Jón Gnarr

Der Outlaw

Eine isländische Jugend am Rande der Gesellschaft

Unter Mitarbeit
von Hrefna Lind Heimisdóttir

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Útlaginn«
im Verlag Forlagið, Reykjavík.

© Jón Gnarr mit Hrefna Lind Heimisdóttir, 2015

Published by agreement with Forlagið, www.forlagid.is

Für die deutsche Ausgabe

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Herburg Weiland, München

unter Verwendung eines Fotos von © Jón Gnarr

Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50153-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10088-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Die Maschine startete vom Inlandflughafen in Reykjavík. Es war das zweite Mal, dass ich in einem Flugzeug saß. Ich war zwar einmal mit meinen Eltern nach Norwegen gereist, aber bisher weder auf dem Reykjavíker Flughafen gewesen, noch innerhalb Islands geflogen. Überhaupt hatte ich nur eine sehr begrenzte Vorstellung von Island und war mir nicht darüber im Klaren, wie das Land aussah. Mit meinen Eltern war ich schon mal aus der Stadt hinausgefahren und hatte die Landschaft ziemlich eintönig gefunden und nicht gewusst, wo wir uns befanden. Island war mir im Grunde fremd. Ich erkannte das Land zwar auf einer Abbildung, begriff aber nicht richtig, wo welcher Ort lag. Obwohl ich bereits in Akureyri gewesen war, hätte ich die Stadt unmöglich auf einer Islandkarte finden können. Jetzt war ich auf dem Weg nach Ísafjörður, einem Ort, über den ich rein gar nichts wusste und den ich mir nur schwer vorstellen konnte. Ich dachte, er müsse so ähnlich sein wie Búðardalur, und ging davon aus, dass es dort furchtbar kalt wäre. Und dass in den Gärten Ampfer wachsen müsste.

In dem Flugzeug saßen die unterschiedlichsten Leute, Erwachsene und Kinder. Ich kannte niemanden. Neben mir saß eine ältere Frau.

– Was machst du denn in Ísafjörður?

– Ich fahre nach Núpur.

– Ach, in die Bezirksschule?

– Jaaa …

Núpur im Dýrafjörður? Wo lag das eigentlich? Ich hatte keinen blassen Schimmer, was eine Bezirks- oder Internatsschule war, und hatte noch nie eine gesehen. Aber ich hatte Geschichten von Schülern gehört, die auf der Bezirksschule in Laugarvatn gewesen waren, und da ging es anscheinend sehr lustig zu, es glich wohl einer Mischung aus Schule und Kommune. Man hatte ziemlich viele Freiheiten, alle waren miteinander befreundet, und man konnte sich leicht Brennivín besorgen. Ich hoffte, dass es in Núpur im Dýrafjörður auch so sein würde. Núpur galt als Verwahrungsort für schwer erziehbare Jugendliche, eine Art Heim für Problemfälle. Ich wusste nicht genau, ob ich ein schwer erziehbarer Jugendlicher war, jedenfalls war ich bestimmt nicht weit davon entfernt. Schwer Erziehbare verhielten sich so wie ich. Und auch wenn wir selbst uns nicht als Problemfälle ansahen, taten das die anderen. Núpur im Dýrafjörður … Schon der Name klang altmodisch, fast fremdländisch.

Ich fand es sehr spannend, über Island zu fliegen und es aus der Luft zu betrachten. An diesem Tag war der Himmel klar, sodass ich das Land gut sehen konnte. Schneebedeckte Gipfel, Fjorde und schwarze Flecken, wahrscheinlich Lavawüste … oder Hochland. Ich war noch nie im Hochland gewesen, hatte aber schon in den Nachrichten gehört, dass sich Menschen dort verirrt hatten. Das Hochland war ein gefährlicher Ort. Besonders im Winter.

Dann landeten wir in Ísafjörður. Es war alles so, wie ich es mir ausgemalt hatte, wie Búðardalur, nur mitten im Schnee. Ísafjörður war ein kleiner Fischerort, eingerahmt von hohen Bergen. An den Hauswänden türmten sich mannshohe Schneewehen auf. Ich starrte auf die Berge. Sie wirkten Furcht einflößend, weil sie so steil aufragten, mit Schnee bepackt, aus dem einzelne Felsen und Geröllfelder hervorlugten. Den Ort empfand ich als ungemütlich und als krassen Gegensatz zu dem, was die Frau im Flugzeug über ihn gesagt hatte: ein malerisches Städtchen und ein wundervoller Ort. Sie hatte es sogar noch auf die Spitze getrieben und Ísafjörður als schönsten Platz auf der Welt bezeichnet. Ich hatte hingegen den Eindruck, in der Hölle gelandet zu sein. Für mich war das eindeutig der hässlichste Ort, in dem ich je gewesen war. Hässlich, kalt und im Schnee versunken.

Als die Passagiere aus dem Flugzeug stiegen, war es windstill, aber frostig. Wie üblich trug ich ein T-Shirt, Jeans und Lederjacke. Ich zog den Reißverschluss der Jacke hoch, verschränkte die Arme und schlenderte mit ein paar anderen Schülern in das Flughafengebäude. Wir warfen uns schüchterne Blicke zu, als plötzlich ein Mann kam und rief:

– Alle, die nach Núpur im Dýrafjörður wollen, in den Bus!

