Buchcover

Petra Werner

Darwin

Die Entdeckung des Zweifels

Saga

Meinen Lehrerinnen und Lehrern gewidmet
. . . und Frederic Larry Holmes

Kapitel 1

Der Schock

I.

Down. Im September 1842 waren Charles und Emma Darwin zum ersten Mal in den kleinen Ort 16 Meilen südlich von London gekommen. Ihre Kutsche rollte den Weg hinauf, Platanenblätter fielen vor ihnen auf den mit Feuersteinen gespickten Sand. Die Steine waren gespalten und offenbarten ihren blaugrauen Kern mit wirren Mustern aus blauen und weißen Äderchen, die sich in der Mitte verknäuelten und an den Rändern verloren. Die wenigen Menschen, die hier draußen lebten, wussten die geheimen Botschaften der Erde zu schätzen und hatten die Fassaden ihrer Häuser mit aufgeschlagenen Feuersteinen dekoriert.

Darwin und seine Frau passierten von London aus kleine Orte, in denen nur wenige Häuser und stets eine alte Kirche standen. Im Kirchgarten von Down, direkt gegenüber dem Pub »Georg und der Drache«, stand ein riesiger Lebensbaum, ein Solitär mit hohlem Stamm, in dem sich mindestens zehn Kinder zugleich verbergen konnten.

- Ja, entschied Darwin spontan, und Emma verstand ihn ohne Erklärung.

Das Paar erreichte ein Haus, das mit Efeu bewachsen war, und Darwin bestand darauf, zuerst die Umgebung zu sehen. Im Garten stand ein riesiger Maulbeerbaum, dessen Früchte man von den oberen Stockwerken aus pflücken konnte.

- Milton, sagte Darwin nur, und da Emma fast alle seiner Geschichten kannte, wusste sie, dass er sich wieder an den riesigen Maulbeerbaum im Garten des Christ College in Cambridge erinnerte, wo er studiert hatte. Dort hatte der große Dichter und Philosoph, diese Leuchte der englischen und der Weltliteratur, wenn nicht sogar der Weltwissenschaft oder der Wissenschaft von der Welt, John Milton, einen Maulbeerbaum gepflanzt, den Generationen von Gärtnern liebevoll pflegten. Niemand erwähnte jemals, dass dieser Baum das Zeugnis eines gescheiterten Traums von einer Seidenraupenzucht war, von dem Deutsche und Franzosen einst gleichermaßen besessen waren. Zuweilen stellten sich Studenten unter die tief herabhängenden Zweige und hofften auf Inspiration, zuweilen sogar auf Erlösung von echten oder vermeintlichen Sünden. Rund um den Stamm hatten Gärtner große Mengen Erde angehäuft, die nun mit einem dichten Teppich aus Efeu bedeckt war. Darwin, der dünne Student aus reichem Hause, hatte den Baum geliebt, er war nachts auf den Hügel geklettert und hatte sich in dem hohlen Stamm verkrochen, um dem Summen der Bienen zuzuhören, den Zickzackflug der Fledermäuse zu verfolgen, die Himmel und Hölle mit unregelmäßigen Stichen zusammennähten.

Und nun fand Darwin, fünfzehn Jahre später, wieder einen großen Maulbeerbaum vor. Er, seine Frau und die Kinder würden die Früchte aus dem Fenster der oberen Etagen pflücken können, wunderbare, säuerliche Beeren, die dunkelrote, markante und deshalb sehr gefürchtete Flecken hinterließen.

- Ja!, sagte Charles Darwin noch einmal und Emma gab ihm spontan recht.

Nachdem sie eine Weile unter dem Maulbeerbaum geruht und in den Himmel geschaut hatten, dessen Licht von den Blättern gefiltert wurde und gelblich und grünlich niederschien, gingen sie auf überwachsenen Pfaden in den Garten hinter dem Haus. Die Anlagen waren ein halbes Jahr ohne Pflege geblieben und das Ergebnis war für jeden Engländer ein Schock. Alles war verwildert und ungepflegt, nur der Rasen war bis zuletzt betreut worden, mochten die Eigentümer auch noch so krank und gebrechlich gewesen sein. Noch nachts und an zwei Krücken waren sie aufgestanden, hinausgeschlurft und hatten ihr Werk vollbracht.

War er dicht genug? Hatten sich nicht etwa Spitzwegerich oder gar Löwenzahn eingeschlichen? Oder, was noch schlimmer war, ein Käfer? War der Rasen feucht genug, aber nicht zu feucht? Vermittelte er beim Betreten das gute Gefühl, auf einem Perserteppich zu laufen, etwa so wie im Londoner Opernhaus, wo man in den Flor einsank und in dem man einen abgerissenen Knopf oder eine Brillantbrosche niemals wiederfand?


Rasenpflege war man dem Empire schuldig.

- Knopfkraut, sagte Emma.

- Braut im Schleier, antwortete Darwin.

- Heide.

- Kamille.

- Jelängerjelieber.

- Vergissmeinnicht.

- Hafer.

- Hornklee.

- Rotklee, Speise von tausend Eseln.

Sie lachten.

- Eine Rose, jubelte Darwin plötzlich, die Lord-Byron-Rose, rot-weiß gestreift.

