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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97621-3

März 2017

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Coverkonzeption: Büro Hamburg

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de

Covermotiv: shutterstock

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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John Lennon: Als ich zur Schule ging, fragten sie mich, was ich werden will, wenn ich erwachsen bin. Ich schrieb: »Glücklich.« Sie sagten mir, ich hätte die Aufgabe nicht verstanden. Ich sagte ihnen, sie hätten das Leben nicht verstanden.

Joel, mein Sitznachbar in einem Greyhound-Bus, irgendwo Richtung Florida: What the fuck I am alive for?

Phuong, Hotelbesitzerin in Saigon: Vor dem Sterben fürchten? Nein, doch ich fürchte mich vor dem, was auf dem Weg dorthin schon alles in mir an Mitgefühl und Neugier gestorben ist.

Dieses Buch gehört

jenen Frauen und Männern,

die mich antreiben,

die mich schelten und rühmen,

die mich (und sich) nicht verraten,

die in der Not mir einfallen,

die in der Not zur Stelle sind,

in deren Nähe ich schwer

ins Leben verliebt bin.

VORWORT

Oft suche ich mir Themen, die mich überfordern. Von der Stunde null – Tag der Vertragsunterzeichnung – bis zur letzten Zeile am Manuskript begleitet mich das anstrengende Gefühl: Du wirst scheitern! Was mich kaum beunruhigt. Ich habe mich daran gewöhnt, ich mag die Stimme des Teufels in mir. Sie hält mich wach. Sie sorgt dafür, dass ich mich erst ausruhe, wenn ich tot bin.

Gebrauchsanweisung für die Welt, welch unschuldiger Größenwahn mochte mich damals antreiben. Versteht man unter »Welt« nur die Erde: Schon das reicht, um einzuknicken. Unheimliche 4,5 Milliarden Jahre ist sie alt, und unheimlich einsam rast sie mit 107 000 Kilometern pro sechzig Minuten durch das All. Und sieben Milliarden Menschlein rasen mit. Darüber schreiben? Damit fertig werden? Gar wissen, wie man mit all dem umgeht, sie »gebraucht«? Wie aberwitzig. Natürlich bin ich mit meinem Buch gestrauchelt. Winzige 258,4 Gramm wiegt es. Ein Furz gegen die 5,976 Trilliarden Tonnen der Erde. Und ihre Aberbillionen Geschichten.

Jetzt also – Gipfel des Übermuts – eine Gebrauchsanweisung für das Leben. Gleich beim ersten Aussprechen des Titels fing ich zu zittern an, denn life is always bigger than you! Himmel, wie soll einer mit dem schwerwiegendsten, dem geheimnisvollsten, dem unfassbarsten und sensationellsten Wort umgehen, das je in einer Sprache vorkam? Hinter welchen fünf Buchstaben stehen mehr Fragezeichen? Mehr Glück? Mehr Abgründe? Mehr Heldentaten und Niedertracht? Mehr Genialität und Wahnsinn? Was ist teurer für den einen, und was könnte nicht billiger und wertloser sein für einen anderen? Was behüten Menschen mit mehr Macht, und was vernichten sie mit gleicher Vehemenz? Das LEBEN, klar.

Versprochen, auch dieses Buch wird das Mysterium nicht lösen. Denn ich habe – wie jeder von uns – keine Ahnung, woher unser Leben kommt und wohin es, nachdem es aufhört, verschwindet. Ich bin Darwinist, impertinent von seiner Idee der Evolution überzeugt. Dass der liebe Gott dahintersteckt, halte ich für eine Zumutung. Sie wurde von jenen erfunden, die von einem freien, selbstbestimmten Menschen – sprich selbstbestimmten Leben – nichts wissen wollen. Ihr Mensch soll Sünder sein, soll sich ducken und buckeln. Und den »Schöpfer« vergötzen. In alle Unendlichkeit.

Dass wir hinterher in die Hölle oder ins Himmelreich müssen, klingt noch infantiler. Wer sich ein bisschen auf der Welt umgesehen hat, wird feststellen, dass wir Himmel und Hölle schon haben. Mitten unter uns.

Ich will nicht ewig sein, will nur ein Leben, ein ganzes, vor meinem Tod. Will lieben und geliebt werden, will sein. Aber heftig, aber innig, aber sinnlich. Und am Tag nach meinem Tod will ich lichterloh brennen und ein letztes Mal Wärme abgeben. Und ein paar Momente als Asche über dem Indischen Ozean wehen. Und damit hat es sich.

Jetzt kommt die erste Enttäuschung: Der Autor verteilt keine Ratschläge, denn er weiß keine. Er weiß jedoch ein paar Geschichten, und die erzählt er. Da überzeugt, dass sie weiser sind und tiefer in Herz und Hirn fahren als Litaneien.

