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Horst Herrmann

Martin Luther

Horst Herrmann

Martin Luther

Vom Mönch zum

Menschen

Eine Biografie

Tectum

Horst Herrmann

Martin Luther – Vom Mönch zum Menschen.
Eine Biografie

2., vollständig überarbeitete Auflage

© Tectum Verlag Marburg, 2017

ISBN 978-3-8288-6636-2

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter

der ISBN 978-3-8288-3850-5 im Tectum Verlag erschienen.)

Umschlagabbildung: Büste von Martin Luther in der
Walhalla, Donaustauf © Dguendel | Wikimedia (CC BY 3.0, GNU-FDL)

Korrektorat: Sabine Borhau

 

Alle Rechte vorbehalten

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www.tectum-verlag.de

 

 

 

 

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind
im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.

Das Alte stirbt, und das Neue kann nicht geboren werden –
in diesem Zwischenbereich zeigt sich eine Vielfalt
krankhafter Symptome.

Antonio Gramsci

INHALT

Teil I | Die Jahre der verzweifelten Hoffnung

1.Die Welt ist wie ein trunkener Bauer

Geburtsdaten

Vater und Mutter

Eine normale Herkunft

2.Ein Knabe hat müssen 20 Jahre oder länger Latein studieren

Mansfeld und die Welt

Lateinschulen

Das Magdeburger Jahr

Eisenach 1498

3.Erfurt ist nicht besser gewesen als ein Huren- und Bierhaus

Stadt der Farben und der Gärten

Zwischen Mainz und Kursachsen

Studentische Disziplin

Das Studium bis zur Magisterpromotion (1505)

4.Verzweiflung macht Mönche und Pfaffen

Gewitter und Gelübde

Depressionen

Das »Mehr« des Mönchtums

5.Anfechtung dient wider des Fleisches Sicherheit

Probezeit und Rezeption

Noviziatsbräuche

Erstes Messopfer 1507

Die »Anfechtungen«

6.Theologie, die den Kern der Nuss erforscht

Das Generalstudium der Augustiner-Eremiten

Theologie als Engagement für die Kirche

Kampf mit den Kommentaren

Himmlische Justiz

7.Die Wittenberger leben am Rande der Barbarei

Stadt im Sand

Schloß, Kirche und Universität eines Kurfürsten

Johann von Staupitz, der Zuhörer

8.Es ist wider Gott und Vernunft, dass ein jeglicher das Unterste zuoberst und alles umkehre

Lauter Aufruhr im »tollen Jahr« 1510

Akademischer Alltag

9.Ich bin zu Rom gewesen, habe daselbst viele Messen gehalten

Ein deutscher Intellektueller

Streit um die richtige Regel

Rom, eine Schutthalde

Messen, Ablässe, Zwiebeln und Knoblauch

10.Wie der Glaube ist, so ist auch Gott

Ein Doktor predigt

Worte und Welten

Der Schrecken der Stille

Glossen und Klartexte

Simul iustus et peccator

Teil II | Die Wege vom Mönch zum Menschen

11.Nichts ist heil, wo alles heil ist

Zwischen 1513 und 1517

Geld regiert das Reich

Deutschlands Opfer und Klagen

Reformpläne und europäische Nachbarn

12.Das gegenwärtige Geld lässt den gegenwärtigen Gott verachten

Das Credo des Credits

Geschäft mit dem Jenseits

Der Ernst der Buße

13.Meine Disputation schwankt unter Lästerungen hin und her

Pastose Oberhirten in Mainz und Rom

Ketzerjäger wittern Unrat

Ein deutscher Sermon

14.Je mehr jene wüten, desto weiter gehe ich vor

Disput zu Heidelberg

Die Sonntagspredigt eines Ketzers

Kaiser Maximilian meldet sich

Auf dem Weg nach Augsburg

15.Ich werde sie über ihre ganz unverschämte Frechheit und maßlose Unwissenheit belehren

Streit um zwei Kirchenmodelle

Papst und Evangelium

Ein romfreies Konzil

Der politisierende Kammerherr

Martinus Kardinal Luther?

16.Die Leipziger haben uns weder gegrüßt noch besucht

Des Antichristen Tyrannei

Ein geistliches Turnier im Jahre 1519

Grüße aus Böhmen

17.Das Evangelium kann nicht ohne Rumor gepredigt werden

Der Reiz des Pamphlets

Gute und falsche Werke

Mauern aus Stroh und Papier

Die Hure Babylon

18.Wenn sich das durchsetzen sollte, dann ist es um Glauben und Kirche geschehen

Luthers Sendbrief an den Papst

Die römische Bulle

Feuer, das 1520 eine Ordnung verbrennt

19.Es ist keine verachtetere Nation als die Deutschen

Der Spielstand vor dem Reichstag zu Worms

Der junge Kaiser Karl V.

