Prolog

Inzwischen ist alles anders. Der genetische Fingerabdruck hat die Ermittlungen revolutioniert. Am Tatort erscheint die KT in weißen Ganzkörperkondomen und sucht nach Haaren und Hautschuppen. Die Frage nach dem Alibi wird überflüssig.

Mittlerweile besitze ich ein Handy und erschließe mir die Daten der Welt übers Internet. Aber die Grundfragen ändern sich nicht. Im Stuttgarter Anzeiger lädt der Damenstammtisch der CDU zu einer zwanglosen Diskussion in die Weinstube Trollinger am Feuersee ein: »Liegt es wirklich an den Frauen, dass nicht genug Kinder geboren werden?« Und gerade vorhin habe ich in der Zeitung noch ein Fragezeichen gelesen: »Mord am Feuersee nach Streit unter Alkoholikern?« Bezieht sich das Fragezeichen auf einen Mord oder auf den Streit unter Alkoholikern? Beides schlösse sich aus. Im Falle eines Streits über die Frage, wer zur Tanke unter der Paulinenbrücke gehen musste, um Alk zu besorgen, wäre es doch wohl nur Totschlag gewesen. Die Leiche allerdings ist eine Tatsache. Sie lag in ihrem Blut an der Toilettenanlage am Feuersee neben der Johanneskirche unweit des Männerwohnheims der Heilsarmee. Neben dem Sterbenden ausgeharrt hat der Zimmernachbar aus dem Wohnheim. Zugeschaut hat er die halbe Nacht, wie dem anderen das Blut aus dem Hals lief und einen Teich bildete, in dem, den Enten gleich, die braunen Blätter, die der Herbstwind pflückte, landeten mit ihren hochgebürzelten Stielen. »Blattenten«, sagt er zur Polizei. Alkoholikerpoesie. Aber erinnern kann er sich an nichts.

Aber ich! Ich erinnere mich.

Dort hat es angefangen. Mit dem Toten am Feuersee. In einem früheren Jahrhundert, mitten in den Neunzigern, als das Klonschaf Dolly geboren und der Rinderwahnsinn auf einmal für den Menschen gefährlich wurde, als Lady Di noch lebte, bevor Harry Potter zaubern lernte und als der Zeppelin am Bodensee wieder zu fliegen begann. In den Jahren der Leggins und Karottenhosen, kurz vor der Wiedergeburt der Siebziger und dem Abba-Mamma-Mia-Wahnsinn im Radio und als wir noch gar keine Ahnung vom Euro hatten.

Aber das Frauencafé Sarah, das gibt es tatsächlich immer noch mit Tanzfrauentee, feministischem Diskurs und Aktzeichnen nur für Frauen. Ich müsste wirklich mal wieder hingehen. Ob es auch noch so aussieht wie damals vor zehn Jahren, als meine Geschichte begann. Und zwar so:

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014

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Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten.

Printausgabe: © Ariadne Verlag 2006

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

Erscheinungsdatum: 3.2.2014

ISBN 978-3-944818-37-5

2

Martha brachte den Kaffee. Die ungeheuer runde Sekretärin der Amazone machte den besten Kaffee, den ich kannte. Und sie ließ es sich nicht nehmen, ihn morgens auf die Zimmer zu verteilen und einer jeden Redakteurin ein paar selbst gebackene Plätzchen auf einer Untertasse dazuzustellen. Der stets aufwändige Dank war ein Ritual, das Marthas Hausmuttergesicht zum Lächeln brachte. Sie ging so leise, wie sie kam, umwallt von gemusterten Röcken und Blusen, mit denen sie das Unglück ihres Körpers auftrug.

Ich legte die Füße auf den Schreibtisch und las den Stuttgarter Anzeiger. Im Lokalteil fand ich eine kleine Notiz. Ein Toter in den Grünanlagen an der Johanneskirche. Ein Junge Anfang zwanzig, Jeansanzug, Identität ungeklärt. Die Polizei ermittelte zunächst im Drogen- und Obdachlosenmilieu. Nichts Wichtiges. Es war ja keine Frau gewesen, die tot in einer Grünanlage liegen geblieben war. Allerdings: Wo gab es an der Johanneskirche Grünanlagen? Dort gab es den Feuersee, etwas Gebüsch, einen U-Bahn-Eingang, die neugotische Kirche und öffentliche Toiletten, in denen die Penner hausten. Außerdem war es nicht weit weg vom Sarah.

Louise war abwesend. Ob sie auf Reisen war oder in ihrem Monrepos auf der Schwäbischen Alb weilte, das wusste vermutlich nur Martha. Jedenfalls war es angenehm ruhig. Ich süffelte den Kaffee und knabberte die Plätzchen. Die Kekse waren goldgelb und von geheimnisvoll untergründig würzigem Geschmack. Niemand kannte sich wie Martha in der Alchemie der Zubereitung von Lebensmitteln aus.