Nun, warum dieses Buch? Bevor ich darauf eingehe, hier ein Zitat von Haruki Murakami: »Mein Job als Schriftsteller ist es, die Menschen ihr elendes Leben vergessen zu machen.«

Schön befremdlich der Satz. Hundertmal nein! Ein Schreiber soll nicht einlullen, niemanden in Traumwelten jagen. Er soll das Gegenteil unternehmen: Die Leser in die andere Richtung treiben, zurück ins Leben, er soll ihnen den Rückweg ins Träumen versperren, soll sie beuteln und rütteln, sie verstören, sie lauthals daran erinnern, dass sie nur dieses eine verdammte Mal – die paar Jahrzehnte lang – lebendig sind, ja, dass ihr Leben das Unglaublichste ist, was ihnen je begegnen wird. Ach, dass jeder Tag um Mitternacht entschwindet. Unschätzbar, unwiederholbar, unwiederfindbar.

»Ich wundere mich«, schrieb Charles Bukowski, »wie mühelos vielen ihr Leben misslingt.« Der Alte war unerbittlich: mit welcher Leichtigkeit wir es hergeben, mit welcher Nonchalance wir ihm – unserem Leben – ausweichen und jeder Sirene hinterherlaufen, die zum Zeittotschlagen einlädt.

Ich mag solche Sätze, die wie Flammenwerfer daherkommen. Ich kopiere sie in mein Tagebuch. Damit sie dort weiterbrennen. Damit sie in mir lodern, damit ich nicht vergesse, dass ich genauso unter die Räder der Verblödung geraten kann. Dass auch ich mich eines Tages kommandieren lasse von den zwielichtigen Verführern, die mir meinen Verstand rauben wollen, meinen Willen, mein ganzes Leben. Ja, dass ich – das wäre ihr ultimatives Ziel – zum Schaf mutiere, das freudig blökt, wenn sie das Gatter aufhalten. Und ich hineintrotte und im großen Haufen, schon lange blökend, verschwinde.

Die Sehnsucht nach geistiger Enthaltsamkeit ist immens, nach Einschläfern der Vernunft, nach Einfrieren des Gehirns. Der Pfaffe hilft dabei, der Politiker, der Wachstumstrottel, ein Teil der Medien. Sie alle fordern unsere Besinnungslosigkeit. Wir sollen uns nicht besinnen, nein, wir sollen nachleiern und Ja sagen und shoppen und abends – hingerichtet von tausend Batzen Scheiße, mit denen sie tagsüber nach uns ausholten – vor der Glotze sitzen. Und glotzen.

Sind wir dafür auf die Welt gekommen? Ist das ein Menschenleben? Wie sagte es Herr Kant alias Immanuel, der Größte? »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« Das war vor 233 Jahren, und wir wollen nicht hinhören. Wir wollen dösen.

Ich habe lange über die Frage nachgedacht, was denn der Sinn des Lebens ist. »Gottgefällig zu sein«, wie es mir in der Kindheit eingebimst worden war, kam nicht infrage. Gott gab’s nicht. Nicht für mich. Zumindest nicht den einen, von dem ich im Religionsunterricht gehört hatte: der mich jahrtausendelang mit Feuer und Schwefel foltern würde. Mich, für mein kleines Leben mit meinen kleinen Sünden.

Wir kommen, wir treten ab. Gut, die Zeit dazwischen kann lustig sein, bunt, aufregend. Oder ganz anders, eben leidvoll, armselig, todfad. Der eine hat Glück, der andere geht durch ein Tal der Tränen. Ich schaue hin, und kein Sinn leuchtet mir ein. Nicht bei den einen, nicht bei den anderen.

Auch die Idee der Wiedergeburt klingt urkomisch: Der Glückliche war früher ein Held, ein Menschenretter, und deshalb führt er nun ein imposantes Leben. Und die 300 000 vergasten jüdischen Kinder waren in ihren Vorleben Raubritter und Schlächter. Und mussten deswegen in den Ofen.

Uff, die einen erfinden sich ein »Jüngstes Gericht«, an dem alle aus ihren Gräbern kriechen und vom Weltenschöpfer in Himmelsfahrer oder Höllenbesucher eingeteilt werden, und die anderen wissen von einem »Karma«, das als gnadenlos »gerechte« Instanz durch den Kosmos geistert. Unheimlich, was uns an Absurditäten bereits zugemutet wurde. Und unheimlich die Zahl der »Gläubigen«, die diesen Hokuspokus – souverän am Hirn vorbei – als »ewige Wahrheiten« schlucken.

Also, wo ist der Sinn? Ich habe, endlich, beim Schweizer Psychiater C. G. Jung eine Antwort gefunden, die wunderbar irdisch und intelligent anmutet: »Das einzig sinnvolle Leben ist ein Leben, welches nach der – absoluten und unabdingbaren – individuellen Verwirklichung seines ihm eigentümlichen Gesetzes strebt.« Das liest sich altmodisch (der Satz ist über hundert Jahre alt), ist aber hochmodern: Sinn macht, wenn ein Mensch das wird, was in ihm angelegt ist. Wenn er sich nicht verbiegen, nicht verleugnen, nicht verstümmeln muss. Wenn seine Talente in die Richtung gehen, die in ihm vorgesehen ist. Wenn er wird, was er sein will. Nein: sein soll.