Diplomatisches Vorspiel

Luther vor dem Reichstag

Das Credo des Kaisers

20.Jetzt hat Gott uns das ganze Meer seines Wortes geschenkt

Luther auf der Wartburg

Der Gebannte wird eine Instanz

Die Übersetzung des Neuen Testaments

Teil III | Die Suche nach den anderen Sicherheiten

21.Es hat mich kein Feind so getroffen als wie ihr

Die Sektierer zu Wittenberg

Luthers Friedenspredigten

Papst und Kaiser

Luthers Problem zeichnet sich ab

22.Von Gottes Gnaden Evangelist zu Wittenberg

Der Mann des Wortes

Die Fortschritte der Bewegung

Der Prediger Martin Luther

Weder Parteiführer noch Gegenpapst

23.Wollet euch vor diesem falschen Geist gar fleißig vorsehen

Luther und Karlstadt

Thomas Müntzer gegen den »Bruder Sanftleben«

Die zwei Reiche

24.Nun sind Herren, Pfaffen, Bauern, alles wider mich

Luther verrät durch Treue

Die Antwort auf die Anfrage der Bauern

Die Herren schlagen den Aufstand nieder

25.Ich habe mich durch diese Heirat so verächtlich gemacht

Neun Nonnen werden entführt

Jungfer Katharina von Bora

Die Theologie interpretiert Luthers Heirat

Luthers Haushalt wird geordnet

26.Du hast mich in meiner Überzeugung sehr bestärkt

Luther und Erasmus

Die Freiheit des menschlichen Willens

Gott und die Vernunft

27.Nu ist kein notiger Ding, denn Leute ziehen, die nach uns kommen

Luther schafft sich Sicherheiten

Krankheit und Schwäche

Ein Dichter und Sänger

Der Streit mit Zwingli um das Abendmahl

28.Weyber, so stillende Kinder haben, sindt die frolichsten Frauen

Luther lernt von der Natur

Frau Käthe sorgt für den Haushalt

Das Leben in der Familie

Luthers Reden bei Tisch

Die Freunde

Sorgen eines kranken Mannes

29.Kaiser und Papst werden gegen ihren Willen vom Esel am Strick gezogen

Sacco di Roma

Deutsche Fürsten

Die »Protestanten«

Das Marburger Religionsgespräch

Die Türken, der Kaiser und das Reich

Bekenntnisse und Bündnisse: Augsburg 1530, Schmalkalden 1531

30.Darum ists am allerbesten, nur bald gestorben und eingescharrt

Entscheidungen außerhalb Wittenbergs

Vielerlei Pläne: Konzil, Union, Krieg

Ein Tod im Winter 1546

Teil I
Die Jahre der
verzweifelten Hoffnung

1.
DIE WELT IST WIE EIN TRUNKENER BAUER

An einem 10. November – nach Auskunft seiner Mutter an Philipp Melanchthon »gegen Mitternacht« – wurde er geboren, zu Eisleben, in der Herrschaft derer von Mansfeld, in einem Haus der Langen Gasse, ein wenig schon am Ende der Welt. Freude des Forschenden: Dieses Datum, dieser Ort stehen fest. Spätere Legenden vermochten nichts daran zu ändern. Nicht ganz so sicher, merkwürdig genug, ist die Deutung sich in Sachen Geburtsjahr. Die Angaben des Grabsteins sind zwar als irrig erwiesen, jedoch Martin Luthers zahlreiche Äußerungen über sein eigenes Lebensalter, auch über das Jahr seiner Geburt, lassen Unsicherheiten aufkommen, schwanken zwischen den Jahren 1482, 1483 und 1484. Allerdings weist die Mehrzahl der Aussagen auf das Jahr 1483, und auch andere Quellen, so das Dekanatsbuch der Wittenberger Fakultät, bestätigen dieses Datum. Luther selbst glaubt nie so recht an derlei Zahlen, streitet auch mit Melanchthon herum, der ihn »zu jung machen« will, und schickt sich nur widerstrebend in die Fakten.

Geburtsdaten

Die Suche nach einer möglichst akkuraten Zeitangabe ist im Übrigen schon damals manchem Gelehrten nicht unwichtig erschienen: Der italienische Mathematiker Hieronymus Cardanus etwa hatte, typisch für das Denken des 16. Jahrhunderts, die These verfochten, just jene planetarische Konstellation, die Luthers Geburtsdatum regiert habe – nach Meinung dieses Astrologen der 22. Oktober 1483 abends 22 Uhr –, sei für dessen Entwicklung zum Erzketzer ausschlaggebend gewesen.

Wer mäkeln wollte, fand immer wieder absurden Stoff genug. Martin Luther, der im November Geborene, war allem Anschein nach im Februar gezeugt worden, womöglich in der »geschlossenen Zeit« des Kirchenjahres. Und das galt strengen Predigern als Grund dafür, dass die Sünde der Eltern sich von allem Anfang an in den Kindern abzeichne, deren »Zähne stumpf werden, da die Väter saure Trauben gegessen haben …«.

Sogar Melanchthon war vor allem aus Gründen der Sterndeutung am genauen Geburtstermin des Freundes interessiert, welchen er gerne in das Jahr 1484 verlegt sehen wollte, weil nach seinen Berechnungen ebendieses Jahr eine noch günstigere »reformatorische« Ausgangsposition erbracht hätte. Wissenschaft und Magie entwickeln sich damals offensichtlich zu gleicher Zeit, in ein und derselben Person.

Der Betroffene selbst hält die Berechnungen seiner »nativitet« für »heillos und schwermerisch«, für vertane Zeit. Die Korrespondenz und Symbolik von Fakten und Zahlen, auch sie Ausdrucksformen eines im verborgenen wirkmächtigen Determinismus, wie ihn Luthers Epoche gleichermaßen in religiösen wie in magischen Praktiken, aber auch in physikalischen und naturgeschichtlichen Beschreibungen liebte, sagt ihm selber nicht viel. Er verspottet Melanchthon, der seine Reisepläne wegen ungünstiger Konstellationen verschiebt, und es verdrießt ihn die Sicherheit, mit der die überzeugten Astrologen einen Lebenslauf vorhersagen wollen, obgleich sie ebendies nicht können: »ist ein dreck mit irer kunst«.

Die Kunst der Interpretation eines solchen Menschen hat es im Übrigen nie leicht gehabt. Zwar liegt ein geschlossener Lebenslauf vor, und das Quellenmaterial kann als reichlich und ziemlich zuverlässig gelten. Von daher gesehen, ist die Deutung der Späteren fundierter als die der Zeitgenossen, die von Fall zu Fall nur Symptome beobachten und beschreiben konnten. Doch fehlt andererseits die Möglichkeit, beim Lebenden nachzufragen und sich Unklarheiten interpretieren zu lassen.

Die Feststellung mag schmerzen, doch lässt sie sich nicht wegschieben: Luther ist kein besonderer Systematiker gewesen. Er schreibt, um ein Beispiel zu nennen, den Namen seiner Stadt Wittenberg in einem guten Dutzend Varianten, drückt sich immer wieder unklar und ungenau aus – und hat sich, oft aus dem Augenblick heraus, selbst immer wieder umgedichtet.

Sein Leben bleibt ein »Buch mit sieben Siegeln«, eine Formulierung, die von ihm selbst, wenn auch in anderem Zusammenhang, stammt. Abgeschlossen ist bei ihm so gut wie gar nichts. Ein stimmiges Kalendarium der inneren Entwicklung ist nicht zu erstellen, und eine geordnete Biographie bleibt unmöglich angesichts der vielen Erklärungssprünge, die dieser Mann selbst gemacht hat. Luthers Charakteristikum ist das Impulsive, das oft und oft nur lose Verbundene, bisweilen Inkonsequente und stets von neuem Widersprüchliche seiner Existenz wie seiner Lehre. Das Studium seiner Werke begegnet diesen Widersprüchen auf Schritt und Tritt.

Nun tritt die Vorläufigkeit bei einer Person wie Martin Luther ganz besonders in Erscheinung, weil hier, wo so vieles im Tageslicht dramatischer Geschehnisse liegt, die Tiefenschichten einer ungewöhnlichen Vitalität gerne vernachlässigt werden. Luther ist dabei nicht jener Popanz der Doktrin gewesen, zu dem ihn eine fleißige Theologie aufgebaut hat, sondern ein Mensch voller Herz, der durch seine bestrickende Art, durch seine die Umgebung mitreißende Persönlichkeit und durch seine zugleich naive wie überlegene Haltung zum eigenen Milieu gewirkt hat – und noch immer wirkt.