Von meinem Fenster aus hatte ich Einblick in das Einkaufsgetriebe der Eberhardstraße. Parkplatzkampf im Schacht zwischen Fünfzigerjahrebauten und dem wuchtigen Schwabenzentrum. Trachtenboutiquen, Sondergrößen ab 42, Juweliere, Glas. Frauen der Größen 36 bis 38 in Kostümen und Wintermänteln der Saison sichteten Pullover, Seidenoveralls und Blusen in den Ständen vor den Boutiquetüren. Ich hörte, dass es klingelte. Martha würde öffnen. Ich gab meiner Bürotür einen Stoß. Fremde Menschen am Morgen waren nicht mein Fall. Die Tür schwang wie üblich zwar entschlossen auf den Rahmen zu, wurde aber von einem Hubbel im Teppich kurz vor der Falle gestoppt. In meinem Hirn gab es den üblichen Klick von Frust. Seit ich hier arbeitete, wünschte ich mir knallende Türen.

Im selben Moment ging die Tür wieder auf. Marthas sorgenvolles Gesicht erschien. Hinter ihr drängelte, jegliche Körperdistanz missachtend, Gabi. Martha schien es zu missbilligen, konnte aber nichts mehr ändern.

Es war noch nie vorgekommen, dass mir eine Lesbe, die sich in mich vergafft hatte, bis ins Büro nachgestiegen war. Das versprach unangenehm zu werden. Ich flegelte.

Gabi sah ganz anders aus als vor zwei Tagen. Schwer zu sagen warum. Sie trug immer noch diese schwarzen Jeans, dazu diesmal einen hellblauen Sweater, aber sie sah nicht im Mindesten nach dem Burschen aus, der mir am Sonntagabend auf den Leib gerückt war. Ihre Hände zitterten. Ein schlechtes Zeichen. Auch unter Frauen kosteten Liebeserklärungen anscheinend Überwindung. Und offenbar ging es um existenzielle Fragen, denn Gabis schwarze Augen nahmen das beeindruckende Chaos und den Dreck um mich herum nicht wahr. Ich legte Wert auf Kaffeebecherränder auf Schreibtischholz, überquellende Aschenbecher mit Höfen von Asche, Papier mit Kekskrümeln und Staubflocken in der Schreibmaschine. Schmuddelig war ich mir selbst am nächsten.

»Zur Sache, Schätzchen«, sagte ich.

Gabi brach ohne Umschweife in Tränen aus. Auf ihren kindlichen Backen entstanden rote Punkte. Der Riechkolben schwoll zu einer Tomate an.

Ich nahm erst mal die Füße vom Tisch. Gabi konnte schließlich nichts dafür, dass ihre Sehnsüchte sich nicht mit den realistischen Möglichkeiten deckten. Auch ich hatte meine Jugend in einem Quallenzustand von Wollen und Nichtkönnen verbracht, beschränkt auf Onaniephantasien und einen unbeschälten Welpenkörper.

»Was ist denn los?«, fragte ich sanft.

Gabi wischte sich die Augen aus und zog den Rotz hoch.

»Nun red schon, Mädel.«

»Ich ...«, schluchzte sie, »ich hab ihn erschlagen.«

»Wen?«

»Er hatte ein Messer.«

Ich überlegte. »Du redest doch nicht von dem Toten an der Johanneskirche, oder? Von einem Messer stand nichts in der Zeitung.«

Gabi wischte sich die Augen. »Aber er hatte ein Messer. Ich wollte ihn nicht totmachen. Aber plötzlich lag er da. Was soll ich denn jetzt tun? Die Polizei war schon bei Zilla.«

»Quatsch«, sagte ich. »Die Polizei ermittelt in Dealerkreisen. Die müssen Drogen bei dem Jungen gefunden haben.« Ich griff dennoch zum Telefon. Zilla war nicht in ihrer Wohnung, dafür aber unten im Café.

»Sag mal«, sagte ich, »meine Zuträger flüstern mir, dass die Polizei bei dir war.«

Zilla lachte heiter und schön. »Ach das! Wer hat dir das erzählt? Das war nur das Übliche. Irgendwelche Nachbarn haben sich wieder mal beschwert, weil eine der Frauen mit ihrem Motorrad durch die Straße geheizt ist.«

»Also kein Grund, zu einem längeren Artikel über Diskriminierung auszuholen.«

»Das kommt alle paar Monate vor. Aber wenn du noch eine Geschichte für die Amazone brauchst ...«

»Danke. Wir sind im Prinzip voll.«

Zilla schluckte. Ich legte auf.