Klingt das egoistisch? Wie das? Im Gegenteil: Leute, die ein erfülltes Dasein führen, sind glücksfähiger, sprich, friedfertiger als jene, die täglich zu einem Leben antreten müssen, das nur Wut und Überdruss in ihnen auslöst.

Ich weiß, dass einer zum Sich-Finden Glück braucht und die passenden Zufälle. Und die hilfreichen Frauen und Männer. Und Willenskraft und intuitive Intelligenz. Und – wie seltsam – eine Art »Schuldgefühl«.

Ich denke, dass das Leben ein Geschenk ist. Auf der Welt sein zu dürfen gilt als Privileg. Die meisten nehmen es so wahr. Wäre es anders, würden sie leichtfertiger sterben. Und stets bilde ich mir ein, dass mein Leben mir zusieht. Das ist ein schräger Satz, doch so empfinde ich es: Mein Leben beobachtet mich und fragt, jeden Tag, ob ich mich seines Geschenks würdig erweise. Oder ob ich wieder einmal faul bin, unbedacht und gleichgültig. Ja, ob ich vergessen habe, dass ich vergehe. Ich hasse diesen Blick. Und ich will ihn nicht missen. Solange er mich belauert, bin ich gewappnet.

Ja, das Leben will belohnt werden, hat es doch gerade mich ausgesucht.

Es gibt noch andere Blicke auf mich. Von Leuten, die noch nie etwas von mir gehört haben. Es sind die Schriftsteller, die ich las. Und lese. Und von denen ich mir wünsche, dass sie mich nicht aus den Augen lassen. Frauen und Männer, die vom Jenseits nichts wissen wollen und nur vom Leben hier auf Erden berichten. Die nie Trost suchen im Außerirdischen und die mir, ihrem Leser, jeden Fluchtweg ins Gatter abschneiden. Zerren die einen Richtung Bewusstseinstrübung, so ziehen sie, »meine« Autoren, mich mitten hinein in die Wirklichkeit. Sie sind meine Seelenwächter. Vor ihnen bekomme ich ein schlechtes Gewissen, wann immer ich mich dabei ertappe, ihren Ansprüchen nicht zu genügen. Wut steigt hoch. Über mich. Und ich verspreche, nein, ich schwöre – auch mir –, ab sofort mein Kostbarstes nicht mehr zu verraten.

Bis wieder Tage passieren, die k. o. machen oder die ich nur hassen will, weil kein Glanz sich ausbreitet und der niederträchtige Alltag daherkommt: so beladen von Banalität, so umzingelt von müden, unfrohen Visagen. Oder ich – noch deprimierender – nur glänzenden Gesichtern begegne. Die mich ungerührt daran erinnern, dass nichts an mir funkelt.

Manchmal muss ein Drama her. Damit wir uns bewusst werden, dass wir nichts Schöneres haben als unser Leben: Nachdem am 26. Dezember 2004 der Tsunami über Thailand gedonnert war, fuhr ich (unverwüstet) am nächsten Tag nach Phuket. Auf der Suche nach einem vermissten Freund, der sich dort aufhielt. Die Ostküste der Ferieninsel hätte als Kulisse getaugt für einen Film über den Untergang der Welt. An manchen Stränden lagen noch die von der Hitze aufgedunsenen Leichen.

Ich besuchte die Schwerverletzten im Krankenhaus, Kinder, Eltern, Greise. Ich fand eine Deutsche, die eine Stunde zuvor den Operationssaal verlassen hatte. Marion war zusammen mit ihrer Lebensgefährtin von der Flut überrascht worden. Bevor die Killerwelle den gemieteten Bungalow niederwalzte, hechteten die beiden hinters Bett und klammerten sich aneinander. Vergeblich, die Wucht riss sie entzwei, die Freundin verschwand im Strudel, und Marion trieb mit hoher Geschwindigkeit durchs Wasser. Bis irgendwo ein Baum herausragte und die Äste sie auffingen.

Einen halben Tag lang durfte sie nicht loslassen, dann wurde sie evakuiert. Sie wusste inzwischen, dass sie »alles verloren« hatte. Sie dachte an die Vertraute, nicht an den mitgebrachten Besitz. Weitere operative Eingriffe würden folgen, denn an verschiedenen Körperstellen fehlten ihr Fleischfetzen, weggerissen von Gegenständen, die ihr entgegengeschossen waren. Der Schock hatte sie zuerst wenig spüren lassen, jetzt spürte sie den ganzen, den überall verwundeten Leib. Aber die physische Drangsal, flüsterte Marion, sei nichts im Vergleich zu den Bildern in ihrem Kopf: voller Toter, links und rechts an ihr vorbeidriftend. Als ihr Leben an einem Ast hing. »Mein Gott«, meinte sie beim Abschied, »was habe ich in meinem Leben getrödelt. Das muss aufhören.«

Das war ein bravouröser Vorsatz: Nicht trödeln im Leben! Manche, könnte man behaupten, brauchen ein Desaster. Um aufzuwachen. Andere jedoch haben gar kein Glück, denn nie kommt ein Unglück nahe genug. Eins, das wie ein Orkan über sie hereinbricht. Auf dass sie lernen, das Wichtige vom Idiotischen zu trennen.