Luther versteht so oder so nicht, weshalb gerade die »sternkücker« ihrer Sache so sicher sein wollen: »Warumb vermest ir euch von allen dingen so gar gewis zu sagen, als wenn der keins nicht felen kond, das ir sagt?« Sein eigener Lebenslauf – »habe ich nicht große schande auffgethan«, »bin dennoch dem bapste in die hare gefallen und er mir tzwar auch wider, habe eine ausgeloffene nonne tzum weibe genommen« – ist jedenfalls nicht berechenbar gewesen: »Wer hat das in sternen gelesen?« Luther bleibt viel nüchterner. Er fragt nicht nach den Erkenntnissen oder den Wunschträumen der Astrologie. Er sagt von sich selbst: »Ich kenne mein natur und erfar es.«

Vater und Mutter

Dieses »Närrlein Gottes« war am Tag nach seiner Geburt in einer Kapelle der Petrikirche zu Eisleben von Pfarrer Bartholomäus Rennebecher über das Taufbecken gehalten und nach dem Tagesheiligen benannt worden. Viel Aufhebens machte niemand, Martin, der neun Geschwister haben wird, war nicht das einzige Kind der Familie, obgleich auch in diesem Fall die Gefahr frühen Wegsterbens wie schon einmal drohte, denn Säuglinge durften damals schon einiges Glück haben, sollten sie überleben. Die Sterblichkeitsrate war sehr hoch. Der Schoß einer Frau konnte durchaus zum »Haus des Todes« werden. Die physiologischen Prozesse der Geburt blieben noch lange, gerade für die direkt Betroffenen, in Rätselhaftigkeit gehüllt und waren von Aberglauben umgeben. Vor allem galt es, die Neugeborenen den scheelen Blicken der Hexen zu entziehen, welche die Epoche überall suchte. Nun, die Mutter Margarethe, eine geborene Lindemann aus Eisenach, würde Sorge tragen. Das war ihr Ressort.

Die Tätigkeit ihres Ehemannes ließ nicht viele Unterbrechungen zu. Vater Hans war ein hart arbeitender Bergmann, Hüttenmeister im Kupferschieferbergbau. Das Vergnügen, hin und wieder ein kleiner Rausch, galt als Ausnahme. Im Mansfeldischen wurde gewerkt. Die gut hundert Feiertage, die das zeitgenössische Heiligenkalendarium bunt färbten, blieben innerkirchliche Episoden. Der Kupfer- und Silberbergbau, diese »ächte deutsche Kunst«, war Mansfeld wichtiger. Seit dem 12. Jahrhundert betrieben, hat er bis weit in das 19. hinein angehalten. Seinerzeit machte er das kleine Ländchen wohlhabend: »… in teutschen landen etlich hundert tausent menschen, alt und jung, auch weib und kinder und sunst vil« ernährten sich davon, und die Fürsten und Herren zogen aus den Bergbauabgaben mehr Gewinn als aus irgendeinem anderen »handel und gewerb in gantzer teutscher nation und dem hailigen romischen reich«.

Der Erzbergbau war zum bedeutendsten Wirtschaftszweig nach der Landwirtschaft aufgestiegen, und Luthers späteres Wort, Deutschland sei ein treffliches Land, habe alles genug, was man haben müsse, »dies Leben reichlich zu erhalten«, Früchte, Korn, Wein, Getreide, Salz, Bergwerk und »was sonst aus der Erde zu kommen und zu wachsen pflegt«, galt nicht zuletzt für die engere Heimat. Nur, fährt er fort, sei es schlimm, »daß wirs nicht recht achten und nicht recht brauchen«.

Auch der bittere Nachsatz mochte auf die Mansfelder Landesherren mit deren Vorder- und Hinterlinien gemünzt gewesen sein, die sich seit eh und je – ein Leid noch der letzten Lebensmonate des zum Schiedsrichter erwählten Luther – um die Ausbeute ihrer Berge gebalgt, das reiche Erbe in all diesen »Säuhändeln« schon früh heruntergebracht, damit aber auch die Chance eröffnet hatten, dass kleinere Gruppen von Bergleuten – diese entsprechend »finanziert«, verschuldet bei den Abnehmern zu Eisleben und Mansfeld – auf eigene Gefahr schürfen und eigene Schächte übernehmen konnten.

Geld wurde in jedem Fall gebraucht. Die Lösung der technischen Probleme des Tiefbaus, die Förderung des Erzes aus großen Tiefen, die Entwässerung und Bewetterung der Gruben setzten Kapital voraus, um kostspielige Arbeitsmittel anschaffen und die notwendige Zahl von Lohnarbeitern einsetzen zu können. Wenn es allerdings gelungen war, neue ergiebige Erzgänge aufzuspüren, wenn das Berggeschrei durch die Lande ging und Bergleute, Handwerker wie Händler in seinen Bann schlug, fanden sich genügend Geldgeber, welche die Verpflichtung von Lohnarbeitern, die Anlage kostspieliger Stollen, die Entwicklung und Vervollkommnung immer leistungskräftigerer Fördermaschinen, der »Künste«, finanzierten. Zahlreiche Techniker, Kunstmeister genannt, strömten herbei und lernten die notwendigen Hilfskräfte aus der landarmen oder ganz landlosen Dorfbevölkerung der Gegend an. Arbeit und Geschäft blühten, das – nach Art von kleinen Aktiengesellschaften – eingesetzte Kapital vermehrte sich derart, dass »fürsten, graffen, edel, burger, bauren, dienstknecht und dienstmägt« mit einstiegen, und erst die aufkommenden sozialen Auseinandersetzungen schufen eine Lage, die dazu führen konnte, dass – so Luther – »die graffschafft ligt und lachen alle feinde«.

Vorerst ging alles ganz gut. Martins Vater gehörte schon vor 1491 zu den Aufsteigern: ein Kleinunternehmer mit hinreichendem Einkommen, um 1506 Besitzer eines Hauses an der Hauptstraße, ein emsiger Mann, kein reicher, der dennoch den Sohn aus dem Segen des »löblichen Berggutes« studieren lassen würde, ohne besondere Stipendien beanspruchen zu müssen. 1530 hat Hans Luder ein wenn auch nicht allzu großes Vermögen von 1250 Gulden hinterlassen. Immerhin war das etwa doppelt so viel wie der Wert eines Bauernhofes im heimatlichen Dorf.

Gekommen war er (über seine Ehefrau wissen wir weniger) aus dem Thüringer Wald, wo seine Vorfahren in Möhra, nördlich von Salzungen, zu Hause waren. In einer Zeit, da sich die Bevölkerung wieder so vermehrt hatte, »das dörffer und stett zerinnen« wollten, hatte es ihn, den ältesten Sohn ohne Erbrecht, nach Eisleben gezogen. Nur die anti-lutherische Legende, die den Apfel nicht weit vom Stamm fallen lassen wollte, berichtet, dass der Grund für den Umzug ein Totschlag aus Jähzorn gewesen sei. Hans Luder bleibt aber nicht in Eisleben, sondern wechselt nach Martins Geburt nach Mansfeld, wo er bis in sein Todesjahr 1530 sesshaft ist.

Es blieb Hypothese, dass Martin Luther slawischer Abstammung sei. Sie ist aus zeitgenössischen Lutherbildern abgeleitet worden. Ein Altarbild zu Weimar, das diese Auffassung stützen sollte, ist erst neun Jahre nach Luthers Tod von Lucas Cranach dem Jüngeren geschaffen worden, und die Echtheit der angeblichen Totenmaske in der Marienbibliothek zu Halle ist zweifelhaft.