Gabi hing mit roten Hundeaugen an mir. »Ich habe ihn ermordet.«

»Mord heißt Niedertracht und Berechnung.«

»Jetzt muss ich ins Gefängnis. Das halte ich nicht aus!«

»Unsinn! Oder kanntest du den Jungen?«

Gabi schüttelte heftig den Kopf.

»Dann kommt die Polizei auch nicht auf dich.«

»Aber ich habe meine Brille verloren.«

Ich bezweifelte, dass die Polizei Gabi aufgrund eines Kassengestells identifizieren konnte. Andererseits hatten die Optiker der Stadt natürlich Karteikarten.

»Was ist denn wirklich passiert?«

Gabi schluchzte auf. »Ich wollte zur U-Bahn. Plötzlich steht er vor mir. Ich war wie gelähmt. Ich dachte nur: Jetzt bist du dran. Jetzt ist es so weit. Jetzt geht es dir wie all den anderen Frauen. Du bist fällig. Ich glaube, ich habe ihm einen Stein über den Schädel gehauen.«

»Woher hattest du den Stein?«

»Die bauen da irgendwas. Ich war wie in Trance. Ich habe überhaupt nichts mehr mitgekriegt. Ich bin heim und gleich ins Bett und habe gar nicht darüber nachgedacht. Es war alles wie weggeblasen. Erst als ich das heute früh in der Zeitung las, da ist es mir wieder eingefallen. Ich dachte doch nicht, dass er tot ist!«

»Und wie war das mit dem Messer?«

Gabi angelte eine feuchte Strähne aus dem Gesicht – selbst ihre Haare wirkten heute länger – und stierte auf meine Füße. »Er muss doch ein Messer gehabt haben, sonst hätte ich doch niemals ... Ich meine, ich wäre doch nie auf die Idee gekommen, dass er mir was tun will.«

»Und warum kommst du zu mir?«

Vor mir hockte das Unglück in Gestalt einer von Angst und Verwirrung überforderten Studentin, deren verheulter Blick an meine nicht vorhandene Mütterlichkeit appellierte. Wenn man es genau betrachtet, verfügte ich damals eigentlich über keinerlei soziale Fähigkeiten. Das Unglück einer missglückten Ehe hatte mich gerade eben aus einem Dorf am Albtrauf in die Stadt katapultiert, die nicht mehr von mir verlangte, als dass ich in der Straßenbahn schwieg und an der Kasse eines Supermarkts bezahlte. Ich hielt es für nicht ganz ausgeschlossen, dass das, was Gabi Sonntagabend im Gebüsch an der Johanneskirche angerichtet hatte, die Kurzschlusshandlung einer pathologischen Fehleinschätzung gewesen war. Doch das bleibt unter uns. Selbstverständlich hegen wir keinen Verdacht gegen Frauen.

»Erst wollte ich nicht kommen. Aber dann dachte ich, du bist doch die Einzige, die das versteht ...«

»Was soll ich verstehen?«, fragte ich alarmiert.

Gabi blickte zur Tür, die einen Spaltbreit offen stand, und senkte die Stimme. »Das kann ich jetzt nicht erklären, nicht hier. Könnten wir nicht ... irgendwohin gehen?«

Ich stand auf. »Unten, gegenüber gibt es ein Bistro.«

Martha trat uns in den Weg, als wir durchs Sekretariat kamen, durch das jeder Weg von den Büros zur Redaktionstür führte.

»Wo wollt ihr hin? Es ist gleich Konferenz.«

Ich hatte keine Zeit, mich über den familiären Ton zu wundern, denn Gabi fauchte sofort ebenfalls ziemlich familiär: »Das ist unsere Sache!«

Martha fuhr zurück. »Bitte. Ich wollte ja nur sagen, dass die Redaktionskonferenz in fünf Minuten anfängt.«

»Dann seien Sie bitte so gut und entschuldigen Sie mich bei Marie«, sagte ich.

Doch Gabi war inzwischen gänzlich kopfscheu. »Nein, ist schon gut. Ich komme schon allein zurecht. Entschuldige, dass ich dich gestört habe. Wird nicht wieder vorkommen.«

Im nächsten Augenblick war sie zur Tür raus.

»Was hat sie denn?«, fragte Martha großäugig.

»Probleme«, sagte ich.

Ich hätte wirklich gleich drauf kommen können, worin Gabis Hauptproblem lag, aber ich dachte zu wenig darüber nach.

3

Am folgenden Tag rief mich Zilla an. Gabi war festgenommen worden. Sie hatte am Abend im Sarah damit geprahlt, einen Vergewaltiger erschlagen zu haben. Psychisch ein bisschen instabil, das Mädchen. Zwar hatte ihr niemand wirklich geglaubt, aber heute früh hatte dann Gabis Freundin Hede Zilla angerufen und mitgeteilt, dass Gabi zur Polizei gegangen sei, um sich zu stellen, obgleich Hede ihr dringend davon abgeraten hatte. Offenbar steckte Gabi noch massiv in der Trotzphase.