Wochenlang standen in der Bangkok Post Zeugenaussagen von Überlebenden, und die meisten redeten davon, dass sie erst nach der Begegnung mit dem Tod erkannt hätten, wie einmalig das Leben sei und wie verschwenderisch nachlässig sie bislang damit umgegangen seien.

Leben soll wie eine Droge sein. Doch bei vielen hört sie irgendwann auf zu wirken. Statt high zu bleiben, werden sie ranzig. Oder nisten sich, so nennen die Engländer das, in ihrer quiet desperation ein, verstummen, fressen sich voll, saufen sich voll, erdrosseln eine Sehnsucht nach der anderen.

Jeder hat seine eigene Methode, um sein Leben abzuschaffen. Wer kennt sie nicht, die ZeitgenossInnen, die zu ambulanten Tränensäcken mutierten? Die keine Gelegenheit versäumen, uns ihren Erdenjammer vorzugreinen. Und dabei gleichzeitig Ausschau halten nach Schuldigen.

Was das Leben nie kümmert. Es ist taub für Elendsjeremiaden. Sie verpuffen. Das Leben will geliebt werden. Sonst lahmt es. Wer es nicht bewundert, wer nicht in höchsten Tönen von ihm erzählt, der bekommt ein Scheißleben. Es funktioniert ein bisschen wie zwischen den Menschlein: Wer liebt, wird Liebe finden. Und wer hasst, der verkümmert.

Jeder weiß es: Die Lebensspanne ist ein Witz im Vergleich zu den Myriaden Jahren, die die Welt bereits auf Reisen ist. Ein Nullkommanichts. Und doch: Es kann sich ewig hinziehen. Wenn der Treibstoff fehlt, das Kerosin Freude, die Überraschungen, der Eros, das Verlangen, die Lust auf Wissen, die Neugier auf andere. Ein Leben als Leiche dauert viel länger als das Leben von einem, der ins Leben verliebt ist.

Während einer Reise durch die USA kam ich nach Cape Canaveral, dem Ort in Florida, in dessen Nähe die NASA auf dem Kennedy Space Center Raumfähren in den Weltraum jagt. Für diesen Tag war ein Start geplant. Ich kam mit Frank ins Gespräch, einem freundlichen Touristen aus Iowa, Biologielehrer und ein – wie sich herausstellen sollte – kluger Kopf.

Um genau vierzehn Uhr ging es los. Ein Höllenfeuer stob aus dem gigantischen Auspuff, riesige Wasserdampfwolken waberten über den Boden, die Arbeitsbühne brach nach allen Seiten weg, und mit ungeheurer Power hob der Shuttle ab.

»Schau«, sagte Frank, nachdem das Getüm am Himmel verschwunden war, »was jetzt gerade passierte, ist eine Metapher im Zeitraffer für das Leben. Hast du das gesehen? Die Urkraft, mit der die Fähre sich losriss? Das ist ein Bild für die Jugend. Sie will davon, sie will ein eigenes Leben. Doch bald, noch vor der Überwindung der Erdanziehung, tritt das Haupttriebwerk in Kraft. Das ist die Zeit, in der ein Mensch seinen Beruf findet, sich ausbildet, studiert, heiratet, eine Existenz gründet. Zuletzt wird der Tank abgeworfen, und das Raumschiff befindet sich in seiner Umlaufbahn. Und da bleibt es und dreht sich im Kreis. Bis es verglüht.«

Ich hatte keine Ahnung, ob die drei Stufen technisch so abliefen. Trotzdem, Franks Idee klang einleuchtend: wie wir als Jugendliche träumen, wie wir erobern wollen, ja, bersten vor Drang. Dann – zweite Phase – erwachsen werden, lernen, Arbeit finden, doch gleichzeitig unser Leben verbarrikadieren mit Verpflichtungen, mit Hypotheken, mit Entscheidungen, die lebenslängliche Pflichten, schlimmer, Zwänge, nach sich ziehen. Und wir viel zu früh – dritte und letzte Runde – im Kreisverkehr der Routine landen. »And we fade away«, sang Neil Young.

Das Rauschmittel Leben muss man sich gut einteilen. Es soll für achtzig Jahre reichen. Denn eine gräulichere Aussicht gibt es nicht: als sterben zu müssen mit einem längst erkalteten Herzen.

Was einem Menschen überaus zuträglich wäre, um eher launig durchs Leben zu kommen? So einfach: some craziness. Wer mit einer Brise Verrücktheit unterwegs ist, einer lustigen, leichtsinnigen, der wird die Tage verspielter hinter sich bringen. Weil er immer lebt und nie tot ist. Einer, der um die Abgründe weiß, aber sich nicht hineinziehen lässt, dem gehört etwas, das haltlose Bewunderung fordert: Heiterkeit und Tiefe*.