Sie blieben lange stehen, um abwechselnd ihre Nasen ins Innere der auffälligen Blüten zu versenken, die sich weit geöffnet hatten und schon den Verwesungsgeruch des Herbstes in sich trugen.

- Und hier steht die Napoleon-Rose, ergänzte Emma lächelnd.

- ’Tis done – but yesterday a King! And arm’d with Kings to strive – And now throu art a nameless thing: so abject – yet alive!, deklamierte Darwin Byrons Ode an Napoleon Bonaparte.

- Aber es heißt auch: but once – the world was mine!, fügte Emma hinzu und meinte:

-Napoleon. . . Ich habe ihn immer bewundert, immerhin konnte er mit dem Säbel Champagnerflaschen köpfen.

Emma warf ihren Kopf mit einem Ruck nach hinten, wobei das Medaillon auf ihrer Brust herumflog und seine goldene Rückseite zeigte. Darwin schwieg ärgerlich, weil er Frankreich weniger liebte als seine Frau, die sich von Frédéric Chopin im Klavierspiel hatte unterrichten lassen. Außerdem beschlichen ihn unablässig Sorgen, nach den Goldfunden in Kalifornien könnten seine Investitionen wertlos werden, seine Kinder nicht den richtigen Platz im Leben finden und die Franzosen könnten das Empire besetzen. Bonaparte war tot, aber was hatte Napoleon III. vor?

- Bonaparte war übrigens auch nicht gesund, setzte Darwin das Gespräch nicht ohne Befriedigung fort, angeblich ist er vergiftet worden und an einem Leberleiden gestorben. Am Ende muss er völlig gelb ausgesehen haben. Ich habe in St. Helena von seinem Grab etwas Erde und einen abgeschlagenen Stein mitgebracht. Ich habe beides an Ehrenberg nach Berlin geschickt.

- Du hast was? Aber Charles!, sagte Emma und bekreuzigte sich, während sie ihn wie ein ungezogenes Kind anschaute.

II.

Im Juni 1858, sechzehn Jahre später, traf in Down ein Brief aus Malaysia ein. Darwin war gerade auf dem Sandweg unterwegs, den er Think Path nannte. Er trug Hausschuhe mit großen schwarzen Schnallen, die nicht geschlossen waren und ständig hin und her klappten, und, obwohl es warm war, zwei Pullover und eine Jacke. Zu groß war seine Angst, sich zu erkälten oder gar an einer Lungenentzündung zu sterben. In dieser Sorge glich er, freilich ohne es zu wissen, Voltaire.

Der Schlängellinie des Think Path folgte er für gewöhnlich zweimal am Tag, um über seine Projekte nachzudenken. Diesen Sandweg war er schon viele tausend Mal gegangen, es war eine Art behüteter Zwischenwelt, die das Haus mit der Wildnis, mit Wiesen, Schafen und fremden Menschen verband. Hierher hatte er seine Fragen und seine Einsamkeit getragen, hatte er schleppenden Schrittes jahrzehntelang seine Runden gezogen. Heute war er am frühen Morgen zwischen den Baumstämmen dahingegangen und hatte über die Folgen der Domestikation von Tauben nachgedacht. In das Gesumm von Bienen hinein nannte er die Namen der Züchtungen: Schopftauben, Purzeltauben, Perückentauben, Mähnentauben, Rebhuhntauben, Pfauentauben, Verkehrtflügel-Kröpfer, Altdeutscher Kröpfer. Besonders die Kröpfer, Tauben mit riesiger gewölbter Brust und noch größeren, filzlatschenähnlich bewachsenen Füßen, mit denen es unmöglich war zu fliegen, interessierten ihn. Waren diese hochgezüchteten Haustaubenrassen, die alle aus der bescheidenen, eleganten Felsentaube hervorgegangen waren, nicht sehr gute Beispiele für die Macht des Menschen, die Natur zu beeinflussen? Übernahm nicht der Züchter gleichsam die Rolle der Natur? Friedfertig wie Tauben? So etwas konnte nur jemand sagen, der nichts über Tauben wusste, waren sie doch die zänkischsten Lebewesen, die er kannte. Ihm fiel der Satz ein: Die Poesie kommt zuweilen auf Taubenfüßen, und er musste an die plumpen, befiederten Füße der Zuchttauben denken und lächelte. Dann fielen ihm sogenannte Purzeltauben ein, die kopfüber Leitern herunterfielen. Wie viele unterschiedliche Taubenskelette lagen auf seinem Schreibtisch! Wie viele einzelne Knochen und Knöchelchen musste er vergleichen!

Nachdem er mehrere Runden auf dem Think Path gedreht und jedes Mal mit der Spitze des Spazierstocks einen Feuerstein vom Haufen geschlagen hatte, blieb er für eine Weile in einem weißen, gezimmerten Kasten sitzen – einer Bank mit Regen- und Windschutz –, um ein paar Stichwörter in ein Notizbuch zu schreiben. Früher waren seine Notizbücher rot, nun schwarz eingebunden.