Der Familienname, abzuleiten wohl aus dem – auch kaiserlichen – Vornamen Lothar, von Martin selbst später vom griechischen Wort für frei oder vom Herzog Leuthari hergeleitet, der nach dem Tod des letzten Ostgotenkönigs Tejas in Italien eingefallen war, »um Rom zu verwüsten«, war so verbreitet wie die Sippe. Von ihr sagt Luther im Mai 1521, sie »nehme die gesamte Gegend ein«. Der Name, später Objekt ständiger Hänseleien der Katholischen, wird von der Familie wechselnd Lüder, Luder, Loder, Ludher, Lotter, Lutter, Lauther geschrieben. Seine uns vertraute Form wählt – gegen 1512 – erst der junge Autor Martinus selbst. Die an den Zeitbrauch der Humanisten angelehnte gräzisierte Form »Eleutherius«, welche die barbarischen Namen der Deutschen ablösen sollte, hat er nur vorübergehend benutzt. Sein »Luther« ist ihm lieber. Das Geschlecht aber sinkt, als das einzige Genie, das es hervorgebracht hat, tot ist, wieder in das frühere Vergessen zurück. Nur Martin hat den Namen bekannt gemacht.

Das Bergmannskind aus einem Thüringen, zu dem sich Luther in den späten Tischreden nicht gern bekennen wollte, der Sohn eines Industriereviers spricht auffallend wenig vom Beruf seines Vaters, wenn sich später auch Hans Luders Berufssprache gelegentlich in der Bibelübersetzung des Sohnes aufspüren lassen wird.

Eher findet Martin sich im Hinweis wieder, er sei »eines Bauern Sohn«, mit »rechten Bauern« unter den Ahnen. Da scheint er sich auszukennen und wohl zu fühlen. Die schlimme Agrarkrise in Deutschland war zu seiner Zeit mehr oder weniger behoben, die Dörfer, die nicht selten zu »Wüstungen« geworden waren, wurden wieder bevölkert, das dazu gehörende Land neu urbar gemacht, und Verbesserungen in Bodennutzung und Viehhaltung nahmen zu. Doch gleichzeitig wuchs die Verschuldung der Bauern, vor allem gegenüber den städtischen Wucherern, und manch ein Herr nutzte die Gelegenheit, die Besitzrechte einzuschränken und die Leibeigenschaft auszudehnen. Warum sollte die »junckherschafft« da nicht über die armen Bauern urteilen: »Sye sind hungerig, wir sind vol, sye schaffen, wir spielen, sye sorgen, wir pfeiffen vnd bulen, vnd das alles von irem blutigen schweyß«?

Mit Bauern aller Art wird Luther noch viel zu schaffen haben. Er ist ihnen, vor allem ihren Propheten, alles in allem nicht gewogen, obgleich er den Wert ihrer Berufsarbeit anerkennt, sie selbst den geweihten Bischöfen gleichachtet, jedenfalls allen »adligen Scharrhänsen« vorzieht. Doch urteilt er einmal, als er zu sehen gelernt hat, mit bezeichnendem Wort über die ganze Welt, sie sei wie ein »trunckener bauer«, stets schwankend, immer angesäuselt, nie mit sich eins, geradezu säuisch, Schluß.

Aber er beginnt auch wieder von vorne, beruft sich ebenso unverdrossen auf sein bäurisches Erbteil, ist heimlich gar stolz darauf. Seine frühe Berührung etwa mit dem in Familie und Region überlieferten Erzählgut begleitet ihn ein Leben lang: »ich möcht mich der wundersamen historien, so ich aus zarter kindheit herüber genommen, oder wie sie mir auch vorkommen sind in meinem leben, nit entschlahen um kein geld.« Fabeln aus dem bäurischen Umkreis wird er loben als Vehikel der List der Vernunft, die Herrschenden da oben zu »betriegen zur Warheit und zu jrem nutz«. Märchen wie Frau Holle oder Schlaraffenland kennt er gut, Rätselspiele freuen ihn, den Wert volksläufiger Liebeslieder hebt er immer wieder hervor, und bei Tisch schätzt er Erzählungen aus dem Eulenspiegel, dem Markolfus oder dem »Reinke de Vos«, aus Werken, deren Autoren auf Seiten des »ghemenen volks« standen und schlagkräftige Kritik am Feudalismus wie an den Verfallserscheinungen im Klerus und an den Höfen formulierten.

Niedergehaltene Bauern, womöglich Leibeigene, wie dies das Schema Aufstieg aus niedrigster Herkunft stilisierte, waren die Seinen nie, vielmehr relativ wohl situierte, vor allem aber freie Leute, die sich aus eigenem Fleiß hochgebracht und gehalten hatten. Aus diesem seinem Familienerbe war auch Hans Luder nicht gefallen, der »blutsauer« schuftende Mann. Seine derb geschnittenen Züge, von Lucas Cranach überliefert, weisen viele Spuren jener hartleibigen Anspannung auf, die der risikoreiche Beruf und das Abzahlen der Schulden bei den Herren Finanziers fast ein Leben lang von ihm forderten.

Aber auch daheim wurde nicht lange gefackelt, hieß es doch acht Kinder aufzuziehen, da setzte es bereits für das Stibitzen einer kleinen Nuss schlimme Prügel. »Das Kind, welches der Vater am meisten liebt, bestraft er in seiner Angst am härtesten«, galt als gängige Meinung der Zeit, und »wie scharfe Sporen ein Pferd zum Laufen bringen, so bringt eine Rute das Kind zum Lernen«. Noch immer war den Eltern ein toter Sohn lieber als ein ungehorsamer, wie Luther später sagt, und die Schläge – sie erschienen für das Gedeihen so notwendig wie das Essen und Trinken – konnten durchaus auch von der Mutter kommen, die es doch »herzlich gut meinte«. Als der Sohn berühmt geworden war, wurde auch sie vom Wittenberger Maler konterfeit, ebenfalls abgearbeitet, dazu vom dauernden Kinderkriegen erschöpft. Kinder waren seinerzeit weder gewollt noch ungewollt. Sie waren unvermeidbar, eine Einrichtung der Natur.

Die Eltern werden 1522 von einem Schweizer Besucher als kleine, gedrungene Personen geschildert, »ein bräunlich volck«. Sie haben beide nicht daran gedacht, »daß sie einen Doctor Martin Luther bringen wollten«. Doch als es dann soweit war, standen sie zu ihm. Die böse Fama, dieser Ketzer sei eigentlich ohne Eltern, ein vom Teufel gezeugter Wechselbalg oder »ein padmagd son«, die Leibesfrucht einer Masseuse, verflüchtigt sich ins Nichts. Hans und Margarete Luder gehören zu Martin.

Dieser hat jedoch die erste Periode einer ganz und gar nicht antiautoritären Pädagogik – die mittelalterliche Gesellschaft hatte kein Verhältnis zur Kindheit als solcher – zeitlebens nicht vergessen. Er musste später mit seinen früh erworbenen Ängsten zu leben suchen. Das ist ihm, weiß Gott, nicht leicht gefallen. Doch war auch seine Reaktion auf diese Erziehung nicht weniger einprägsam: Martin begann mit der Zeit einen geradezu bäurischen Trotz auszubilden, statt sich unter jede Art von Gerechtigkeit zu ducken und gar leibeigen zu werden. Angst und Trotz, Nachgeben und Aufbegehren, Zartheit und Zorn zugleich machen dann sein Wesen aus: Luther wird immer wieder zwischen diesen beiden Polen seiner Existenz hin und her schwanken, Sicherheit und Unsicherheit in einem suchen, Unordnung und Ordnung zugleich finden.