Ein Moment im Leben

Jetzt gleich und dann nach jedem zweiten Kapitel kommt Ein Moment im Leben. Kein Wölkchen wird diese Minigeschichten überschatten. Sie werden nur vom Phänomen Leben erzählen. Und vom Phänomenalsten dort: von Frauen und Männern. Auf verschiedenen Kontinenten. Ohne den geringsten Bezug zu den Themen davor oder danach. Selbstverständlich werde ich in den übrigen Texten (auch) maulen und bisweilen fassungslos sein über so viel allwaltende Borniertheit und Kaltherzigkeit. Aber in den Momenten soll vom (makellosen) Wunder Leben berichtet werden. Oder von Herzenswärme, die urplötzlich ausbricht, weil ein Mensch – zur rechten Zeit – erkannt hat, dass kein anderes Mittel hilft als Sanftmut, als Beschwingtheit.

Stopp, nein, nur sanft, das geht nicht. Nicht bei mir. So müssen auch Episoden voller Rätsel und Absurdität vorkommen. Die einen perplex zurücklassen. Was jedoch allesamt verbindet: Jede erzählt uns etwas vom Leben, dem oft unbegreiflichen. Selbst die Anekdote, die eher strapaziös beginnt und es doch – in der letzten Kurve – zur happy ending story schafft.

Ich liebe diese flirrenden Passagen, mitten am Tag, mitten in der Nacht. Sie sind ein unglaubliches Geschenk, da sie mich zu einer meiner Lieblingsbeschäftigungen verführen: zum Staunen.

Ein Moment im Leben –
Ein Gentleman in Boston

Tatort Boston, Tatort Subway. Früher Abend, Fahrt vom Flughafen ins Zentrum, ruhige Atmosphäre, alle Sitzplätze sind belegt. Plötzlich geschieht etwas Banales, aber ungemein Anrührendes. Und es kann nur so geschehen, weil – vermute ich – jeder im Waggon die komplizierten (inneren) Vorgänge der Beteiligten begreift. Wie auch immer, keinem entkommt eine falsche Geste, die Szene passiert wie inszeniert. Wie vorher abgesprochen.

Ein Mann, vielleicht sechzig, versucht, sich von seinem Platz zu erheben. Ein Einbeiniger, wie man ihn heute kaum noch sieht. Denn sein rechter Oberschenkelstumpf steckt in einem zugenähten Hosenbein. Das Aufstehen erweist sich als schwierig. Der Mensch kann seine beiden Krücken nicht voll einsetzen, zu eng die Umgebung, zu rutschig der Boden. Zudem scheint ihm auch sein vollständiges Bein Schmerzen zu bereiten, wenn er es belastet. Ich sehe alles, da ich nur zwei Meter entfernt sitze, schräg gegenüber. Und (diskret) beobachte.

Der Mann ist zäh, er will stehen und nichts wird ihn daran hindern. Und keiner hilft. Was ich in diesem Augenblick nicht als Mangel an Mitgefühl erlebe, eher als wohlweisliche Zurückhaltung. Jeder weiß um die Empfindlichkeit von körper­lich Behinderten, die sich und der Welt beweisen wollen, dass sie »normal« sind und dass nicht sofort die Feuerwehr gerufen werden muss, wenn ein Hindernis auftaucht.

Irgendwann klappt es, der Mann fasst nach der Stange, an der sich üblicherweise die stehenden Fahrgäste festhalten. Und richtet sich mit einem letzten Schwung auf.

Jetzt kommt es, das Sensationelle. Er sagt zu der Frau, die gewiss nicht älter ist als er und die als Einzige nicht sitzt, sagt ruhig und lässig: »Please, have a seat.« Und ihr Herz ist klug genug, diese Geste zu begreifen: sie eben nicht dankend abzulehnen, der Einladung nicht mit dem unsäglichen Hinweis auszuweichen, dass er, der Gentleman, den Sitzplatz doch viel nötiger habe. Nein, sie lächelt ihn an und erwidert leise: »So kind of you.« Und setzt sich. Und der Einbeinige balanciert nun neben der Stange und tut, als wäre nichts gewesen.

Wir, die Rüpel, tun es ihm nach, ja, sind stillschweigend ergriffen von ihm, dem Ritter. Und, auch ganz still, ein wenig erschrocken über uns, die Hockenbleiber.

KINDHEIT

Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin meinte einmal, dass sich mit Literatur Menschen befassen, die durch Traumata und Erschütterungen in der Kindheit die Welt verloren hätten und nun zurückblieben. Wie hinter einem abfahrenden Zug. In diesem Zug säßen Leute mit gesunden Berufen, wie Tischler, Bankiers, Krankenschwestern, Fischer. Die Schriftsteller liefen ihr ganzes Leben lang hinter diesem Zug her: »(…) in der Hoffnung, ihn einzuholen. Aber die Hoffnung trügt. Uns bleibt nur, diesen Zug zu beschreiben, seine Waggons, Räder, den Rauch aus dem Schornstein, die Reisenden hinter den Fenstern. Und unser Los ist es, so lange hinter ihm herzurennen, bis wir auf den Gleisen zusammenbrechen.«

Das klingt poetisch, aber nicht sehr wirklichkeitsnah. Denn ich kenne Tischler, Krankenschwestern, Banker und andere mit gesunden Berufen, die auch früh in eine Kampfzone gerieten. Und die ähnlich aussichtslos einem Zug hinterherrennen, dem Zug der fröhlichen Kindheit. Und genauso auf der Strecke bleiben. Der einzige Unterschied: Ihnen fehlt die Wunderwaffe Sprache, um die Wundstellen auszuhalten. So erwischt es viele von ihnen jeden Tag kalt. Da weit und breit kein Heilmittel zur Verfügung steht. Nicht Sprache und nichts anderes, um das Herzblut zu stillen.