Danach ging er durch die Gartentür zurück auf sein Grundstück und inspizierte die Blumen. In den Beeten steckten kleine Holzschilder, auf denen Nummern standen. Den Kindern hatte Darwin streng verboten, die Beschriftungen zu entfernen oder, was sie einmal getan hatten, um ihren Vater zu necken, gar zu vertauschen. Das Notizbuch in der Hand, stellte er fest, dass sich die Farbe einer spät blühenden Rosensorte wiederum verändert hatte, ein Vorgang, den die Züchter als »Brechen« bezeichneten – noch vor fünf Jahren hatte sie in einem sehr dunklem Rot geblüht, das sich aber von Generation zu Generation in ein blässliches Rosa verwandelt hatte. Selten zeigten sich diese Änderungen nach Beobachtung von Darwin im Laufe eines Pflanzenlebens, vielmehr in der Abfolge von Generation zu Generation. Manche Rosen mit ursprünglich einzeln stehenden Blüten waren nun in Büscheln gewachsen, mit Blütenblättern, die von dunklem Bronze bis zu Weiß mit gelben Einsprengseln alle Farbtöne zeigten. Darwin war fasziniert, wenn auch nicht überrascht, hatte er doch denselben Effekt bei Chrysanthemen, Azaleen, Dahlien und Stiefmütterchen bemerkt. Aber nicht nur die Blüten hatten sich gewandelt, auch die Blätter von Bäumen, was ihnen ein anderes Aussehen verlieh, bewegten sich doch dreieckige Blätter im Wind anders als herzförmige oder runde. Nachdem Darwin sich, noch immer sein Notizbuch in der Hand, im Garten umgeschaut hatte, ging er ins Gewächshaus, um nach den Orchideen zu sehen.

Seit er zum ersten Mal einen Dschungel betreten hatte, interessierten sie ihn besonders, die traubigen, meist vielblütigen Blütenstände mit den großen Lippen, die Käfer und andere Insekten anlockten. Die Namen, die er ihnen gab – unabhängig davon, ob sie wirklich so hießen – beschrieben ein Geheimnis, ein Beispiel war der »Venusschuh«, diese Bezeichnung gefiel ihm am besten. Was die Farbe betraf, so zeigte die Natur die ganze Palette ihrer Möglichkeiten, die von dunklem Rot über Violett und Gelb bis hin zu reinem Weiß reichten.

Orchideen waren nicht nur empfindlich, sondern es war in Europa auch bisher selten gelungen, sie durch Samen zu kultivieren. Wie viel Pflege war nötig, wie viel Aufmerksamkeit – das Wasser musste handwarm und gereinigt sein, am besten destilliert, Salze auf einer Apothekerwaage abgewogen werden, bevor sie zugesetzt wurden, auch die Luftfeuchte galt es möglichst konstant zu halten. Darwin benutzte zur Luftbefeuchtung einen Gummiball aus der Hausapotheke, mit dem in der Familie normalerweise Einläufe verabreicht wurden. Er besprühte die Pflanzen und schaute zu, wie sich die Tröpfchen auf den Blättern verteilten und kleine Inseln bildeten, in denen sich das Licht brach. Manchmal schwebte über ihnen für ein paar Sekunden ein künstlicher Regenbogen. Darwin mochte diese bizarre Welt seines Möchtegerndschungels, die Minuten der absoluten Kontrolle, die doch eine Illusion war, denn ein Insekt, zufällig hereingekommen, durchschnitt die Luft im Zickzackflug und landete unrettbar im glatten Trichter der Venusfliegenfalle. Vorbei. Das Tier starb eines qualvollen Todes und wurde zu einer zähen Flüssigkeit aufgelöst. Die Schönheit dieser Pflanze hatte eben ihren Preis und der hieß Stickstoff.

Darwin öffnete die Tür, genoss die frische Luft und lief zu dem Beet mit den Feuerbohnen, die unkompliziert waren, weil sie bei jedem Wetter wuchsen und schon im Frühsommer ihre strahlend roten Blüten reckten. Darwin liebte die Schnelligkeit, mit der diese schlichten Pflanzen die hohen Stangen erklommen und mit den Ranken umschlangen. Sie blühten rot, immer war der Farbton feuerfarben und intensiv. Man wusste, was kam, hier passierte nichts Neues, bei ihrem Anblick konnte er sich erholen.

III.

Schon das Papier des Briefumschlags, den ihm der Postbote auf dem sauber geharkten Weg vor dem Haus übergab, zeigte durch seine fremdartige gelbe Farbe und die grobe, ungewöhnliche Struktur die exotische Herkunft an, ebenso die bunten Briefmarken und zahlreichen Schmutzflecken, die scharf nach Schwefel rochen. Darwin hielt den verschlossenen Umschlag für einen Moment unter die Nase. Seine Erinnerung täuschte ihn nicht – es war der unvergessliche Geruch von Vulkanen, jene abenteuerliche Mischung aus Verbranntem, Schimmelkäse, frischen Erdbeeren, Kloake und einer Komponente, die man nie herausbekommen würde, vielleicht handelte es sich um Reste eines tödliches Gases, das aber auf dem weiten Weg durch die Poststationen verflogen war.