Der Mann war ein richtiger Bauerntrottel. Ich hatte solche Typen vom Land schon öfter gesehen. Sie trugen keine normalen Männersachen, sondern alberne Klamotten, eine ländliche Version von Männerkleidung. Die Hosen passten ihnen nicht richtig und waren immer etwas zu weit, und sie trugen keine normalen Schuhe wie die Männer in Reykjavík, sondern Gummischuhe. Dieser Mann trug Stiefel. In Reykjavík trug kein Mann Stiefel, es sei denn, er renovierte gerade sein Haus oder ging auf Angeltour. Wir Schüler rotteten uns zusammen, holten unsere Taschen und liefen zum Bus. Ich musterte die anderen heimlich und checkte ab, ob Punks dabei waren. Offenbar war ich der einzige Punk in der Gruppe. Die meisten waren Normalos, und Sport-Asse gab es anscheinend auch nicht, da keiner Sportklamotten anhatte. Ein paar trugen Lederjacken und waren demnach Metaller, sowohl Jungs als auch Mädchen. Neben den Lederjacken waren sie leicht an ihren AC / DC-Buttons zu erkennen. Metaller hörten AC / DC, Saxon und Iron Maiden. Einer der Jungen hatte ein Bild von Eddie hinten auf seiner Jacke. Eddie war eine Art Monster und das Maskottchen der Band. Ich fand Heavy Metal todlangweilig, dabei kannte ich ein paar Metaller, die eigentlich ganz okay waren. Sie trugen Lederjacken und waren sogar ein bisschen punkig, mit Nietenarmbändern am Handgelenk und Buttons auf den Jacken. Aber die Musik war furchtbar. Heavy Metal bestand hauptsächlich aus Gitarrensoli und nichtssagenden Texten mit eingängigen Refrains, zu denen die Fans headbangten. In meinen Augen war Heavy Metal nur schlechter Punk. Manche Leute dachten sogar, Metal-Bands wären eine Art Punk-Bands, und ich musste oft erklären, warum dem nicht so war. Einige Schüler trugen einen Rolling-Stones-Button, der aussah wie eine riesige Zunge, die ich noch nie gesehen hatte und irgendwie hippiemäßig fand. Die Stones waren doch alte Knacker, die von nichts anderem sangen als Mädchen.

Der Einzige aus der Gruppe, den ich kannte, war Schläger-Gaddi. Unsere Wege hatten sich in der Réttarholt-Schule gekreuzt, wo er mir einmal geholfen hatte, einen Jungen zu verprügeln, der mich gehänselt hatte. Außerdem waren wir eine Zeit lang zusammen bei den Pfadfindern gewesen, aber ich kannte ihn nicht besonders gut. Eigentlich kannte ihn niemand. Er machte sich nicht viel aus anderen, und es war ziemlich schwer, sich mit ihm zu unterhalten. Gaddi interessierte sich für nichts, weder für eine spezielle Musikrichtung noch für Fußball. Er wurde Schläger-Gaddi genannt, weil er ständig in Prügeleien verwickelt war, und ich hatte gehört, er solle nach Núpur geschickt werden, weil er seine Mutter zusammengeschlagen hätte. Wer schlug denn seine Mutter? Ob er ihr einfach eine reingehauen hatte? Das war für mich unvorstellbar. Mein Freund Siggi Punk war auch unverschämt zu seiner Mutter, motzte sie an, sie solle das Maul halten, und schrie »Lass mich in Ruhe, du scheiß Alte«, aber er hätte seine Mutter niemals geschlagen. Gaddi war schlank, unglaublich reaktionsschnell und hatte einen fahrigen Blick. Er erinnerte mich an einen Cowboy aus einem Western. Clint Eastwood. Wortkarg, unberechenbar und keine Skrupel vor Gewalt. Wovor ich eine Scheißangst hatte. Außer Gaddi kannte ich niemanden. Ein paar andere Schüler kannten sich bereits, saßen zusammen im Bus und unterhielten sich.

Der Bus fuhr los, und wir rollten durch den Ort, an einem Kiosk vorbei, der Hamraborg hieß. Davor hingen ein paar Jugendliche herum, und ich fragte mich, ob man im Hamraborg wohl Punk-Poster bekäme. Vielleicht könnte man von Núpur zum Kiosk laufen und Punk-Poster kaufen. Das wäre super. Der Bus hielt an einer Tankstelle, und während der Fahrer tankte, schauten wir uns verstohlen um. Ich verhielt mich möglichst unauffällig, nickte nur Gaddi zu, der meinen Gruß auf die gleiche Weise erwiderte. Wir schienen alle im selben Alter zu sein. Einige waren vielleicht ein bisschen älter, aber bestimmt nicht mehr als ein, zwei Jahre. Ich konnte auch ein paar potenzielle Idioten ausmachen, die mich bestimmt schikanieren würden. Ísafjörður schien doch kein ganz so gottverdammtes Kaff zu sein, wie ich mir vorgestellt hatte. Ich sah ein Restaurant namens Mánabar und Leute, die keine Bauernkluft trugen, sondern modischer gekleidet waren. Außerdem liefen im Ort keine Schafe herum – oder waren die im Winter im Stall? Ich musterte die Leute, die zwischen den Schneewehen herumspazierten, und entdeckte ein paar Mädchen in Disco-Klamotten, was stark darauf hindeutete, dass es in Ísafjörður sogar eine Disco gab. Und wenn es eine Disco gab, gab es vielleicht auch ein Kino. Ansonsten sah ich noch eine Bank. Ísafjörður war im Grunde wie Akureyri, nur etwas kleiner und kälter und mit etwas mehr Schnee. Der Busfahrer stieg wieder ein, und wir fuhren weiter, ließen Ísafjörður hinter uns und krochen bergauf. Je höher wir kamen, desto tiefer wurde der Schnee. Irgendwann konnte man nichts anderes mehr sehen, weil die Schneemauern höher waren als der Bus. Die Straße schlängelte sich weiter durch das Weiß, und es war, als befänden wir uns in einem Schneetunnel. Es war wie damals, als ich mit meinen Eltern durch Norwegen gefahren war. Da hatte ich das Gefühl gehabt, in einem Baumtunnel zu sein. Doch hier gab es nichts anderes als Schnee. Keine Häuser und keine Schafe, nur Ödnis und Kälte. Als wir endlich aus dem Schneetunnel herausfuhren, erblickten wir Núpur.