Man kann die Sache natürlich von einer ganz anderen Seite betrachten. Der ironischen, der witzigen, der voller Hintergedanken. Der Satz der französischen Theaterautorin Yasmina Reza gehört dazu: »Eine glückliche Jugend ist keine gute Voraussetzung für das spätere Leben.« Wie wahr und wie furchtbar: sorgenfrei aufzuwachsen und als Ergebnis ein zahmes, fügsames Leben zu führen. Jeden Tag Allerweltsleben, jeden Tag angepasst, jeden Tag unfähig zu widersprechen. Immer Würstchen, das stillhält. Und jeden Abend – uralte 35 ist man inzwischen geworden – heim zu Mutti zu fahren. Denn bei ihr geht’s zu wie in der Kindheit. Schön lieb, schön brav, schön warm.

Oder die Muttersöhnchen sind längst verheiratet: damit die Frau Gattin die Frau Mutter ersetzt.

Oder die Folgen beschwerdefreier Kinderjahre enden noch dramatischer: Der Unbeschwerte mutiert zum unglücklichen Erwachsenen. Hier die Mail eines 53-jährigen Mannes, der »Das Scheißleben meines Vaters …« gelesen hatte und schrieb: »Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Altmann, hatte ich eine selige Zeit als Kind. Und heute könnte mein Leben nicht unseliger sein. Und wissen Sie, warum? Weil ich keine Widerstände spürte und mir jeder Wunsch erfüllt wurde. Ich will sagen, dass ich nicht gelernt habe, mich durchzusetzen und für etwas zu kämpfen. Sie schon.«

Sehr wahr. Das verdanke ich meinem Vater. Dank ihm entdeckte ich meinen Zorn. Und irgendwann, als ich mich traute, meinen Hass. Den reinen, blanken Hass. Später den Hass auf (fast) alle Erziehungsberechtigten. (Wobei Kinder unfehlbar erkennen, wer sich ihnen gegenüber fair verhält und wer nicht.) Und Hass, jeder weiß es, ist nur ein anderes Wort für Energie: Wenn man verstanden hat, den Hass, der sich ja auch gegen einen selbst richtet, weil die großen Menschen die Kleinen so oft mit dem hundsgemeinen Gefühl der Wertlosigkeit infizieren, wenn man das meistert, diesen Selbsthass in den Schrei »Ich will leben!« umzupolen, dann ist man gerüstet für den Rest der Tage, die kommen, sobald die Kindheit aufhört. Ab dieser Stunde wird jeder mit einem »Fuck you« bedacht, der sich anmaßt, die Lebenslinien – respektlos – zu überschreiten.

Ach, die glückliche Kindheit. Vor Kurzem hörte ich ein altes Interview mit Kurt Cobain, dem Gründer und Sänger von Nirvana. Er sagte, unter anderem: »I had a very good childhood.« Nicht so viele Wochen später kaufte er sich eine Browning Auto-5, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank seiner Millionenvilla, packte noch ein paar Diazepam-Tabletten ein, vergaß auch nicht, eine ordentliche Portion Heroin mitzunehmen, ging rüber zum Gartenhaus, jagte alles in seinen Körper und – jetzt ruhig und gefasst genug – hielt sich die Flinte an den Kopf. Und drückte ab. Er war 27, und die glücklichen Tage von little Kurt lagen so weit noch nicht zurück.

Eisern steht, dass ein Kind, das es per Crashkurs mit dem Leben aufnehmen muss, die größeren Chancen hat, nicht als Duckmäuser seinen 18. Geburtstag zu feiern. Es kennt sich besser aus in der Welt der Hinterhältigen, es vertraut mehr auf sich, es verfügt über mehr Tricks, mehr Fluchtwege, ist resistenter gegen Selbstmitleid und Infantilisierung, ja, es spitzt schneller die Ohren, wenn Unheil droht. Es wird, um es mit einem originellen englischen Wort zu beschreiben, streetwise. Das ist jemand, der gerissener auf der Straße (des Lebens) zurechtkommt. Er benimmt sich weiser, frecher, widerspruchsbereiter als die Rundumversorgten.