Das Schreiben war tatsächlich auf Ternate, einer Vulkaninsel im Malayischen Archipel, aufgegeben worden und hatte den Schwefelatem seiner Umgebung angenommen. Der Absender hieß Alfred Russel Wallace. Darwin kannte den begabten jungen Naturforscher und wusste, dass er zurzeit allein durch Malaysia, Borneo und andere Gebiete des Archipels reiste. Eine Persönlichkeit wie Wallace vergaß man nicht: Auf den ersten Blick wirkte er elegant wie ein Dandy, aber sein gewölbter Brustkorb und die krummen Beine verrieten Mangelernährung, wie sie in den Armenvierteln der wachsenden Großstädte und auf Schiffen üblich war, seine Bewegungen wirkten in Momenten, in denen er sich nicht unter Kontrolle hatte, eckig. Sein Gesicht erinnerte an ein nicht entgratetes Metallstück aus einer der vielen Manufakturen seiner Geburtsstadt Usk, auch seine Hände schienen Metallgeruch auszuströmen. Seine Augen strahlten gierig von verschwimmender Ferne und dem Wunsch, große Entdeckungen zu machen. Darwin las die Briefe von Wallace gern, weil der es verstand, seine Reiseerlebnisse farbig und mit einem unschuldigen Hang zur Dramatik zu schildern, der die feinen Härchen auf seinem Oberarm sträuben machte.

Darwin empfand, in seinem Garten stehend und von der Bläue des Frühsommertages eingehüllt und durch sie gestärkt, den noch ungeöffneten Brief in den Händen, freudige Erregung, etwa so, als schaue er auf den Einband eines Abenteuerromans. Seine, Darwins, Abenteuer fanden seit Jahren, Jahrzehnten gar, im Kopf statt, seine Reiselust trat nur zuweilen und als Anfall auf und zeigte ihm, dass die Begierden noch nicht erloschen waren. Das Außerordentliche, der unerwartete Reiz, das Dämonische blieben seiner Phantasie vorbehalten. Aber sobald ein bestimmtes Wort fiel, etwa »Macchiabusch« oder »Meeresleuchten« oder jemand erwähnte in der Kneipe zum »Georg, dem Drachentöter«, heiser vor Sehnsucht, den Namen eines Vulkans, vielleicht nur, weil er über dessen Ausbruch in der Zeitung gelesen hatte, begannen sich Erinnerung und Phantasie zu einem eng gewobenen Gebilde zu verknüpfen. Dann sah sich Darwin wieder in der Steppe liegen, nur die Sterne in kalter Klarheit über sich, ein Eigenbrötler, gebettet auf die Gewissheit, dass das ganze Universum ihn beherrsche, besitze und verlasse zugleich, oder, was häufiger vorgekommen war, an der Reling stehen, eingehüllt in den Mantel des Windes, das Gesicht der salzigen Gischt ausgesetzt, und unbekannte, unbewohnte Inseln ohne Namen, die nur drei Menschen vor ihm, wenn überhaupt, jemals gesehen hatten, zogen in langer Reihe vorüber. Gelegentlich genügte Darwin auch ein Wort, das jemand falsch aussprach, eine Verwechslung, eine akustische Täuschung, eine Silbe, die im Nebel hängen geblieben war wie eine dunkle Frucht, um den intensiven Geruch nach Schweiß, gebratenem Fleisch, Gewehröl und Verwesung, dominiert von Minze- und Macchiaduft, zu imaginieren.

Und nun der Brief vom jungen Wallace, der erschien wie ein als Poltergeist verkleideter Erzengel. Hohe Luftfeuchtigkeit. Dickdunstiger roter Himmel, in dem eine riesige Sonne schlagartig untergeht und nur Dunkelheit zurücklässt. Hitze. Das Gebrüll von Affen. Der Singsang von Zikaden, dieses ewige Hintergrundgeräusch der Tropen.

Nein, in den Dschungel hatte es Darwin nie gezogen. Er liebte das Offene, die freie Fläche, die der Phantasie Raum gab. Darwin hatte sich mit Kollegen über diese seltsame Vorliebe unterhalten, mit Christian Gottfried Ehrenberg zum Beispiel, der Wüsten liebte, und Alexander von Humboldt, der beides kennengelernt hatte, tropische Fülle und die Kargheit der Ebenen Patagoniens und sich im Zweifelsfalle immer für Patagonien entschied. Diese Ebenen konnten nur durch Abwesendes beschrieben werden: ohne Wohnstätten, ohne Wasser, ohne Bäume, ohne Berge trugen sie meist zwerghafte Pflanzen, und Darwin fragte sich oft, warum ausgerechnet diese baum- und strauchlosen Ebenen einen so festen Platz in seinem Gedächtnis errungen hatten. Darwin konnte für sich selbst diese Empfindung kaum verstehen, war jedoch davon überzeugt, dass hier der Einbildung volle Freiheit gegeben war. Die Ebenen Patagoniens waren ohne Grenzen, sie waren kaum zu durchschreiten und daher unbekannt, über Jahrhunderte hatten sie so bestanden, wie er sie gesehen hatte, und es schien ihm so, als bestände keine Grenze für ihre Dauer durch künftige Zeiten. »Wenn die flache Erde, wie die Alten vermuteten, von einem unüberschreitbaren Gürtel von Wasser oder von Wüsten umgeben wäre, die bis zu einem unerträglichen Übermaß erhitzt wären, wer würde nicht auf diese Grenzen für die Kenntnisse des Menschen mit tiefen, aber schwer bestimmbaren Empfindungen hinblicken?« Hatte er das bei Humboldt gelesen?