Die Schule bestand aus vier großen Gebäuden an einem einsamen Berghang in einem langen und breiten Fjord, der von hohen Gipfeln eingerahmt war. Ich fand den Ort sofort sehr abgeschieden und unheimlich. Über der Schule ragte ein pechschwarzer Berg auf. Das war also der Fjord Dýrafjörður. Kein einziger Grashalm weit und breit und keine Bäume, bis auf ein paar vereinzelte Tannen. Der Bus hielt auf dem Parkplatz, und die Schüler stiegen aus. Vor einem der Gebäude standen ein paar Männer, schnupften Tabak und empfingen uns.

– Willkommen in Núpur! Ich heiße Ingólfur Björnsson und bin der Schuldirektor.

Ingólfur schien ein ganz normaler Typ zu sein. Er war kein Bauerntrottel und kein schräger Vogel wie der Direktor in der Réttarholt-Schule. Neben ihm stand ein alter Mann, der eindeutig vom Land kam. Er sah aus wie die Penner in Reykjavík, die ich auf den Polizeifotos bei meinem Vater gesehen hatte. In Reykjavík galten sie als geisteskrank, aber hier waren sie vielleicht ganz normal.

– Das ist Zakarías Jónsson, der Hausmeister. Er bringt euch jetzt zu den Schlaftrakten.

Wir holten unsere Taschen und folgten dem alten Mann über den Gehweg, die Treppe hinauf und in das größte Gebäude hinein.

– Im Erdgeschoss ist der Mädchenflur, erklärte der Hausmeister, und jemand kam und brachte die Mädchen in ihren Flur.

– Im ersten und zweiten Stock sind die Jungenflure, fügte er hinzu und zeigte auf die Treppe nach oben. Er stieg hinauf, und wir drängelten ihm nach, orientierungslos und eingeschüchtert. Ein paar Schüler hatten sich versammelt, um uns in Augenschein zu nehmen, und standen in Türöffnungen oder auf der Treppe und glotzten uns an. Die Sache war mir nicht geheuer, weil ich sie nicht einschätzen konnte. Manche hatten komische Frisuren und andere sahen so aus, als wären ihre Haare einfach drauflosgewachsen und noch nie geschnitten worden. Ein paar stammten eindeutig vom Land, weil sie bäuerliche Klamotten trugen. Zakarías Jónsson las unsere Namen und Zimmernummern von einem Zettel ab.

– Jón Gunnar Kristinsson, zweihundertelf. Elvar Árni Birgisson, zweihundertelf.

Wir waren im selben Zimmer. Ich nickte Elvar Árni zu, und wir betraten den Raum. Er war klein und bestand aus zwei Betten, zwei Kleiderschränken und zwei Schreibtischen. Zwischen den Schreibtischen hing ein Waschbecken, das wir später vor allem zum Reinpinkeln benutzten. Ich stellte meine Tasche auf eines der Betten, und Elvar Árni stellte seine auf das andere. Wir hatten unsere Schlafplätze gewählt.

Elvar Árni war kein Punk, kein Sport-Ass, kein Schickimicki und kein Metaller. Er sah ganz normal aus. Er hatte keine spezielle Frisur und keine langen Haare wie viele Metaller und trug keine Buttons. Ich musterte ihn, und er musterte mich.

– Bist du Punk?

– Ja!!!, antwortete ich stolz. Das war ja wohl nicht zu übersehen! Ich trug mein Sid Vicious-T-Shirt und die Lederjacke mit den Punk-Buttons. Elvar Árni entgegnete prompt:

– Punk ist das einzig Wahre.

Dem konnte ich nur aus ganzem Herzen zustimmen. Ich war sehr erleichtert. Elvar Árni fügte hinzu:

– Meine Lieblingsband ist Purrkur Pillnikk.

Purrkur Pillnikk war eine isländische Punk-Band, die ich klasse fand. Ihre Songs waren kurz und die Texte witzig. Der Sänger war total durchgeknallt und machte alle möglichen verrückten Sachen auf der Bühne. Er arbeitete im Plattenladen Grammið, wo ich ihm schon begegnet war, es allerdings vermieden hatte, ihn etwas über die Platten zu fragen, weil er immer absurde Antworten gab. Elvar sagte:

– Ich werde Purrkur genannt.

Purrkur. Ich würde ihn nie mehr Elvar Árni nennen. Purrkur. Cool.

Die Wände in unserem Zimmer waren weiß gestrichen, und es gab ein Fenster mit Nylon-Gardinen, dessen eine Seite sich nur halb öffnen ließ und vergittert war. Aus dem Fenster hatte man einen Blick auf den Fjord, den ich ausgesprochen hässlich fand. Nichts als endlose Berge, Meer und Schnee. Kalt und abweisend.

– Pfff, vergitterte Fenster?, sagte ich und lachte leise.

– Ja, das ist schließlich ein Erziehungsheim.