Im Übrigen hat er seinen eigenen Kindern, dem Gesetz der alten Ordnungen entwöhnt, später eher zuviel durchgehen lassen, denn diese sollten die eigene Erinnerung an die väterliche Strenge nicht auch noch zu spüren bekommen und ihrem eigenen Vater »feind« werden. Die Kinder waren Gottes Lieblinge. So argumentiert Luther theologisch, nicht psychologisch, denn auch er ist sich des spezifischen Lebensalters »Kindheit« kaum bewußt. Er plädiert für die Kinder um der Heiligen Schrift willen und wegen des darin enthaltenen Auftrages: »Sie haben nur das Wort, daran halten sie sich und geben Gott fein einfältig die Ehre, daß er wahrhaftig sei, halten für gewiss, was er verheißet und zusaget.«

Gewiss war der Vater Hans Luder kein Despot. Martin bescheinigt ihm eine ausgeprägte Veranlagung für Kurzweil und Geselligkeit. Er war kein verbitterter Sonderling, der einen beruflichen Misserfolg hätte der Familie ankreiden müssen. Schon gar nicht ist er als Alkoholiker anzusprechen. Dafür wird ihm schon die Muße abgegangen sein. Er ist eher so etwas wie ein – auch von den Mitbürgern anerkannter – paterfamilias landmännischer Tradition gewesen, ein Patriarch des Pflichtgefühls, der den Kinderreichtum der Ahnen schlicht fortzeugte und die eigenen Nachkommen, ohne allzu häufig nachzufragen, nach alter Art, nach dem vierten Gebot seines Gottes, in die Zucht nahm, sie zur richtigen Schule schickte, ihnen den passenden Beruf aussuchte, den Ehepartner für sie auswählte.

Für seinen Martin, dessen Begabung der Vater mit dem Blick des Tüchtigen schon früh festgestellt hatte, war daher auch, vielleicht sogar nach Art einer Lebensversicherung für die alten Eltern, eine Heirat nach oben sowie ein bestimmter akademischer Beruf vorgesehen, am besten die Karriere als gewandter Jurist, als unersetzlicher Ratgeber jener Obrigkeiten, über die man selber immer wieder klagte. Die Bergverwaltung, ein gut durchorganisierter und hierarchisch abgestufter Apparat von Bergbeamten, die auf den jeweiligen Herrn vereidigt und von ihm besoldet wurden, drückte nämlich die Unstudierten gehörig, und nichts lag näher, als in der eigenen Familie einen zur Elite Aufgestiegenen zu wissen.

Hans Luder konnte nie ganz verwinden, dass Martin dann alles anders fügte, ja dass er es schaffte, in seiner Lebenswahl, zunächst zumindest, beide Absichten des Vaters, Heirat und Beruf, mit ein und demselben Schlag zunichte zu machen. Das fügte sich nicht in seine Gerechtigkeit und Ordnung. Das war pfäffisch.

Aus dieser bekannten Tatsache, seit den einschlägigen Äußerungen des Sohnes über den Vater immer wieder kolportiert, wird jedoch kaum auf eine generelle Unkirchlichkeit des Hans Luder zu schließen sein. Zwar lehnt es dieser in schwerer Krankheit ab, das Erbteil seiner Nachkommen – denn »die bedurffens besser« – durch fromme Stiftungen an die Mansfelder Kirche zu schmälern, zwar ist er, wie all seine Zeitgenossen, zu guten Stücken zauber- und hexengläubig, zwar hält er, auch dies gut zeitgemäß, nicht sonderlich viel von den Betbrüdern und Horensingern, die dem Herrgott in ihren warmen Klöstern die Zeit stehlen, statt, wie ein richtiger Bergmann, einer schweren, aber geordneten Arbeit nachzugehen. Hans Luder hält es mit dem beliebten mittelalterlichen Spruch »laborare est orare«, Arbeiten heißt Beten. Denn jeder, selbst das kleine Kind, musste in dieser Gesellschaft arbeiten. Es gab viel zu tun; Müßiggang war eine Sünde, zumindest eine gegen das Streben der Einzelperson nach dem Paradies. Nicht von ungefähr hieß eine der sieben Hauptsünden »Faulheit«. Sie war auch eine Verfehlung gegen die Gemeinschaft, der das Individuum seinen Dienst vorenthielt. Außerdem war Müßiggang aller Laster Anfang, zumal jeder sah, dass der Satan für faule Hände immer etwas zu tun fand, nicht zuletzt in den Klöstern, wo so viele Menschen dem normalen Arbeitsprozess entzogen wurden: »Das seltzamst ding auff erden ist das, das ein mensch für XV. muß arbeiten, allein der funfftzehnest mensch arbeit, die andern gendt alle mussig.«

Doch ist Martins Vater weder ein heimlicher »Böhme« gewesen, ein verkappter Hussit, wie eine Legende es wollte, noch hat er je Bücher des Wycliffe studiert, wie sollte er auch. Mit allgemeinen Vermutungen ist niemandem gedient. Martin selbst hat sich über die Frömmigkeit des elterlichen Hauses ausgeschwiegen. Es gab einfach nichts Besonderes zu berichten. Alles war unauffällig normal.

Eine normale Herkunft

Religiöse Normalität hieß in jenen Tagen zu guten Teilen auch Aberglaube, und der war viel ungezügelter, als die offizielle Kirchenlehre es wahrhaben wollte. Er blieb eng verknüpft mit der althergebrachten und durch keine Segnungen des Christentums in ihrem Wesen erschütterten Furcht vor den dämonischen Mächten des Daseins, die im Teufel und dessen Anhang personifiziert waren. In der Geschichte des Aberglaubens wimmelt es von Berichten über gerade bei Kindern auftretende konvulsivische Anfälle, Verlust von Gehör und Sprache, Halluzinationen, Aussetzen des Gedächtnisses und so fort. Schon die Kleinen waren in Angst und Schrecken gehalten, und selbst der liebe Gott wurde von uneinsichtigen Eltern zur Schreckfigur degradiert, die ein Kind wie ein ekliges Insekt über dem Abgrund des Höllenfeuers pendeln lassen konnte, falls es nur ungehorsam war. Gott und Teufel gingen Hand in Hand, und die Übergänge waren fließend.

Der Glaube an einen persönlichen Satan als Inkarnation des Bösen in der Welt, der einen Stab von Dienern und Trabanten mit sich führte und mit dem die Menschen beiderlei Geschlechtes, um Macht und zeitliche Güter zu gewinnen, eigene Verträge schließen konnten, ja zu dem sie sogar höchst fleischliche Beziehungen aufzunehmen in der Lage und willens waren, stellte ein uraltes Erbgut dar. Martin Luther wird sich nie von diesen Vorstellungen lösen können. Im Gegenteil. Er weist dem Leibhaftigen einen überragenden Platz im religiösen Leben zu, indem er ihn für die eigenen Krisen, Anfechtungen und Kämpfe mitverantwortlich macht und immer wieder den Eindruck aufkommen lässt, der Streit des Menschen um seinen Sinn sei weniger ein Hadern mit dem guten Gott als eine Abwehr der teuflischen Bestreitung eben dieses Sinnes.