Wallace dagegen reizten Licht und Schatten, fettes, abenteuerlich wucherndes Kraut mit giftroten Blüten, das Versteck, in dem die Überraschung lauerte, ein unerwartetes Rascheln in den Baumkronen, Scharen von Fledermäusen, die seltsame Muster in den Himmel malten, kreischend über ihm dahinflogen und auf den Palmen dicke Krusten stinkenden Kots zurückließen. Große Vögel, die mit langen Hälsen und seltsam geformten Schnäbeln gravitätisch zwischen milchweißen Seerosen hindurchschritten, Blüten, die bei leisem Wind jenen Sahnetuffen auf Torten glichen, die sich in der Hitze auflösen und am Ende an Tröpfchen von Mondspucke erinnerten. Wallace konnte fünf Minuten lang fasziniert und ohne Anflug von Angst oder gar Mitleid zuschauen, wie sich im Gebüsch eine Korallenotter einer Maus näherte, in der Weite dagegen, so hatte Wallace einst gesagt, fühle er sich ausgeliefert wie ein Wurm auf einer Mauer. Außerdem bedeute der Dschungel Fülle, Artenreichtum, Vielfalt an Farben und Formen. Wenn Darwin Wallace’ Briefe las, staunte er stets, welche seltsamen Tiere es doch auf der Welt gab, welche verdrehten Formen, Hervorhebungen einzelner Organe, Anpassungen von Farben an die Umgebung! Ihm fielen winzige, hundeartige Raubtiere mit riesigen Ohren ein, Heuschrecken, die Blütengebinden aus grünen und roten Paradies- oder Teufelsblumen glichen, und Kröten, die den Gesichtsausdruck alter, grimmiger Männer zeigten. Und erst die Käfer. Ihm fiel die Begegnung mit einem alten Bauern aus seiner Heimatstadt ein, der das erste Mal in seinem Leben im Londoner Zoo war. Dort hatte er Elefanten und Tiger gesehen und, nach Hause zurückgekommen, ausgerufen: nein Kinder, das müsstet ihr aber mal sehen, da laufen lebendige Tiere herum, die es gar nicht gibt!

Darwin öffnete genussvoll und langsam den Umschlag des soeben eingetroffenen Schreibens und nahm das blaue, sehr dünne Briefpapier in die Hand. Es war so hauchzart, dass die Sonne hindurchschien, die Schatten der Büsche zu sehen waren, und so blau, dass es die Bläue des Himmels verstärkte. Diesmal schilderte ihm Wallace seine Beobachtungen über Baumkängurus und Flugfrösche und legte sogar eine Zeichnung bei. Äußerlich wirkten diese Lebewesen, so Wallace, wie eine Fehlkonstruktion der Natur, so seltsam plump und ohne Proportion der Gliedmaßen. Die weiblichen Tiere seien etwas größer als die Männchen, auch die Aufzucht ihrer Jungen, so Wallace mit ironischem Unterton, betrieben sie merkwürdig und unlogisch. Das Junge komme zu früh zur Welt und bliebe als Frühgeburt fünf Monate lang im Beutel, aus dem es ab und zu den Kopf herausstecke. Warum nicht?, dachte Darwin. Immerhin bedeutete ein Beutel die Sicherheit einer Höhle.

Auch Flugfrösche hatte Wallace eindrucksvoll geschildert, beobachtet auf Sumatra, Borneo und in Thailand. Diese Tiere hatten sehr große, vorstehende Augen, Haftscheiben an den Fingerspitzen und Schwimmhäute zwischen den Zehen. Die Schwimmhäute benutzte der Frosch nach Beobachtung von Wallace jedoch nicht zum Schwimmen, sondern spannte sie wie kleine Fallschirme auf. Wallace selbst hatte den Frosch damit im tropischen Regenwald von Baum zu Baum schweben sehen und auch beobachtet, dass die Flugfrösche ausschließlich zur Paarung die Baumkronen verließen. Die Weibchen produzierten ein Sekret, das sie mit den Beinen zu Schaum schlugen, um daraus ein Nest zu formen.

Diese Gegenden der Welt, in denen Wallace Kängurus, Frösche, Käfer und Spinnen sammelte, würde er, Charles Robert Darwin, nie sehen. Wenn er eines im Leben verloren hatte, so war es die Fähigkeit der Jugend, sich kurz entschlossen auf eine weite, gefahrvolle Reise zu begeben, über sich nur den Himmel.

IV.

Der Schreck traf ihn wie kaltes Wasser.

- Mummy, rief Darwin mit lauter, heiserer Stimme, die mit der Schwächlichkeit seines Körpers kontrastierte, und lief eilig ins Haus, in der einen Hand den aufgerissenen Umschlag, in der anderen das Schreiben von Wallace. Seine Stimmung war von einer Sekunde zur anderen umgeschlagen.

Als Emma Darwin sah, dass ihr Mann am ganzen Körper zitterte und völlig verstört war, drückte sie ihn so zärtlich, wie es ihrer kämpferischen Natur möglich war, auf die Couch im Wohnzimmer und legte ein ammoniakgetränktes Tuch auf seine Stirn.

