen und im Iran 950.000. Inzwischen steht die Bundesrepublik Deutschland mit insgesamt rund 1,8 Millionen Flüchtlingen weltweit nach der Türkei an zweiter Stelle.

Insgesamt nahmen 2015 vier Staaten 30 Prozent (6,2 Mio.) aller Flüchtlinge weltweit auf: Türkei, Pakistan, Libanon, Iran. Entwicklungsländer beherbergen 86 Prozent aller Flüchtlinge weltweit. Allein vier Millionen Menschen unter dem Schutz des UNHCR leben in Ländern, deren Bruttoinlandsprodukt pro Kopf unter 5000 US-Dollar liegt (in der Bundesrepublik Deutschland lag es 2014 bei rund 47.600 US-Dollar). Die am wenigsten entwickelten Länder haben vier Millionen Flüchtlinge aufgenommen.

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Zahl der Flüchtlinge je 1 US-Dollar Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, 2014

Quellen: World at War. UNHCR Global Trends 2014. Forced Displacement in 2014, Genf 2015, S. 5, und https://www.cia.gov.

Motive und Migrationsströme

Eine präzise Unterscheidung von freiwilliger und unfreiwilliger Migration («Zwangsmigration») ist dabei schwierig. Flüchtlinge versuchen, existentieller Bedrohung oder wirtschaftlicher Not zu entkommen. Wenn sie ein Land erreicht haben, das sie vor Verfolgung und wirtschaftlicher Not schützen kann, und trotzdem weiterwandern (um zu Familienangehörigen zu gelangen, die sich bereits in einem anderen Land niedergelassen haben oder weil sie sich in einem bestimmten Land besondere Chancen versprechen), werden sie zu Migranten. Wenn sie in diesem Land einen Asylantrag stellen, gehört dies – rechtlich betrachtet – zur Asylmigration. Motive der Migration können sich während der Wanderung ändern. Zudem können Migrationsbewegungen aus Personen zusammengesetzt sein, die von vorneherein unterschiedliche Motive haben. Staatliche Grenzregime werden durch gemischte Migrationsströme herausgefordert: Die Migranten nutzen dieselben Routen und die gleichen Transportmittel, fallen aber unter verschiedene rechtliche Kategorien und nutzen verschiedene Zugangspfade zu den Zielstaaten (wie Arbeitsmigranten, Opfer von Menschenhandel oder unbegleitete Minderjährige).

Die Migrationsforschung unterscheidet zunächst allgemein zwischen Anziehungs- und Abstoßungsfaktoren. Zu den Abstoßungsfaktoren (Push-Faktoren) gehören politische und militärische Konflikte, Umweltkrisen, die Bevölkerungsentwicklung in den Abgabeländern sowie das Verhalten der Regierungen der Abgabeländer. Anziehungskräfte (Pull-Faktoren) werden ausgeübt durch zunehmende internationale wirtschaftliche Disparitäten und deren weltweite Wahrnehmung durch Verbreitung von Bildern des westlichen Lebensstils mittels elektronischer Massenmedien und sozialer Netzwerke. Schließlich erzeugen oder befördern die Aufnahmeländer durch Anwerbemaßnahmen oder Legalisierung von illegal Zugewanderten die Anziehungskräfte. Abstoßungs- und Anziehungskräfte verstärken sich häufig gegenseitig. Dabei können sie unterschiedliche Dimensionen haben: Abstoßungskräfte (insbesondere aus ländlichen Regionen) können aufgrund schlechter Lebensbedingungen stärker ausgeprägt sein als die Anziehungskräfte der urbanen Zentren (wenn beispielsweise Arbeitsplätze dort nicht in der notwendigen Zahl vorhanden sind).

Push- und Pull-Faktoren reichen allerdings zur Erklärung nicht aus: Es müssen auch Gelegenheitsstrukturen für Wanderungen vorhanden sein – bei fehlender Realisierungsmöglichkeit wirken sich auch starke Abstoßungs- oder Anziehungskräfte nicht entscheidend aus. So können die allermeisten derjenigen, die als Zivilisten Opfer bewaffneter Konflikte werden, mangels wirtschaftlicher Ressourcen nicht außer Landes fliehen. Nach Angaben des Generalsekretärs der Vereinten Nationen leben gegenwärtig 42 Prozent der Armen weltweit in Staaten mit bewaffneten Konflikten und in zerfallenden Staaten. Bis 2030 wird erwartet, dass dieser Anteil auf 62 Prozent steigt.

Zu den Ursachen von Migration können gehören: ein starkes Bevölkerungswachstum (wie bei der Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert), internationales Entwicklungs- sowie erhebliches Lohngefälle. Migranten aus Niedriglohnländern können in den entwickelten Industriestaaten Löhne erzielen, die 20- bis 30-mal höher liegen als jene im Herkunftsland. Bei Wanderungen aus ökonomischen Gründen sind die Übergänge von freiwilliger zu unfreiwilliger Migration häufig fließend: Wenn die Grundlage für das Überleben der Familie im eigenen Land nicht mehr erwirtschaftet werden kann, entsteht der Zwang, Kinder und Ehepartner zeitlich befristet zurückzulassen und im Ausland Einkommen zu erzielen. In größerem Umfang gilt das auch für Arbeitsmigranten aus den postsozialistischen Transformationsstaaten, deren Kinder als «Euro-Waisen» bezeichnet werden.