Luther lebt, von daher gesehen, ständig im Milieu seiner Herkunft, wo die Eltern, nach der Väter Sitte, zwar die überlieferten Gebote ihrer Kirche beachtet hatten, an keiner Stelle jedoch vom alten Glauben an den Satan abgerückt waren, dem dieselbe Kirche mithilfe von besonderen Riten, Exorzismen, Nothelfer-Stoßgebeten, Wässerchen und schnellen Kreuzzeichen beizukommen pflegte. Was blieb, war die – altkirchlich abgesegnete – Meinung, die ganze Welt sei voll von den verschiedensten »wettermacherin, milchdiebin, teuffelshurn«, die in alles und jedes eingriffen und geradezu zu Schutzheiligen eines jeden Lasters auf dieser Erde hoch gebetet wurden. Einen solchen Glauben hat Martin von Anfang an in sich aufgenommen, denn auch hierin ging alles seinen normalen Gang.

Dabei ist gerade das Geburtsjahr 1483 nicht eben normal verlaufen. Es war ein bewegtes Jahr, auch nach unseren modernen Maßstäben. Die Zeitungen, hätte es sie nur gegeben, würden in ihren Rückblicken zum Jahreswechsel viel zu berichten gewusst haben: ein englischer König gestorben; sein Erbe, ein Kind, erwürgt; der mitschuldige Onkel dritter König dieses Jahres; auch der französische Souverän verstorben; neuer König ein Halbwüchsiger; Revolten in Portugal, in Spanien die gewohnte Welle der Inquisitionen, neue Morde dagegen zu Rom, und dann noch die Türken vor der Tür.

Auch in der römischen Kirche fand sich die immer wieder sich selbst gegenüber so beflissen beschworene Einheit nur auf dem Papier. Sie hauste in den Gebäuden der Gelehrten und hatte sich in die Schutzhütten der Orthodoxie zurückgezogen. Gewiss, die Guten hatten getreulich die biblischen Engel mit dem Flammenschwert aufgestellt, personalisiert in den Mächten von Kaiser und Papst. Der Hinweis auf »Kirchenbann« und »Reichsacht«, beide später auf Martin Luther angewandt, mag hier genügen. Doch erfüllten selbst diese Mächte die Erwartungen nicht; auch dafür steht die Geschichte dieses einen Menschen.

Was Deutschland betraf, von Luther später einmal die »verachtetste« der Nationen geheißen, so fand sich ein Land, das über und über besetzt war von Territorien, Observanzen, Dynastien, Ländchen, Städten und sonstigen Herrschaften, ein Gebiet, das Pflichten, Rechte, Instanzen und Privilegien jeder Provenienz überwucherten; mitten in diesem Gestrüpp sogar ein Volk, ebenso oft verwaltet wie vernachlässigt von Vätern aller Art, von Kurfürsten, Bischöfen, Herzögen, Grafen, Äbten, Edlen, aber auch von noch impotenteren Potentaten, alle miteinander verschwägert oder verfeindet oder beides zugleich, alle miteinander gerade noch auf das Karussell souveräner Selbstherrlichkeiten aufgesprungen und sich fürderhin ganz lustig im Kreise drehend, immer aber am Volk vorbei, das stand und gaffte, seiner eigenen Ausbeutung noch immer nicht achtend, abgelenkt von den großen Spielen der Zeit.

Über allem stand ein Kaiser, oder besser unter allen der bloße Träger des Titels, ein Steiermärker, Friedrich mit Namen, in der amtlichen Zählung nach zwei bedeutenderen Vorgängern der dritte, als letzter Herrscher überhaupt in Rom 1452 vom Papst gekrönt, für kaum abzulebende 53 Jahre ein Reichsregent ohne rechte Reife zur Reform, an jener Bequemlichkeit und Bedürfnislosigkeit aber unübertroffen, die hin und wieder als bedächtige Geduld gerühmt wird, in seinem Deutschland kaum je zu Hause, dennoch mithilfe einer nicht unüblen Heirats- und Erbdiplomatie bei aller unübersehbaren staatsrechtlichen Unordnung seines Regiments allzeit Wahrer und Mehrer dieses Habsburger-Reiches und als solcher gewiss eine zum Erbarmen eindrucksvolle Erscheinung.

Soweit die Leitartikel der großen Welt. Nur aus Eisleben im Mansfeldischen gab es ganz und gar nichts Weltbewegendes zu erzählen, denn das Kind des Jahres 1483, das mehr als alle anderen einst für Schlagzeilen sorgen würde, war zum Jahreswechsel eben knappe zwei Monate alt und tat vorerst nicht viel anderes als andere Säuglinge. Es übte sich darin – Originalton Martin Luther – »zu scheißen, saichen, heulen und schreien«. Damit verdiente es sich sein Essen und Trinken »wie wir mit unseren guten Werken den Himmel«.

2.
EIN KNABE HAT MÜSSEN 20 JAHRE ODER LÄNGER LATEIN STUDIEREN

Mit der Ruhe des kleinen Martin war es bald vorbei. Schon am Gregorius-Tag des Jahres 1488, am 12. März, dem traditionellen Termin für die Einschulung der »Schützen«, soll der Vater den noch nicht Fünfjährigen auf die vom Rat unterhaltene, nahe bei Sankt Georg gelegene Lateinschule der Stadt Mansfeld weggegeben haben, damit er »Schrift lerne«.

Mansfeld und die Welt

Über den Termin lässt sich streiten. Unbestritten dürfte hingegen sein, dass auch dann, wenn nicht schon 1488 als Einschulungsjahr angenommen wird, sondern 1491, gute Gründe für die Meinung anzuführen sind, ein so kleines Kind auf einer als so hart geschilderten Schule voller »Stockmeister«, voller professioneller Prügler, habe einigen Schaden am Gemüt genommen. Luther hat selbst bezeugt, dass das viele »steuppen« durch Präzeptoren, die »wie die hencker« dreinschlugen, ein Kind »vorzaget oder vorzweifelt« machen konnte.

Allerdings kann aus der späteren Aussage kaum geschlossen werden, er selbst, Martin, sei jener Schar einzureihen gewesen, von der »man sihet, das keine Hoffnung da ist«. Luthers Verzweiflungen zur Klosterzeit bereits auf die Hoffnungslosigkeit der ersten Schule zu stützen geht zu weit und zeichnet – aus parteilichen Gründen – einen förmlichen Leidensweg vor, der eines Tages mit innerer Notwendigkeit im Psychopathentum enden musste.

Vielleicht gründet jene Auffassung auf einer realistischeren Argumentation, die davor warnt, das ohnehin bis etwa in das Jahr 1513 hinein recht dürftige Tatsachenmaterial zur Basis von besonders weitreichenden Folgerungen zu machen. Für die gesamte erste Hälfte des Lebens von Martin Luther und damit für über dreißig Jahre wird nämlich, aus der Distanz betrachtet, nicht viel mehr angeboten als einige eher zufällig aus dem Gedächtnis überlieferte Sätze, die dem alten Herrn wichtig erschienen sein mochten, als es galt, spätere Thesen absegnen zu lassen.