Erziehungsheim? War das etwa kein Internat? Warum waren dann Gitter vor den Fenstern? Was sollte man hier schon anstellen? Durchs Fenster klettern und abhauen? Wohin denn? Auf den Berg? Runter zum Meer? Da war doch nichts! Ich packte meine Tasche aus, warf meine Kleider in den Schrank und hängte die Punk-Poster auf, die ich mitgebracht hatte. Die meisten waren aus der Bravo. Außerdem hatte ich noch meine Crass-Platten Stations und Feeding of the 5000 sowie diverse Singles dabei. Zu den LPs gab es immer Coverposter, von denen ich eins mit Klebegummi an der Wand befestigte. Auf dem Poster war ein Bild von einer verwesenden Hand vor einem Stacheldraht, und darunter stand »Your country needs you«. Anschließend stellte ich meinen Kassettenrekorder auf die Fensterbank. Ich hatte nur Musik von Crass dabei, weil ich keine anderen Bands mehr hörte. Ich war kein einfacher Punk mehr, sondern ein Crass- und Anarcho-Punk. Punk war tot. Das hatten Crass in dem Song Punk is dead gesagt. Alle, die andere Punk-Musik hörten als Crass, waren Pseudo-Punks, die nicht wussten, dass Punk tot war. Punk war zu einer Mode-Erscheinung geworden wie Disco. Buttons und Sticker, die man im 1001 Nacht-Laden in Reykjavík kaufen konnte, waren zu Mode-Accessoires geworden. Nur Crass nicht. Es war okay, Crass zu hören, und es war okay, ein Sid Vicious-T-Shirt zu besitzen, weil Sid Vicious eine Legende war. Sid Vicious war auch tot. Er war an einer Überdosis gestorben, was sehr cool war.

Wir setzten uns auf unsere Betten, schwiegen und stierten vor uns hin. Purrkur stand auf, ging zum Waschbecken, drehte den Hahn auf und ließ das Wasser laufen, um zu sehen, ob er funktionierte.

Ein Waschbecken im Zimmer … Wozu brauchte man ein Waschbecken im Zimmer? Ich überlegte, was für ein Leben mich in Núpur erwarten würde. Ich hatte keine Ahnung und stellte mir vor, dass wir Schüler hier eingepfercht und irgendwie immer in der Schule wären. Zwischendurch bekämen wir manchmal etwas zu essen, und vielleicht gäbe es eine Jungs-Clique, die über alles bestimmte. Mir waren ein paar kräftige Jungen aufgefallen, aber die meisten anderen hatten gelächelt und »Hi« gesagt, und ich hatte zurückgelächelt und auch »Hi« gesagt. Vielleicht waren das Hirnis, die sich bei den Lehrern einschleimten. Ich war nervös und hatte Angst, was passieren würde, wenn ich das Zimmer verließ.

In den Zimmern und Schlaftrakten war Rauchverbot, aber es gab ein Raucherzimmer am Ende des Mädchenflurs. Ich hatte angefangen zu rauchen, und meine Mutter hatte vor der Abreise Zigaretten für mich gekauft, einen Karton Winston Lights. Eigentlich rauchte ich Winston, aber meine Mutter bestand darauf, dass ich Winston Lights rauchte. Dabei rauchte sie selbst Winston. Der Unterschied war, dass bei Winston Lights ein Ring mit winzigen Löchern in den Filter eingebaut war. Das bekam ich schnell raus und schnitt den Filter hinter dem Ring einfach ab. Wenn ich keine Schere zur Hand hatte, riss ich ihn ab. Winston Lights zu rauchen war lächerlich. Salem waren Mädchenzigaretten, wie alle Menthol-Zigaretten. Ich rauchte Winston wie meine Mutter und Siggi Punk. Das war cool. Marlboro und Camel zu rauchen, war auch cool, aber am coolsten waren Camel ohne Filter. Die waren aber auch am gefährlichsten.

Ich hatte nicht viele Sachen dabei, da meine Meinung über Klamotten sehr speziell war und ich nicht einfach irgendwas trug. Mittlerweile überstieg es die Kräfte meiner Mutter, Kleidung für mich zu kaufen, deshalb besaß ich nicht viel. Ich hatte zwei Jeans, zwei T-Shirts und einen Pullover, außerdem natürlich meinen Parka, meine Springerstiefel und meine Chinaschuhe. Für besondere Anlässe hatte ich noch die kurze Lederjacke. Außerdem besaß ich eine Jogginghose und Turnschuhe für den Sportunterricht, aber keine dicken Wintersachen. Ich war ja kein Hirni. Ansonsten hatte ich noch ein paar Bücher und Kleinkram, Unterwäsche und zwei Paar Socken dabei. Sonst nichts.

Am ersten Tag lernten wir die Umgebung und die wichtigsten Einrichtungen kennen, schauten aus dem Fenster, betrachteten die Landschaft und fanden heraus, wo sich das Raucherzimmer und der Speisesaal befanden. Das Haus, in dem ich untergebracht war, bestand aus zwei dreistöckigen Flügeln mit einer Lehrerwohnung am Ende jedes Flurs. Am Ende des untersten Flurs befand sich das Raucherzimmer. Wenn man durch die Haustür ging, kam man in ein Treppenhaus, und direkt gegenüber lag ein großer Aufenthaltsraum mit Sofas, Tischen und einem Fernseher. Durch den Aufenthaltsraum gelangte man in den anderen Flügel mit dem Speisesaal und der Küche dahinter. Im Keller unter dem Speisesaal befanden sich Unterrichtsräume. Nachdem ich mich mit dem Gebäude vertraut gemacht hatte, erkundete ich die anderen Häuser. Neben dem großen Haus, in dem ich wohnte, stand ein kleineres Gebäude mit der Wohnung des Direktors und seiner Familie sowie einem weiteren Schlaftrakt für Mädchen. Weiter oben am Hang stand noch ein großes Gebäude mit Unterrichtsräumen, Abstellkammern, einem Handwerksraum und einer Sporthalle. Im Keller gab es ein kleines Schwimmbad und ein Dampfbad und unter dem Dach einen Kiosk, in dem man Süßigkeiten und Zigaretten kaufen konnte. Die Sporthalle hatte ein Handballfeld, Basketballkörbe, Zuschauerränge und am einen Ende eine Bühne. Offenbar wurde der Saal als Mehrzweckhalle benutzt, in der man sowohl Sport treiben, als auch Feste und Aufführungen veranstalten konnte.