Die Porträts der Verwandten, in einer Reihe über dem englischen Buffet altarähnlich drapiert, blickten ernst auf das Paar herab. Sie hatten, so schien es, ihren wohlwollenden Gesichtsausdruck verloren. Emma nahm ihrem Mann wortlos den Brief von Wallace aus der Hand, aber außer Freundlichkeit, einer gewissen Selbstverliebtheit und Freude an der Beschreibung von Farbe und Form fiel ihr nichts weiter auf. Wortlos zeigte Darwin auf den letzten Abschnitt des Schreibens. Dort erklärte Wallace, dass er den Brief in einem kleinen Haus in der Nähe des Vulkankraters des Santubong auf Borneo geschrieben habe. Er sei sehr einsam, klagte der Kollege, und er habe während der langen Abende und sehr nassen Tage in der Regenzeit nichts anderes zu tun gehabt, als seine alten Papiere zu ordnen, Bücher von Alexander von Humboldt und Charles Lyell zu lesen und über Dinge nachzudenken, die ihn schon lange interessiert hatten. Das Ergebnis seiner Bemühungen, die Einsamkeit zu vertreiben, war ein Essay über Evolution, den er beilege. Er würde gern wissen, was er, Darwin, der erfahrene und geschätzte ältere Kollege, von dieser Arbeit halte. Emma Darwin verstand nicht, was daran problematisch sein sollte und sah ihren Mann noch immer fragend an.

Draußen hatte es zu regnen begonnen. Darwin hielt es nicht auf dem Sofa. Er sprang auf und lief unruhig umher.

- Es ist der schwärzeste Tag meines Lebens. Wallace hat in seinem Essay genau das formuliert, was ich geschrieben habe. Er hätte keine bessere Kurzfassung meiner eigenen Ideen geben können, wir verwenden sogar ähnliche Begriffe und Überschriften. Er schwieg und fuhr dann traurig fort:

- Wie kommt es, dass zwei Leute an unterschiedlichen Orten in der Welt zu denselben Schlussfolgerungen kommen?

Darwin nahm den Text des Konkurrenten in die Hand und las mit nervöser Ergriffenheit, die in steigende Verbitterung überging, Stichwörter aus Wallace’ Text vor. Es war ihm völlig egal, ob seine Frau nachvollziehen konnte, worum es ging.

- Arten, die durch Zucht entstanden sind, sind instabil, natürliche Arten ebenfalls, deklamierte er.

- Das Leben der wilden Tiere basiert auf einem Existenzkampf, in dem der Schwächere unterliegt. Der Schwächere kann der Jüngste, der Ältere, der Kranke sein. Nur derjenige überlebt, der sich bester Gesundheit erfreut und am lebenstüchtigsten ist, der am besten Nahrung erreichen und die Feinde abwehren kann.

Darwin bemerkte nicht, wie seine Frau blass wurde und sich sogar bekreuzigte, als er die Kranken erwähnte, die im Kampf ums Dasein unterliegen würden.

- Es gibt ein bestimmtes konstantes Verhältnis zwischen den Tieren, fuhr Darwin fort, es muss weniger Fleischfresser als Pflanzenfresser geben, es kann niemals so viele Adler und Löwen geben wie Tauben und Antilopen, die Wildpferde der tatarischen Steppen können nicht die ähnliche Anzahl der Pferde erreichen wie die nahrungsreichen Prärien und Pampas Amerikas. Einige, wenn nicht sogar alle Änderungen der typischen Form einer Spezies müssen einen definierten Effekt auf das Verhalten oder, allgemein gesprochen, auf die Kapazitäten des Individuums haben. Jede kleine Änderung der Farbe kann von Bedeutung für das Überleben sein, weil sie die Sicherheit beeinträchtigt, auch mehr oder weniger Haare können das Verhalten beeinträchtigen.

Darwin machte eine Pause, als stehe er auf einer Theaterbühne. Er verbeugte sich. Dann griff er wieder nach dem Text des Konkurrenten, als wolle er sich selbst quälen. Mit finsterer Miene zitierte er Wallace’ Hinweis auf Antilopen mit schwächeren Beinen, die es hinnehmen müssten, häufiger von Raubkatzen attackiert zu werden als ihre stärkeren Artgenossen. Auch Tauben ließ er nicht aus, jene mit weniger starken Schwingen hätten Nachteile bei der Nahrungsbeschaffung zu erleiden. Überhaupt hatte sich Wallace offenbar besonders für Vögel interessiert, Vögel, die sangen, balzten und alle vertrieben, die weniger gut singen und balzen konnten.

- Er hat recht, rief Darwin aus, ich habe es gesehen. Die Blaufußtölpel auf Galápagos zeigen mit dem Schnabel, der Schwanzspitze und den Flügeln zum Himmel und außerdem präsentieren sie dem Weibchen ihre riesigen blauen Füße. Sie verbrauchen ihre ganze Kraft, laufen um das Weibchen herum und führen einen eigenartigen Tanz auf.

Auch die Fregattvögel waren ihm als prächtige Studienobjekte für das Recht des Stärkeren erschienen. Diese Räuber, die, so schien es im Flugbild, aus lauter Dreiekken zusammengesetzt waren und niemals selbst fischten, sondern nur anderen Vögeln die Beute wegnahmen, bliesen ihren roten Kehlsack auf und legten im Nest die Schwinge um die Umworbene. Der rote Kehlsack machte Eindruck. Die Landwarane verfärbten sich vor dem Paarungsritual, etwa so wie ein Mensch, der rot wird, und umkreisten dabei schnüffelnd, so schien es, das Weibchen. Zwischendurch knabberten sie mit gespielter Langeweile an den herzförmigen Blättern der Opuntien.