In der Jugend selbst verfasst in aller Regel kaum jemand eine Selbstbiographie, auch wenn er häufig mit sich selbst beschäftigt ist und über sich und seine Probleme nachdenkt. Vorsicht ist geboten, die Erinnerungsbrocken einer Spätzeit, so wichtig diese für die Erkenntnis eines vitalen Mannes sein mögen, zum System zu erheben. Ich zitiere daher häufig den alten Luther schon jetzt, wenn er von seiner Frühzeit spricht, doch verliere ich nicht aus den Augen, dass es sich bei alldem nur um Bruchstücke des Ganzen handelt.

Mehr wissen als mutmaßen können wir nur von der wirklich großen Historie jener Jahre, die da an Mansfelds Bürgern und Schülern vorbeigezogen ist.

Die Zeit stand nicht still, Martins späteres Milieu baute sich langsam, aber sicher auf, und die Themen der Leitartikler blieben spannend: Sixtus IV. della Rovere, der Papst des Geburtsjahres, war bereits 1484 von Innozenz VIII. Cibo abgelöst worden, dem berüchtigten Fertiger einer Bulle gegen das Hexenwesen. Dieses Machwerk segnete – auch dies kann diesem Unschuldigen nicht vergessen werden – das scheußliche Handwerk der Inquisitoren, wie es sich dann 1487 im »Hexenhammer« zweier deutscher Mönche zum sadistischen Orgasmus steigerte, und garantierte ihm im Voraus das päpstliche Wohlwollen.

Jener Innozenz, Papst der frühen Jahre Luthers, sollte noch, wenigstens mittelbar, die lutherischen Hauptkämpfe mitbestimmen: Er, der seinen außerehelichen Sohn mit einer Medici verheiratet und damit eine unter seinem anti-florentinisch gesinnten Vorgänger als ärgerlich geltende Verbindung zwischen dem Papsttum und Florenz gefördert hatte, tat noch mehr für seine neuen Affinitäten. Der Bruder seiner eben erst gewonnenen Schwiegertochter, auch er, ganz zeitgemäß, ein »natürlicher Sohn«, wurde, kaum vierzehn Jahre jung, zum Kardinal kreiert. Mit dieser Erhebung aber hatte der Medici die erste Stufe der Treppe erklommen, die ihn einige Zeit darauf zu jenem Papst Leo X. machen wird, der im Jahre 1521 den ketzerischen Bruder Martinus Luther mit seinem Bann belegt.

Das Jahr 1485 brachte schließlich Neuerungen, die auch für die Region Mansfeld nicht ohne Interesse waren: Hatte das Gebiet der Wettiner, der Landesfürsten, noch vor Kurzem neben dem der Habsburger als das ausladendste in ganz Deutschland gegolten – es erstreckte sich von der Werra bis zum Erzgebirge und umfasste innerhalb des immer wieder auseinanderbrechenden Reiches ein relativ geschlossenes Territorium – und hatte gerade das 15. Jahrhundert dem Hause nach dem Aussterben des sächsischen Askanier noch das Herzogtum Sachsen-Wittenberg zusammen mit der wichtigen Kurwürde eingetragen, so erlitt die landesherrliche Gewalt der Wettiner neuerdings durch selbstverschuldete Teilungen empfindliche Einbußen. Als Friedrich II. von Sachsen verstorben war, hatten zwar seine Söhne Ernst und Albrecht 1464 die Regierung gemeinsam übernommen, und 1482 war auch die thüringische Nebenlinie des Hauses erloschen, so dass Thüringen wieder mit dem Gesamtbesitz der Wettiner vereinigt werden konnte. Doch tat die Doppelregierung der beiden Brüder nicht gut. Bald setzten neue Teilungsverhandlungen ein, und 1485 kam es im Vertrag von Leipzig zu der auch für Luthers Belange folgenschweren Trennung in zwei Parteien: Ernst erhielt Wittenberg, die spätere Luther-Stadt, das südliche Thüringen und das südwestliche Sachsen zugesprochen, ferner die Kurwürde. Albrecht aber behielt einen herzhaften Rest mit den Schwerpunkten Dresden, Meißen und Freiberg, alles in allem nicht die schlechtere Wahl.

Es verstand sich jetzt von selbst, dass bald eine albertinische und eine ernestinische Linie gezählt wurden. Die Erstere erwies sich als politisch beherzter, wie sich schon nach wenigen Jahrzehnten herausstellen sollte. In Sachsen ist sie bis 1918 an der Regierung geblieben. Die Ernestiner hingegen bewiesen weniger Geschick, splitterten sich immer wieder auf und retteten sich doch noch mit Anteilen an den Königshäusern von England, Belgien, Bulgarien, Russland und Portugal ins 19. Jahrhundert hinein. Martin Luther blieb ein Leben lang Untertan dieser Linie, die die ererbte Kurwürde wenigstens bis ins Jahr nach Luthers Tod gegen die Albertiner verteidigen konnte. Vorher würde es den neidischen Vettern nicht gelingen, das »Hütlein« zu ergattern. Luthers entschiedenster politischer Feind, Herzog Georg der Bärtige von Sachsen, wird zwar während seiner ganzen Regierungszeit versuchen, den glücklicheren Friedrich, Luthers Souverän und Schirmherr, um die Kurwürde zu bringen. Doch erst sein Nachfolger Moritz sollte den Hut von den politisch falsch orientierten Ernestinern erben.

Anlass zu Streit und Neid gab es zur Genüge, und ebendiese Konstellation der feindlichen Vettern bestimmte das Milieu der Bewegung Luthers aufs eindrücklichste mit. Der Leipziger Vertrag von 1485 hatte keine wirklichen Grenzen zu ziehen vermocht und dies wohl auch gar nicht beabsichtigt. Die aufgeteilten Gebiete überschnitten sich kreuz und quer, und manche Rechte, nicht zuletzt die Bergwerkseinkünfte, blieben sogar gemeinsamer Besitz, allerdings auch ständige Versuchung, ein Nachfassen wenigstens zu probieren. Auf Kurfürst Ernst, den Teiler, folgte dann schon 1486 sein Sohn Friedrich, später der Weise geheißen. Im gleichen Jahr 1486 wurde Maximilian, noch zu Lebzeiten seines bedächtigen Vaters Friedrich III., zum deutschen König gewählt. Die habsburgische Erbfolge galt als gesichert. Was daraus werden würde, war allerdings weniger klar.

Lateinschulen

Martin Luther sitzt Anfang der neunziger Jahre des Jahrhunderts, da sich sein Milieu entwickelt, in der Schule zu Mansfeld. Die Fächer, in denen er damals unterwiesen worden ist, hießen simpel Schreiben, Lesen, Singen, Latein. Vor allem Latein, immer wieder Latein, »viel bös Latein«, des Guten nun doch zu viel.