Am Schwarzen Brett entdeckte ich einen Zettel, der darüber informierte, was man sich im Buchladen im Keller, in dem Lehrbücher und andere Schulmaterialien verkauft wurden, besorgen sollte. Da die Sachen schon im Voraus für mich bezahlt worden waren, ging ich runter und bekam einen Stapel Bücher, Schreibhefte, Bleistifte, einen Radiergummi, ein Lineal und einen kleinen Pappkarton mit Wasserfarben ausgehändigt. Die meisten Schüler wirkten völlig harmlos, und alle, denen ich begegnete, waren freundlich und distanziert. Dennoch fürchtete ich ständig, blöd angemacht zu werden, weil ich Punk war. Die Schülerschaft bestand anscheinend zum einen aus ganz normalen Kindern vom Land und zum anderen aus genauso unnormalen Kindern wie mir. Entweder – oder. Ich kam ziemlich schnell mit anderen ins Gespräch, fragte sie, woher sie kämen und welche Musik sie hörten. Es gab eine Gruppe aus Hafnarfjörður, die alle in der Rolling Stones-Clique waren, von der ich noch nie etwas gehört hatte. Sie trugen Lederjacken und hatten Stones-Sticker auf ihren Jacken und T-Shirts. Ich fand diese riesige Zunge lächerlich. Sie hatte keine Message. Ansonsten gab es noch ein paar Leute aus Reykjavík und Akureyri und natürlich die Kinder aus den Fischerdörfern wie Flateyri, Þingeyri, Suðureyri, Bolungareyri und Ísafjörður und von den umliegenden Höfen.

Die Schüler aus Hafnarfjörður steckten viel zusammen, andere waren mehr oder weniger alleine, doch nach und nach bildeten sich kleine Grüppchen und Cliquen. Obwohl Purrkur mein Zimmernachbar war, lernte ich ihn nicht besonders gut kennen. Er war sonderbar und eigenbrötlerisch, und es war schwer, sich mit ihm zu unterhalten, weil er von sich aus nicht viel sagte.

Purrkur war ein komischer Kauz, und ich hielt mich möglichst nur in unserem Zimmer auf, wenn er nicht da war. Es gab sowieso keinen Grund, im Zimmer rumzuhängen.

Der wichtigste Ort war das Raucherzimmer, ein winziges Kabuff mit selbst geschreinerten Bänken mit Kissen und einem Tisch in der Mitte. Bis auf ein riesengroßes altes Ölfass für Kippen und anderen Abfall gab es dort sonst nichts. Manchmal entzündete sich der Müll durch die Glut der Zigarettenstummel, aber dann spuckte einfach jemand drauf. Der Raum hatte kein Fenster, nur eine Außentür an der Seite. Die Wände waren vollgekritzelt und mit Bandpostern zugehängt. Manchmal kamen Lehrer oder andere Mitarbeiter der Schule herein, nörgelten, wir sollten mal etwas anderes machen als rauchen, und öffneten die Tür. Das waren die seltenen Male, an denen gelüftet wurde. Im Raucherzimmer war man nie alleine und traf immer jemanden, mit dem man stundenlang rumhängen und rauchen konnte.

Rund um die Gebäudeansammlung von Núpur herrschte gähnende Leere. Die Umgebung bestand schlicht und ergreifend aus Felsen und Schneehaufen. Oberhalb der Schule waren die Berge, und unterhalb lag das Meer. Alles voller Nichts. Ich war furchtbar enttäuscht und konnte in den ersten Nächten nicht schlafen. Abends überkamen mich Einsamkeit und Frust, und Gedanken und Gefühle strömten auf mich ein, die ich tagsüber verdrängt hatte. Manchmal, wenn Purrkur eingeschlafen war, weinte ich ein bisschen. Ich vermisste den Busbahnhof Hlemmur und meine Freunde. Und ich vermisste es, aus dem Fenster zu schauen und etwas anderes als immer nur Berge und Felsen zu sehen. Die Leere des Fjords füllte mich aus, und ich kam mir einsam und verlassen vor, was seltsam war, weil es um mich herum doch so viele Leute gab. Wenn ich in meinem Zimmer war, hörte ich So What von Crass, immer wieder. Ich hatte mein Messer mitgebracht, glaubte aber nicht, es noch zu brauchen. Niemand bedrohte mich hier. Morgens ging ich zum Unterricht und hatte meinen festen Platz im Klassenraum. Im Speisesaal hatte ich auch meinen festen Platz, der sich irgendwie ergeben hatte. Ich saß nicht bei der Rolling Stones-Clique oder den Metallern, und da ich nicht bei den Landeiern sitzen wollte, landete ich an einem Tisch mit Purrkur und anderen Einzelgängern aus Reykjavík.

Wenn ich heute Filme sehe, in denen jemand ins Gefängnis kommt, muss ich immer an Núpur denken. Der Typ geht rein, mit einer Decke und einer Zahnbürste in der Hand, und nachdem ihm seine Zelle gezeigt wurde, kommt er in einen Gemeinschaftsraum, wo lauter Männer sitzen und ihn anstarren. Einige murmeln etwas und tauschen Blicke, und man kann ihnen ansehen, was sie denken. Dann setzt sich der Neue auf irgendeinen Platz, und dort wird er von nun an immer sitzen. Die anderen, die schon dort saßen, werden seine Freunde. So war es auch in Núpur. In den Unterrichtsräumen setzte ich mich immer ganz nach hinten, möglichst weit entfernt vom Lehrer, wo dieser einen kaum registriert. Ganz hinten saßen alle, die eine ähnliche Einstellung hatten wie ich – eigentlich war man nur da, um abzuschalten und sich zu verkriechen, und nicht, um am Unterricht teilzunehmen. Vorne saßen nur Schleimer und Idioten.