Um Gottes willen, dachte Emma Darwin und blickte zu den Kindern. Aber die, gerade vom Spielen hereingekommen, dachten an nichts anderes als an eine große Theatervorstellung.

Darwin schwieg und sah aus, als erinnerte er sich sehr genau daran, wie er sich auf einen Lavabrocken in den Schatten gesetzt und zugeschaut hatte. Paarungen, Geburten, Sterben, fressen, gefressen werden, das war es im Wesentlichen, was auf Galápagos passierte. Die Landwarane, die stets aussahen, als lächelten sie, weil sie ein breitgezogenes Maul hatten, ließen sich mit der Paarung Zeit, zogen allerdings den Kreis um das weibliche Tier immer enger. Dabei richteten sich die Hautausstülpungen am Kopf auf, die wie ein Kamm mit groben Zinken aussahen. Es konnte stundenlang dauern. Irgendwann, Darwin hatte inzwischen Wasser getrunken, seine Frühstücksbrote verzehrt, sein Haar gekämmt, seine Kleidung, die vom Kot der Tölpel verschmutzt war, notdürftig gereinigt, seine Aufzeichnungen ergänzt und ein wenig geschlafen, hatte sich das weibliche Tier blau und rot gefärbt und mit dem Kopf genickt. Na also, hatte Darwin gedacht und registriert, dass nur die Riesenschildkröten für das Paarungsritual noch viel länger gebraucht hatten.

Auch der Schlussfolgerung, die der junge Wallace aus seinen Beobachtungen gezogen hatte, konnte Darwin nur zustimmen: Am Ende all dieses Konkurrenzkampfes stand die Ausbildung einer neuen Varietät, die den Lebensbedingungen, wo auch immer, besser angepasst war, die alte Spezies verdrängte und schließlich unwiderruflich ersetzte. Niemals konnte sie sich zurückentwickeln.

- Er hat recht, er hat recht, rief Darwin noch einmal aus, schlug auf den Tisch und brachte damit die Sauciere mit den Lotosblumen, das einzige Porzellan, das Darwin aus der Firma der Familie seiner Frau im Wohnzimmer geduldet hatte, zum Tanzen.

- Um Gottes willen, trink etwas Wasser, sagte Emma und schob ihrem Gatten ein Glas hin.

Der wirkte zusehends zerzaust, beachtete das Glas nicht und zitierte noch Wallace’ Ausführungen über den Unterschied zwischen Haustieren und Wildtieren. Die Wildtiere kamen, so schien es, aus moralischen Gründen viel besser weg als die Haustiere, mussten sie sich doch in der freien Natur durchsetzen, sich behaupten, während die verhätschelten Haustiere mit ihren abgestumpften Sinnen nur auf Futter aus Menschenhand warteten. Dabei war ihre Spezies nicht einmal stabil.

Die Kinder schauten inzwischen ein wenig ängstlich drein.

Darwin zitierte wörtlich: Domestizierte Tiere sind abnorm, unregelmäßig, künstlich; sie sind Abweichungen unterworfen, welche nie im natürlichen Zustande vorkommen können: ihre Existenz ist ganz und gar von menschlicher Sorgfalt abhängig. Selbst Polly, der Hund, oft Objekt der Verhaltensstudien des Hausherrn, blieb völlig still und verkroch sich, eingedenk seiner Nichtsnutzigkeit und Unwürde, unterm Sofa. Was nützte es, dass er gerade gelernt hatte, auf zwei Beinen zu stehen und sich im Kreis zu drehen wie ein Zirkuspferd? Hatte nicht auch er jeden Instinkt abgelegt, der ihn zum Überleben in freier Wildbahn befähigen würde? Nahm er nicht sogar vom Hausherrn kandierte Veilchen an?

Darwin setzte sich erschöpft nieder.

Schaute ihn gerade der Teufel mit seinen Heerscharen an, wie er es als Illustration in Miltons »Lost Paradise« gesehen hatte? War er es nicht, der die Beziehung zwischen Starken und Schwachen gestaltete? War nicht der Teufel die eigentliche Hauptperson? Darwin dachte an seinen Finanzberater und daran, dass er, Charles Darwin, zuweilen für eine halbe Stunde unter eine Wolldecke kroch, um über den Kauf oder Verkauf von Aktien nachzudenken.

- Charles, hast du deine Tabletten genommen?, fragte seine Frau sanft und besorgt und fühlte ihm den Puls.

Darwin verzog das Gesicht und benahm sich so, als zittere sein Puls dünn und schwach wie eine Spinnwebe, was aber nicht stimmte.

- Unsere Zeit ist so nüchtern, ein Drama ohne Helden und ohne Begeisterung, sagte er plötzlich, da ist es gut, dass so etwas geschieht. Alle lachten, Darwin selbst am lautesten. Haustiere. Na und. Was ist so schlimm daran? Draußen modulierten die Amseln einen kapriziösen Nachmittagsgesang, der Schatten einer dünnen, zerzupften Sommerwolke lag zitternd auf der Grasfläche im Garten. Was für eine Kraft hat doch das Licht, dachte Darwin für einen Moment, und wie trügerisch ist der Frieden!