In meiner Klasse im Gymnasium bekamen die aus gutem Haus die guten Noten. Wobei »gutes Haus« sich hier nicht auf einen vermögenden Hintergrund bezog. Eher auf ordentliche Verhältnisse. Mit beflissenen Eltern, den CSU-Kopf voller Regeln und Werte. Felsenfeste, die nie infrage gestellt wurden. Es gab keine Bruchstellen, nur ewige Wahrheiten. In einem solchen Biotop gedeihen Streber, gut organisierte Jasager und Mitschüler, die keinem abzuschreiben erlaubten. Ihr Verhalten galt als – so stand es im Zeugnis – »vorbildlich«. Zehn Jahre später arbeiteten sie als Zahnärzte in Niederbayern oder höhere Beamte im Katasteramt der Landeshauptstadt. Die Väter waren stolz, die Mütter, die Söhne.

Auf uns Loser blickte niemand mit Wohlwollen. Bei uns zu Hause ging es unordentlich zu. Vater kaputt, Mutter kaputt und keine Sekunde hingerissen von ihren Nachkommen. Rückblickend könnte ich nicht behaupten, dass wir uns im Klassenzimmer als die Cooleren aufgeführt hätten. Okay, wir wären bereit gewesen, den Nachbarn spicken zu lassen. Aber bei uns gab es nichts zu spicken. Das einzig Löbliche, das sich über uns berichten ließe: Wir wollten nie Zahnärzte werden. Und nie Beamte. Klar, wir wollten auch etwas werden. Aber etwas, das glitzert. Und nie etwas, das schon zu Lebzeiten einäschert.

Nicht weit von meiner Pariser Wohnung gibt es einen Kindergarten. Jeden Tag ziehen die kleinen Menschen vorbei, Hand in Hand, gelbe, weiße, schwarze Menschlein, achtsam begleitet von ihren Erzieherinnen. Und jedes Mal denke ich, dass (fast) alle Kinder schön sind. Und jedes Mal frage ich mich, welches von ihnen über die (innere) Power verfügt, das Leben zu führen, das es sich eines Tages ausdenken wird. Und wer die Lieben findet, die sein Leben reicher machen. Und dem Beruf nachgeht, der Freude in seinen Alltag bringt.

Ja, es vom Vierjährigen zum Vierzigjährigen zu schaffen, der mit einem heiteren Lächeln auf die Hälfte seines Lebens zurückblickt und der sich – trotz schmerzhafter Bauchlandungen – einbilden darf, nicht alle seine Ziele verraten zu haben: standing ovations!

Ich bin kein Vater, und ich will kein Vater sein. Aber jedes Kind, das sich in meiner Nähe befindet, soll wissen, dass es in mir einen Prince Braveheart hat, einen Verbündeten, der nicht zulassen wird, dass ihm vor meinen Augen Gewalt widerfährt. Mit Worten oder mit Schlägen oder mit allem. In solchen Augenblicken steigt ein geradezu viszeraler Hass in mir hoch, direkt aus den Eingeweiden, unabwendbar und unbelehrbar von Aufrufen zum guten Benehmen. Wer über ein Jahrzehnt lang Vaterfäuste, Lehrerfäuste und Pfaffenfäuste auf seinem Kopf und seinem Körper aufschlagen fühlte, dem hilft kein anger management course, der will nur dazwischenfahren und »Stopp« brüllen.

Wie in Indien, als ich im Gewühl eines Großstadt-Trottoirs Schreie hörte, verzweifelte Schreie. Ich drängte mich durch und sah einen Mann, vermutlich den Vater, auf einen vielleicht Zehnjährigen ausholen, vermutlich seinen Sohn. Schwungvoll und unbeeindruckt ausholen, trotz der Tränen und trotz des Flehens des Kleinen. Ich packte den Rabiaten am rechten Oberarm und informierte ihn mit überschlagender Stimme, dass ich die Polizei holen würde, wenn er nicht sofort seinen Sadismus abstelle. Das wirkte. Möglicherweise nahm er jetzt die missmutigen Blicke der anderen wahr, kann sein, dass er sich nicht mit einem »Weißen« anlegen wollte. Keine Ahnung, auf jeden Fall hatte der Junge seinen Frieden. Solange ich in der Nähe war.

Hinterher wurde mir klar, dass der Ruf nach der Polizei in Indien nicht unbedingt zum Weltfrieden beiträgt. Denn bei den hiesigen Ordnungshütern weiß man nie so genau, wessen Ordnung sie gerade hüten. Die der Kinderschläger, die der Korrupten, die der Vergewaltiger? Und dann fiel mir das Wort vom »Fluch der guten Tat« ein. Möglich, dass das Kind zu Hause die doppelte Portion Hiebe bekam. Um für die öffentliche Demütigung des Vaters zu büßen. Aber ich bereute nichts. Man kann keine Absicht bis zur letzten Konsequenz zu Ende grübeln. Irgendwann muss eine Tat her, irgendwann muss man bereit sein, die Konsequenzen dieser Tat auszuhalten.