Doch wenn abends der Schlaftrakt abgeschlossen worden war, herrschte eine ausgelassene Stimmung in unserem Flur. Keiner kümmerte sich mehr um uns, und wir Jungen waren ganz auf uns alleine gestellt. Wir lernten uns nach und nach kennen, und je mehr Freunde ich fand, desto größer wurde mein Selbstvertrauen. Ich weinte mich nicht mehr in den Schlaf, und mir wurde immer deutlicher bewusst, dass ich keine andere Wahl hatte und mich einfach mit der Situation abfinden und das Beste daraus machen musste. Ein paar Mal rief ich zu Hause an und unterbreitete meiner Mutter den Vorschlag, dass ich wieder zurück nach Hause kommen könnte, doch davon wollte sie nichts wissen. Inzwischen war ich überhaupt nicht mehr der Überzeugung, dass es schlau gewesen war, nach Núpur zu fahren, und versuchte verzweifelt, ihr begreiflich zu machen, wie gerne ich nach Hause wollte. Doch es war zwecklos, und ich bekam immer dieselbe Antwort.

– Das ist beschlossene Sache, Jón. Du kommst nicht zurück nach Hause. Darüber haben wir hundertmal gesprochen. Du wolltest selbst ins Internat.

Ich hatte nicht ins Internat gewollt, in meinen Augen war das nur ein Vorschlag gewesen.

– Jaaa, aber ich wollte immer nach Laugarvatn, das hast du mir ja nicht erlaubt.

– Das ist beschlossene Sache, Jón, und es kommt überhaupt nicht infrage, dass du wieder in die Stadt fährst. Du ziehst das jetzt durch, und dann sehen wir weiter.

So war es. Ich wusste genau, dass es nichts brachte, sich mit meiner Mutter zu streiten. Wenn sie eine Entscheidung getroffen hatte, wurde nicht mehr daran gerüttelt. Dann war der Kampf verloren. Ich musste es akzeptieren, auch wenn ich das alles ganz furchtbar fand.

In Reykjavík hatte kein Schnee gelegen, als ich abgereist war, aber Núpur versank im Schnee. Die Winterlandschaft, die mich bei meiner Ankunft empfangen hatte, war nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte. Einen solchen Winter hatte ich noch nie erlebt. In Reykjavík schneite es vielleicht einen oder zwei Tage, während in Núpur tage- und sogar wochenlang Schneestürme tobten. Der Wind hatte Orkanstärke. Der Schneefall war meistens so dicht, dass man nur ein, zwei Schritte weit sehen konnte, und zwischen den einzelnen Gebäuden waren Seile gespannt, an denen man sich entlanghangeln musste. Es schneite und schneite, und der Schnee schmolz nie, und die Schneeberge türmten sich immer höher auf. Die Geröllflächen an den Berghängen waren schnell zugeschneit, und eine blitzweiße Schneedecke erstreckte sich vom Strand bis zu den Gipfeln der Berge. Wenn ich aus dem Fenster schaute, kam es mir so vor, als würde ich ganz alleine in einem Haus mitten auf dem Vatnajökull-Gletscher wohnen. Nichts als verdammter Schnee so weit das Auge reichte. Oft kamen wir morgens nicht aus dem Haus, weil es in der Nacht so stark geschneit hatte, dass die Schneeberge bis über die Fenster reichten und die Haustür versperrten. Die Landschaft war verschwunden. Anders als in Reykjavík regnete es in Núpur nie. Jeden Morgen mussten wir uns mit Spaten und Kehrschaufeln ausgraben, das Seil ausfindig machen und uns weiter an ihm entlangschaufeln. Der Weg, den wir an einem Tag freigeschaufelt hatten, konnte am nächsten Morgen schon wieder zugeschneit sein. Fast den gesamten Winter stapften wir durch zwei bis drei Meter tiefen Schnee von Haus zu Haus. Und es war immer eiskalt. Ich besaß keine Kleidung für diese Wetterverhältnisse und hatte zu allem Überfluss auch noch meine Socken verloren und deshalb in den Schuhen immer nackte Füße. Meistens trug ich eine zerrissene Jeans und ein T-Shirt, darüber eine Lederjacke oder einen Parka. Natürlich war ich ständig krank, hatte Husten und Schnupfen. Erkältungen waren die Norm.

Doch je besser ich meine Mitschüler kennenlernte, desto mehr wurde ich Teil der Gemeinschaft. Am meisten hatte ich mit den Jungen zu tun, die im selben Flur wohnten wie ich, sowie mit allen, die im Raucherzimmer abhingen. Außerdem freundete ich mich mit denen an, die im Unterricht ebenfalls ganz hinten saßen. Neben mir saß Kibba. Sie war klein und hatte lange, blonde Locken. Kibba kam aus Akureyri. Manche Jungen unterhielten sich darüber, ob ein bestimmtes Mädchen hübsch oder ein anderes hässlich sei, aber ich fand alle Mädchen hübsch. Ich hatte noch nie ein hässliches Mädchen gesehen. Mädchen waren wie Blumen, die waren auch nie wirklich hässlich, nur unterschiedlich schön. Kibba war eines dieser Mädchen, die eher cool als hübsch sind. Sie war kein Punk, aber trotzdem gut drauf, und hatte eine große Klappe. Kibba war die Anführerin einer Clique, und ein ganzer Schwarm von Mädchen schwirrte ständig um sie herum. Sie erinnerte mich an die Mädchen vom Hlemmur. An die taffen. Kibba war auch taff und trug eine Lederjacke. Wir freundeten uns sofort an und verbrachten den Unterricht damit, zu quatschen und die Lehrer zu ärgern.