Im letzten Tageslicht, das schräg ins Wohnzimmer einfiel und jedes der tanzenden Staubkörner beleuchtete, wurden die tiefen Falten in Darwins Gesicht sichtbar, sein ganzer Körper wirkte plötzlich schlaff, mutlos und verbraucht. Er hob die Arme wie jemand, der ein höheres Wesen anflehen wollte und ließ sie plötzlich entmutigt sinken, als sähe er ein, nicht auf Beistand hoffen zu können. Mehr als zwanzig Jahre lang hatte er über das Thema »Evolution« nachgedacht, und nun kam ihm ein junger Mann zuvor, der auf dem Malayischen Archipel ähnliche Beobachtungen gemacht hatte wie er selbst auf seiner Reise durch Südamerika.

- Ich werde ihm den Vortritt lassen, beschloss Darwin bitter, nicht ohne Hang zur Dramatik, und erhob sich mit einem Schwung aus dem Sessel, in den er sich kurz vorher knurrend geworfen hatte. Dann fiel ihm ein, dass er eine ähnliche Situation schon einmal erlebt hatte – 1846 publizierte sein Kollege Edward Forbes eine Theorie der Entstehung der Eiszeit, die er selbst, Charles Robert Darwin, Jahre zuvor ausgearbeitet, aber nicht veröffentlicht hatte. Es ging um die Erklärung des Vorhandenseins der nämlichen Arten von Pflanzen und einigen Tieren auf entfernten Berggipfeln und in den arktischen Regionen mit Hilfe der Eiszeit. Er hatte damals gelernt, was Enttäuschung ist. Aber nun kam es ihm vor, als sei dieses frühere Erlebnis eher eine kleine, unwichtige Enttäuschung im Gegensatz zu jener, die seine wissenschaftliche Arbeit der letzten 15 Jahre in Frage stellte. War er zu bescheiden? Zu nachgiebig? Sollte er sich verdrängen lassen und alles würde sich wiederholen?

- Ich werde ihm den Vortritt lassen. Diesen Satz wiederholte Darwin den ganzen Abend lang mit Pathos, das er als christlich empfand, Stunde um Stunde wie ein Schauspieler, der seinen Text auswendig lernt. Generös, Lehrer, Schüler, Jugend, traurig, diese Vokabeln, die seine Kollegen aussprechen würden, purzelten in seinem Kopf durcheinander und hinterließen ein Gefühl von Erhabenheit. Aber wer würde sein Opfer zur Kenntnis nehmen? Und vor allem: Wäre Wallace überhaupt in der Lage, alle jene Beweise anzuführen, die er, Charles Robert Darwin, gefunden hatte?

Emma Darwin sagte zunächst nichts, weil sie wusste, dass es momentan keinen Zweck haben würde. Sie gab sich aber viel Mühe, ihren Mann abzulenken. Sie spielten Billard und Backgammon, nur konnte Darwin sich nicht konzentrieren und sie brachen ab.

Gegen Mitternacht erlitt Darwin einen Anfall, sein Gesicht war geschwollen, über und über mit roten Flecken bedeckt und er litt an Atemnot. Emma Darwin kannte diese Zustände, die nach seiner Schilderung mit feurigen Speichen und dunklen Wolken vor den Augen begannen und in heftigem Frösteln und Übelkeit mündeten. Diesmal schien es besonders schlimm zu sein. Er sah seine Frau mit dem Ausdruck tiefster Mattigkeit an und gab sich Mühe, tief und ruhig zu atmen, wie sie und der Arzt es ihm beigebracht hatten. Dann stand er mit ihrer Hilfe vorsichtig auf, schlurfte in sein Arbeitszimmer und sie begannen mit der Kaltwasserkur. Das Prinzip dieser Kur bestand darin, durch den Wechsel von Hitze und Kälte die Durchblutung anzuregen. Dr. Gully, Wasserspezialist aus Great Malvern, hatte das die »Blutgefäße zum Turnen bringen« genannt. Eigentlich hatte diese Kur nach einem von Dr. Gully entwickelten strengen Ritual abzulaufen und Darwin litt jedes Mal an schlechtem Gewissen, wenn er die Prozedur vereinfachte. Er ließ sich drei Minuten lang von seiner hochschwangeren Frau mit einem kalten Handtuch abreiben, danach schrubbte sie hinten, er vorn. Anschließend trank er ein Glas Wasser, kleidete sich so rasch wie möglich an und ging für zwanzig Minuten lang im Haus auf und ab, wobei er eine Kompresse aus einem breiten, zusammengefalteten nassen Leinentuch trug, die durch einen gummierten Stoff abgedeckt wurde. Diese Kompresse, die Neptun-Gürtel hieß, wurde alle zwei Stunden erneuert. Zu seinem Leidwesen durfte Darwin während der Behandlung keine Süßigkeiten essen, keinen Tabak schnupfen, überhaupt nichts tun, was ihm Spaß machte. Das Schlimmste aber war der Spott seiner Kinder, die ihren Vater mit einem feuchten Frosch verglichen.