Potentielle Zielländer internationaler Migration geben politische Signale ab, die entweder von den Migrationswilligen selbst oder intermediären Organisationen (wie Schleuserorganisationen) wahrgenommen und interpretiert werden. Dazu gehören gezielte Anwerbeaktionen von ausländischen Arbeitskräften («Gastarbeitern») in den westeuropäischen Ländern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso wie Legalisierungsmaßnahmen für sich unerlaubt aufhaltende Ausländer, die als Chance interpretiert werden, trotz illegaler Einreise einen dauerhaften Aufenthaltsstatus zu erhalten. Von Bedeutung sind auch Möglichkeiten für Zuwanderer, an sozialstaatlichen Leistungen zu partizipieren. Retardierend können restriktive Maßnahmen wirken wie der Ausbau von Grenzkontrollen, das Vorgehen gegen unerlaubte Zuwanderer durch Binnenkontrollen oder die zügige Zurückweisung von Migranten, die kein Aufenthaltsrecht erhalten.

Abgabeländer beeinflussen das Wanderungsverhalten durch mehr oder weniger restriktiv gestaltete Ausreisemöglichkeiten. «Reisefreiheit» gehört zu den in der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» der Vereinten Nationen kodifizierten Menschenrechten, ist aber, wie das 20. Jahrhundert gezeigt hat («Eiserner Vorhang»), keine Selbstverständlichkeit. Auch die EU hat immer wieder darauf hingewirkt, dass Nachbarstaaten (vor allem die nordafrikanischen Mittelmeeranrainer) als Transitstaaten Migranten an der Ausreise hindern. Nicht selten wirken Abgabeländer auf Aufnahmeländer ein, Zugangsmöglichkeiten zu eröffnen. Sie versprechen sich von einer (zeitlich befristeten) Auswanderung eigener Staatsangehöriger dringend benötigte Devisen zur Entlastung der Zahlungsbilanz: Die finanziellen Transferleistungen von Migranten sind von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung der Herkunftsregionen und wurden und werden von den Entsendeländern gezielt genutzt.

Mikrotheoretische Ansätze stellen die Bedeutung der Arbeitsmärkte und das unterschiedliche Lohnniveau in den Mittelpunkt. Demnach orientieren sich Migranten am maximalen Nutzen, an der Aussicht, eine möglichst hohe Entlohnung zu erhalten und ihre Kosten möglichst gering zu halten. Allerdings werden hier Informationsmängel und die unterschiedlich ausgeprägte Risikobereitschaft nicht berücksichtigt. Zudem müssen auch «Haushalte» und Familien sowie deren Interessen (beispielsweise an Einkommenstransfers aus dem Zielland) einbezogen werden. Ökonomisch-soziale Umwälzungen im Herkunftsland, die zur Destabilisierung und zum Wegbrechen von Einkommensquellen führen, bilden die wesentlichen Voraussetzungen, unter denen zeitlich befristet geplante Arbeitsmigration als Mittel eingesetzt wird, die Einkommensquellen des Haushalts zu diversifizieren und damit Risikovorsorge zu betreiben. Die Akteure beziehen auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt des Ziellandes mit ein. Allerdings können Individuen der Haushalte und Familien auch divergierende Interessen verfolgen. Schließlich sind nicht nur ökonomische Motive für Wanderungsentscheidungen maßgeblich. Auch Netzwerke und ethnische Kolonien in den Zielländern beeinflussen die Wahl des Zielstaats. Für Fluchtmigranten sind die Möglichkeiten, Informationen über Kosten des Bleibens und des Fliehens zu erlangen, stark eingeschränkt. Oft können sie weder das eine noch das andere genauer einschätzen. Sie müssen ihre Entscheidungen unter starkem Druck und in großer Unsicherheit treffen. Arbeitsmigration und Flucht unterscheiden sich u.a. durch die vorhandene bzw. nicht vorhandene Planbarkeit: Flucht vor lebensbedrohlichen Situationen erfolgt häufig überstürzt. Am Anfang stehen dann Verlusterfahrungen ökonomischer und nicht ökonomischer Güter – der Heimat, der Familie, der Gesundheit, des Vermögens, des Hauses, des Arbeitsplatzes. Für die Flüchtlinge hat die Flucht ökonomische, psychologische und soziale Auswirkungen. Ihr sozialer Status verändert sich zwischen Herkunftsort und Flüchtlingslager grundlegend. Neben dem Vermögen, das sie bei der Flucht zurücklassen, müssen sie die Kosten für den zurückzulegenden Weg und möglicherweise für Schleuser aufbringen. Beim Start im Aufnahmeland müssen sie zunächst in Lagern von humanitärer Unterstützung leben und haben keinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt, um den Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu sichern. Sozialkapital und Humankapital werden in starkem Maße entwertet (Sprache, Netzwerke, berufliche Abschlüsse).

Für makrotheoretische Ansätze bilden strukturelle Faktoren den Rahmen: die wirtschaftliche, soziale und politische Lage in den Herkunfts- und den Aufnahmeländern; die Nachfrage nach billigen und gering qualifizierten Arbeitskräften, die im unteren Lohnsegment, bei schlechten Arbeitsbedingungen und in prekären Beschäftigungsverhältnissen (der insgesamt segmentierten Arbeitsmärkte) eingesetzt werden können; das Regierungshandeln in den Abgabe- und Zielstaaten, die Politik auf internationaler Ebene (Einschränkungen der Reisefreiheit, Migrationskontrolle der EU); die Bevölkerungsentwicklung in den Abgabeländern; geographische Distanzen (die allerdings heute eine immer geringere Rolle spielen); Wanderungsbeziehungen, die sich zwischen Staaten herausgebildet und durch Kettenmigration stabilisiert haben (wie zwischen ehemaligen Kolonialmächten und ihren früheren Kolonien).