In Núpur gab es keine ausgebildeten Lehrer. Die meisten waren Aushilfskräfte mit Abitur oder irgendwie in Núpur gestrandet. Einige waren sogar wegen einer Frau dort gelandet. Die Frau war dann wieder weggezogen, und sie waren hängen geblieben. Ein paar Männer kamen wohl mit der Arbeit auf See nicht zurecht und wurden stattdessen Lehrer in Núpur. Der beste Lehrer war Valdi von Mýrar, der Mathe unterrichtete. Valdi war ein alter Bauer von einem Hof in der Nachbarschaft und hatte ein begnadetes Talent für Mathematik. Er legte großen Wert auf Disziplin, und bei ihm spurten alle. Valdi machte klare Ansagen und konnte sich durchsetzen, was bei anderen Lehrern nicht der Fall war. Das Lehrerkollegium in Núpur war nicht mit dem in der Réttarholt-Schule zu vergleichen, wo es wenigstens richtige Lehrer gegeben hatte. In Núpur arbeiteten Lehrer zweiter Klasse, die nur so taten, als wären sie Lehrer.

Unser Isländisch-Lehrer hieß Ögmundur. Wir fanden ihn uralt, dabei muss er gerade mal Ende zwanzig gewesen sein. Er war ein dicklicher, gutmütiger Mann und ziemlich nervös. Er benahm sich seltsam, hatte immer feuchte Mundwinkel und Schweiß auf der Stirn. Vielleicht weil er so gestresst war. Wahrscheinlich hatte er Angst vor uns. So wie hungrige Wölfe vom Geruch eines verängstigten, verletzten Tiers angezogen werden, sprangen wir auf den Geruch von Ögmundur an. Dabei gab es keinen festen Vorsatz, Ögmundur fertigzumachen, es passierte einfach. Eigentlich war das merkwürdig, weil er ein sehr liebenswerter Mensch war und wirklich nur unser Bestes im Sinn hatte. Aber wir wollten seine Zuwendung nicht. Wenn er uns etwas fragte, brachten wir ihn aus dem Konzept oder stellten Gegenfragen. Dann wurde er noch nervöser, fing an zu zittern und sprach immer lauter. Ziel erreicht! Kibba und ich waren die Wortführer und empfanden Genugtuung, wenn wir ihn richtig fertiggemacht hatten. Wir saßen zusammen mit Purrkur und Klikki ganz hinten, lehnten uns auf unseren Stühlen zurück und legten die Füße auf den Tisch. Kibba hatte es perfektioniert, Widerworte zu geben. Wenn Ögmundur uns zum Beispiel befahl, die Füße vom Tisch zu nehmen, fuhr Kibba ihm einfach über den Mund.

– Schnauze! Machen Sie lieber Ihren Job!

– Kristbjörg!, erwiderte Ögmundur pikiert, wobei er versuchte, wie ein strenger Polizist zu klingen, aber vor lauter Nervosität nur einen albernen Quengelton herausbrachte.

– Sie unterrichten keine guten Manieren, sondern Isländisch. Und ich heiße nicht Kristbjörg! Ich heiße Kibba!

– Du heißt Kristbjörg, stammelte Ögmundur.

– Schnauze! Ich bestimme, wie ich heiße.

Ögmundur wusste nicht, was er ihr entgegnen sollte, und sagte immer:

– Jetzt hör aber mal, meine Liebe …

Wir äfften ihn sofort nach.

– Jetzt hör aber mal, meine Liebe. Jetzt hör aber mal, meine Liebe …

Wir konnten ihn so gut imitieren, dass die ganze Klasse lachte. Manchmal nahm ich die Füße vom Tisch, weil er mir leidtat, wenn er stammelte und zitterte. Doch da Kibba keine Anstalten machte, es mir gleichzutun, legte ich sie meistens schnell wieder drauf. Zwischen uns entstand eine Solidarität und Freundschaft, die dem eintönigen Alltag einen Sinn gab und Abwechslung mit sich brachte. Ögmundur hatte Panik vor uns, besonders vor Kibba, weshalb er versuchte, jeglicher Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Wir waren die Anstifter dieser Streitereien und keine Opfer, die taten, was man ihnen sagte. Je mehr Narrenfreiheit wir bekamen, desto mehr nahmen wir uns heraus. Wir setzten uns nicht mehr an die Tische wie die anderen, sondern saßen hinten im Klassenzimmer auf dem Fußboden und quatschten während des gesamten Unterrichts. Ögmundur ignorierte uns, damit er die wenigen Schüler, die sich für Grammatik und Rechtschreibung interessierten, in Ruhe unterrichten konnte. Manchmal unternahm er ein paar halbherzige Versuche, die Ordnung wiederherzustellen, befahl uns, uns auf die Stühle zu setzen und aufzupassen, doch darauf folgten derart heftige Racheaktionen, dass bald wieder alles beim Alten war. Obwohl es mir großen Spaß machte, Ögmundur zu ärgern, hielt ich ihn im Grunde für einen netten Menschen. Ich sabotierte zwar seinen Unterricht, aber er war mir gegenüber immer freundlich und zugewandt, als würde er mich ehrlich schätzen, dabei hatte er allen Grund, uns zu hassen. Er gab die Hoffnung einfach nicht auf, dass wir irgendwann eine Leidenschaft für Grammatik entwickeln würden. In der Schule kursierte das Gerücht, er sei geistig behindert, was wohl mit seinem starken Zittern und Schwitzen zusammenhing. Manchmal wandte ich mich an ihn, wenn ich Bücher brauchte oder etwas Bestimmtes wissen wollte. Er war immer nett und freute sich, wenn ich mich für irgendetwas interessierte, und im Laufe der Zeit trat eine Art Waffenruhe zwischen uns ein. Er ließ uns größtenteils in Frieden, und wir nervten ihn nicht mehr und hörten sogar hin und wieder zu. Ögmundur unterrichtete auch Literatur und Lyrik, und manchmal ging es um Themen, die ich spannend fand. Ich kannte viele Lyriker, las gerne Gedichte und schrieb manchmal selbst welche. Gedichte waren so ähnlich wie Punktexte. Ögmundur machte mich auf Reim, Alliteration und Rhythmus aufmerksam, ermunterte mich und lobte mich sogar ab und zu.