Viel mehr ist über die allgemeine Schulsituation der Epoche nicht zu sagen und noch viel weniger, bei der erwähnten Quellenlage, über das Problem, inwieweit sich generelle Erkenntnisse in Sachen Schule überhaupt auf die speziellen Verhältnisse zu Mansfeld, auf Martin selbst übertragen lassen. Gewiss hat Luther später, so etwa in der 1524 erschienenen und bei Lucas Cranach gedruckten Schrift »An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen«, an kritischen Urteilen über den Unterricht seiner Zeit nicht gespart. Allein, dieses Sendschreiben stellt weniger einen Rückblick auf die eigenen Erfahrungen mit der Schule dar, der getrost als Grundlage biographischer Deutung gelten dürfte, als eine mit humanistischer Kritik und reformatorischer Argumentation angereicherte Programmschrift. Nicht wie es einmal war, sondern wie es künftig sein soll, will der Autor umschreiben. Seinen übrigen Äußerungen ergeht es kaum anders. Auch sie sind nur bedingt beweiskräftig.

Dennoch ist nicht zu übersehen, dass Luther festgestellt hat, die Kinder hätten viel Unnützes lernen müssen, die lateinische Sprache habe den Unterricht fast ganz dominiert (der Deutschunterricht lässt noch ein gutes Jahrhundert auf sich warten), die von ihm besuchte Schule sei »unendlich elend« gewesen, die Schulmeister dürften durchaus als »ungeschickt«, ja als »Tyrannen« angesprochen werden, und einer von ihnen habe gar den kleinen Martin an einem einzigen Tag nicht weniger als fünfzehn Mal »wacker gestrichen«. Auch hätten sich in der Schule jene »Lupizettel« gefunden, die uns auch sonst begegnen: Auf ihnen musste ein den Kameraden unbekannt bleibender Schüler, der »Wolf«, seine Mitschüler notieren, wenn sie fluchten oder gar deutsch statt lateinisch sprachen. Später konnte dann der Stockmeister über die Denunzierten kommen, Notiz für Notiz ein Schlag, Strich um Strich ein Streich.

Ein uneingeschränktes Züchtigungsrecht hat es jedoch nicht gegeben. Eltern und Magistrate beugten schon mithilfe von besonderen Schulverträgen, die relativ kurze Kündigungsfristen enthielten, einer sadistisch auswuchernden Pädagogik vor. »Puß und straff« trifft den Schulmeister, wenn er mit den ihm anvertrauten Kindern »grausamlich« verfährt, statt sie mit »züchtigen unterweißlichen worten und geperden« der als unerlässlich erachteten Ordnung anzunähern. Das Schlagen aber bleibt grundsätzlich erlaubt, wenn auch, wie etwa in Nürnberg, nur »mit Ruten in den Äfftern ziemlicher Weis«, nicht jedoch »auf Haupt, Hand oder sonst gröblich«.

Eine Vorstellung von der Häufigkeit des Schlagens lässt sich gewinnen, wenn man von einem deutschen Schulmeister hört, der sich rühmt, im Laufe seines Berufslebens 911.527 Stockhiebe, 124.000 Peitschenhiebe, 136.715 Schläge mit bloßer Hand und 1.115.800 Ohrfeigen verteilt zu haben …

Selbst Luthers Neuerung hat an dieser Einstellung kaum etwas geändert, nicht einmal im heimatlichen Mansfeld, dessen Schulordnung aus dem Jahre 1580 alle Einrichtungen von ehedem getreulich wieder auflistet, die Rute, den Wolfszettel und auch den hölzernen Eselskragen, Auszeichnung für die jeweils schlimmsten Rangen. Eine raue Behandlung blieb über alle Konfessionsgrenzen hinweg, auf Jahrhunderte hinaus, Markenzeichen deutscher Erziehung. Die Vorstellung von der Zerbrechlichkeit der Kinder wie die von der moralischen Verantwortung der Lehrpersonen setzten sich erst langsam durch, und das mittelalterliche Bestreben, Kinder zu demütigen, lässt erst viel später nach.

Martin hat seinerzeit, alles in allem, »fein fleissig und schleunig« gelernt. Auch das kann nicht übergangen werden. So ganz mangelhaft war das Schulsystem denn doch nicht. Es gab schon Lernfortschritte. Für sie verantwortlich waren seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mehr und mehr höher graduierte Akademiker, denen ein löblicher Magistrat seine Schule – wie dem Müller die Stadtmühle – zu Nutz und Frommen übertragen hatte. Kleinere Kommunen mussten sich allerdings mit einem – zum steten Ortswechsel aufgelegten – Hilfspersonal bescheiden, mit einem bloßen Bakkalaureus etwa oder auch mit einfachen Bachanten, mit älteren oder gar fahrenden Schülern, von Luther später als »grobe esel und tulpel« apostrophiert. Der Lehrer war eben kein gelehrter oder origineller Denker, Dialektiker oder Logiker, der für seine pädagogischen Fähigkeiten bekannt gewesen wäre, sondern er wurde zum Pedanten, zum Schulfuchs, zu einem wenig respektierten Pauker.

Er hatte, vor allem mit dem alltäglichen Einpauken, alle Hände voll zu tun. Er sollte – mithilfe des »Donat«, wie die gängige spätantike Grammatik genannt wurde – ein Latein weitergeben, das ihm, vor nicht allzu langer Zeit, selber eingebläut worden war. Gedruckte Bücher fanden sich so gut wie nicht, und mangelnde pädagogische Fähigkeiten fielen weniger ins Gewicht. Die Schultradition erhielt sich von selbst, ersetzte gar, was dem Einzelnen abging, und war kaum auf neue Ziele und Unterrichtsstoffe aus. Erst der Humanismus würde umfassender aufklären, auch wenn selbst ihm, der den Menschen als solchen zu bilden suchte, noch zu weiten Teilen der Sinn für die kindliche Besonderheit und die Kenntnis kindlicher Psychologie abgingen.

Vorab blieb alles beim Alten. Es galt, das Lesen zu erlernen, was sonst? Die Theorie sprach zwar noch immer von der antiken Trias Grammatik, Logik und Rhetorik. Doch die Grammatik hatte, vor allem an den Zwergschulen, die beiden anderen Disziplinen ihrer früheren Ebenbürtigkeit beraubt. Der Inhalt der Leseübungen war religiös: Gebote, Sakramente, Gebete, Schlüsselgewalt des römischen Papstes, Paternoster, Gratias und Schluß. Die Lesefibel ist damit Religionsbuch und Lesehilfe in einem. Der Disziplin Singen ging es ähnlich, zumal die Schüler durch ihren »andechtiglichen« Gesang auch das Volk »zur andacht raitzen« sollten.

Über allem stand – mitten in Deutschland – das Latein, Lernsprache, Schulsprache, Schreib- und Lesesprache, Sprache der Wissenschaft wie der Liturgie, ja selbst Spielsprache in einem. Es wurde an der großen Tafel angeschrieben, immer wieder eingetrichtert, diktiert, distinguiert, konstruiert, exponiert und rekapituliert. Schulbücher für den einzelnen Schüler gab es nicht. Das Schulkind musste alles Notwendige – nach Luther »auf dem Nägelein«, d. h. hundertprozentig – auswendig können, denn die Niederschrift stand im Verdacht, der Faulheit Vorschub zu leisten. Als einzig verlässliche Art von Wissen galt dasjenige im Kopf, und so blieb – bis zum breiteren Aufkommen der Druckkunst – der Unterricht hauptsächlich auf das Mündliche und das Repetieren beschränkt. Von abgestuften Lehrprogrammen war keine Rede.