Nächstes Beispiel. Arztpraxis. Das ist ein Ort, an dem die Nerven grundsätzlich blank liegen. Wer sitzt schon begeistert unter anderen Genervten in einem kahlen Raum, in dessen Mitte ein Tisch voller Friseursalon-Illustrierten steht? Ich las angestrengt in der mitgebrachten Zeitung, um mich und die Welt zu ertragen. Bis eine Frau in diesem typisch nörgelnden Ton auf ihr Kind einredete. Das herumschlenderte, Dinge inspizierte, sich die Leute anguckte. Eben ein Winzling, den eine wunderbare Neugier trieb. Aber das Weib wollte keine wissenshungrige Tochter, sie wollte eine Gehorsame, eine artige Stillsitzerin. Wie sagte es Frank Zappa: »Je langweiliger das Kind ist, desto mehr Komplimente bekommen die Eltern.«

Meine Ruh war hin. Denn die Gouvernante hörte nicht auf. Offensichtlich sollte ihr Nachwuchs werden wie sie: stinken vor Fadheit und später – sie tat es gerade – Gala durchblättern mit »Ehe kaputt!« als Titelgeschichte. Um das Klischee zu vervollständigen: Wie ihr Begriffsvermögen, so lief auch ihr Leib bereits auseinander. Und der Ton der Beleibten wurde penetranter, irgendwann schrill, ja, schwerst hysterisch. Stimmbänder, die Glas zerschneiden.

Wird ein Kind nicht körperlich bedrängt, halte ich mich eine Weile zurück. Ich bin nicht als mobiles Jugendgericht unterwegs. Zudem kann sich eine Situation entspannen, die Tonlage wieder gemäßigter werden.

Aber nichts entspannte sich, die Kanonade geifernder Zurechtweisungen ging weiter. Bis ich mir – unter Aufbietung letzter zivilisierender Kräfte – verbat, sie als kreuzblöde Idiotin anzusprechen, die in ihrem Scheißleben nichts anderes zu tun hatte, als ihre Tochter darauf zu dressieren, die gleiche kreuzblöde Idiotin zu werden wie sie. In solchen Momenten fange ich an zu zittern. Ausgelöst wohl von diesem uralten Hass, den einst jeder jeden Tag anstachelte, der sich dazu berufen fühlte, mich, das machtlose Kind, meiner Freiheit zu berauben: indem er Anordnungen und Befehle auf mich niederprasseln ließ, die mich zu all dem aufforderten, was ich verachtete.

Wie ich in Bruchteilen einer Sekunde zu dem indischen Sohn mutiert war, so mutierte ich jetzt zu dieser französischen Fünfjährigen, die leben wollte und nicht leben durfte: Weil ihre Mutter, die ihr Hirn wohl als Schließmuskel herumtrug, sie brachial daran hinderte. Wie ein Dämon fuhr dieser Hass in mich, und ich informierte – jedes Wort ein Messer – die Ärmste im Geiste laut und deutlich darüber, dass sie ab sofort ihr »dämliches Mundwerk« halten und das Kind in Ruhe lassen solle.

Sie hob den Kopf und sah, wie aus meinen Augen Feuer fauchte. Ich kenne diesen Zustand an mir, und er ist eindeutig. So redete sie nicht dagegen, nuschelte nur unverständlich und – schwieg. Das Kind reagierte kurz irritiert, schaute auf die Mutter, schaute auf mich und – lächelte. Und düste wieder durch das Wartezimmer. Um ein Haar hätte ich Ringelreihen mit ihm getanzt. Aus Freude über so viel (lebensbejahende) Renitenz.

Mein Vater war nicht der Einzige, der Kinder nicht aus Liebe in die Welt setzte, sondern weil er Sparringspartner brauchte: um an ihnen seine Wut über das eigene misslungene Leben abzuarbeiten. Söhne als Projektionsfläche für alle Pleiten. Wie jemanden mit Hurra umarmen, wenn man an längst erdrosselten Sehnsüchten erstickt?

Aller schlechten Dinge sind drei, hier das letzte Beispiel: Ich war mit einem Fernsehteam in Altötting, um dort, im unsäglichen Geburtsort, Stellung zu nehmen zu den im »Scheiß-Buch« erzählten Szenen des Missbrauchs und der Misshandlung. Wir drehten in einer unbelebten Straße, die Kamera war eingerichtet, ich stand davor, die Regisseurin stellte die Fragen. Das ging gut, bis ein Mann, Typ Daddy, aus einer Seitengasse kam, innehielt, aus fünf Metern Entfernung zuhörte, wie ich detailliert eine zügellos-körperliche Züchtigung beschrieb, er sich näherte, ungeniert die Aufnahme unterbrach und den einen Satz sagte, den keiner in meiner Gegenwart aussprechen darf: »Ein paar Maulschellen haben noch niemandem geschadet.« Und ich, nach einer Schrecksekunde, auf ihn zuging, ihn schüttelte und ihn aufforderte, die »Kacke« nochmals zu wiederholen. Und der Typ mich zurückstieß, und ich – jetzt gewiss schwarz im Gesicht vor Abscheu – ihn ein zweites Mal packte, bereit, ihm in die selbstzufriedene Fresse zu schlagen: Da waren schon zwei Leute vom Team dazwischengegangen, um einen Akt der Körperverletzung zu verhindern.

Dass ich die drei Fälle erwähne, demonstriert unzweifelhaft, dass meine Sozialisation in manchen Lebensbereichen