Da wir alle unbedingt Englisch lernen wollten, machten wir in diesen Unterrichtsstunden nur selten Ärger. Englisch war der Schlüssel zu all den Geheimnissen, die sich in Songtexten und Artikeln über Bands verbargen, ob es nun die Rolling Stones, Iron Maiden oder Crass waren. Wir versuchten sogar manchmal, englische Bücher zu lesen, denn das meiste, was wir cool fanden, war auf Englisch. Der Englischunterricht war deshalb hoch angesehen, und alle beteiligten sich. Unser Englischlehrer hieß William Douglas Wilson und war Schotte mit einem starken schottischen Akzent. Er war rothaarig, sommersprossig und kahlköpfig mit einem dichten roten Haarkranz und einem vollen Bart, wodurch er Ähnlichkeit mit dem schottischen Hausmeister bei den Simpsons hatte. Douglas war nach Island gekommen, weil er die Natur und das Wandern liebte. Er war durch die Westfjorde gereist und irgendwie hängen geblieben. Ich fand ihn toll, weil ich alle britischen Akzente unglaublich cool fand, und versuchte, Englisch mit Akzent zu sprechen. Anstatt zu sagen »My name is«, sagte ich »My naim is«. Die Grundlage meines Englisch stammte natürlich aus der Punkmusik, bei der meist Cockney gesprochen und gesungen wurde. Douglas’ schottischer Akzent hatte zur Folge, dass wir am Ende Englisch mit deutlich schottischem Einschlag sprachen. Ich brauchte ständig Hilfe und Erklärungen bei meinen Punktexten, und Douglas half mir bereitwillig, sie zu übersetzen und in den richtigen Zusammenhang zu stellen.

Die Dänisch-Stunden waren eine einzige Farce. Wir hielten es für völlig überflüssig, Dänisch zu lernen, aber es war ein Pflichtfach. Weder ich, noch Kibba, Klikki oder Purrkur sahen einen Sinn darin, am Unterricht teilzunehmen, da wir alles Dänische verachteten. Selbst der Dänisch-Lehrer sprach nicht richtig Dänisch. Er war gar kein Lehrer und unterrichtete nur Dänisch, weil er ein paar Jahre in Schweden gelebt hatte. Er hieß Björn Sjöberg und war eine Aushilfskraft aus Flateyri. In der ersten Stunde schrieb er »Andres And« an die Tafel. Als treuer Fan der dänischen Donald Duck-Heftchen in meiner Kindheit wusste ich genau, dass das völlig falsch war, denn auf Dänisch schrieb man »Anders And«.

– Sie können ja gar kein Dänisch! Sie können noch nicht mal Donald Duck richtig schreiben!

Alle lachten, aber ich hatte recht. Er konnte genauso wenig Dänisch wie wir. Wahrscheinlich hoffte er, dass die Sprache im Laufe des Unterrichts auf geheimnisvolle Weise in uns hineinsickern würde und wir am Ende des Winters alle fließend Dänisch sprächen. Doch dazu hatten wir keine Lust. Klikki, Purrkur, Kibba und ich unterzogen ihn derselben Behandlung wie Ögmundur. Jede einzelne Stunde war für Björn ein Albtraum, weil er sich ständig mit uns herumstritt, besonders mit Kibba. Wir zettelten Diskussionen an und maulten, kauten Klopapier zu kleinen Kügelchen und bewarfen ihn damit. Doch Björn war hartnäckiger als Ögmundur und ließ sich nicht so leicht aus der Fassung bringen. Manchmal ging die gesamte Stunde mit Gezänk zwischen ihm und uns drauf.

Wir zeichneten Karikaturen von Björn, die seinen großen kahlen Schädel und die noch größere runde Brille hervorhoben. Es gab einen richtigen Wettstreit unter den Schülern, wer die witzigste Karikatur zeichnen konnte. Wer zuerst im Klassenraum war, zeichnete ein Bild von Björn an die Tafel, und der Lehrer begann den Unterricht jedes Mal damit, es wieder wegzuwischen. Regelmäßig präparierten wir seinen Stuhl mit Reißzwecken oder schraubten die Beine lose, sodass Björn der Länge nach auf den Boden knallte, wenn er sich hinsetzen wollte. Manchmal piksten wir mit Reißzwecken Löcher in die Sitzfläche und gossen Wasser hinein, das dann nach und nach aus dem Polster gedrückt wurde, wenn er saß. Auf eine solche Gelegenheit lauerte Kibba.

– Sie haben ja einen nassen Hintern!

– Om du vil sige noget skal du sige det på dansk.

– Haben Sie sich in die Hose gemacht?!

Die ganze Klasse kicherte.

– Finden Sie Dänisch so aufregend, dass sie keine Zeit haben, aufs Klo zu gehen?

– Wer war das?

Nie bekannte sich jemand zu etwas, und so verliefen die Dänisch-Stunden in jenem Winter. Nicht viel anders als die Isländisch-Stunden. Wir verließen sogar mitten im Unterricht den Raum, um eine zu rauchen. Manchmal kamen wir wieder zurück – manchmal nicht. Es schien überhaupt keine Rolle zu spielen.