Ich versprach Zilla, mich darum zu kümmern, und bereute es sogleich. Es widersprach meiner Faulheit, meinem Mangel an Initiative und meinen geringen journalistischen Erfahrungen.

Die nächstliegende Idee war, beim Stuttgarter Anzeiger anzurufen und den Mann zu verlangen, dessen Kürzel Krk unter dem Artikel über den Toten an der Johanneskirche gestanden hatte. Der, den ich nach einer Weile Durchschalterei und Gesinge, Getöse und »Bitte warten, please hold the line« am Ohr hatte, bellte »Kraus« in meinen Kopf. Er hatte eine Stimme zum Kotzen – wie man im Schwäbischen zum Räuspern und Husten sagte –, kurz: eine derartig verfroschte Stimme, dass ich mich unbedingt selbst erst einmal freihusten musste. »Lisa Nerz, Amazone.«

Ein schmutziges Lachen. »Oh! Welche Ehre!«

»Ich rufe an«, sagte ich, »wegen des Toten an der Johanneskirche. Haben Sie da nähere Informationen?«

Der Mann räusperte sich. »Und warum rufen Sie nicht bei der Polizei an? Soll ich Ihnen die Nummer des Pressesprechers geben?«

»Danke«, log ich, »der hat mir praktisch nichts gesagt.«

»Ich bin kein Auskunftsbüro«, hustete Krk.

Ich stellte mir einen fetten alten Reporter vor, den man nach jahrelanger Faulheit, Sauferei und Unfähigkeit zu den Polizeiberichten abgeschoben hatte.

»Wie wär’s mit ein bisschen Amtshilfe unter Kollegen?«, säuselte ich.

»Und was kriege ich dafür?«

»Ich weiß zum Beispiel, dass in der Sache jemand festgenommen worden ist.«

»Das wird mir das nächste Polizeifax auch mitteilen. Was weiter?«

»Erst Ihre Informationen.«

Es war einen Moment still. Das heißt, ich hörte ihn röcheln. »Na gut. Wenn Ihnen damit gedient ist ... Moment ...« Ich hörte es krusteln, dann das Klappern einer Computertastatur. »Ein Junge, Identität ungeklärt, Anfang zwanzig, Jeansanzug ...«

»Ich habe die Zeitung gelesen«, unterbrach ich. »Wurde ein Messer am Tatort gefunden?«

»Soweit ich weiß, nicht. Was hat Ihnen denn die Polizei gesagt?«

»Nichts.«

»Dann haben die auch kein Messer gefunden. Warum sollten sie das verschweigen?«

»Aus ermittlungstaktischen Gründen?«, schlug ich vor.

Krk hustete, nein, er lachte. »Ach Gott. Wenn Sie den Täter schon haben, wozu dann noch Ermittlungstaktik. Und nun sagen Sie mal, was Sie wissen.«

»Noch weniger.«

»Ein bisschen müssten Sie mir schon entgegenkommen.«

»So sehen Sie aus!«

»Dann«, sagte er, »schlage ich Ihnen Folgendes vor: Ich recherchiere ein bisschen für Sie und wir treffen uns heute Abend.«

Das hatte er sich so gedacht. Aber ich mäßigte meine Aversionen. Ich gehörte nicht zu den Journalistinnen, die ihre Geschichten auf der Straße suchten oder herbeirecherchierten. Ich hatte meinen Bau in den Räumen der Amazone. Was sich nicht vom Schreibtisch aus machen ließ, machte ich nicht. Mein Ansehen war das Ergebnis meiner Faulheit. Ich zog es vor, mir etwas auszudenken, als es zu erfragen. Ein Artikel über Witwen, für den ich sämtliche Interviewpartnerinnen erfunden hatte beim Versuch, meine eigenen Gefühle nach dem Tod meines Ehemannes zu erledigen, hatte vor zwei Jahren Louises Neugierde geweckt und mir den Eintritt in die Redaktion verschafft. Leider hatte ich nun Gabi und Zilla irgendetwas versprochen, was nach Hilfe klang. Engagement hatte seinen Preis.

»Also gut. Wo treffen wir uns?«

»Da lasse ich Ihnen völlig freie Hand.«

Ich schlug den Tauben Spitz vor. Im Bohnenviertel kannte sich einer wie Krk aus.

Martha streckte den Kopf zur Tür herein. »Übrigens, Louise hat angerufen. Sie kommt morgen.«

Das bedeutete Konferenzen, Wiederaufwärmung längst abgegessener Themen, Rauswürfe bereitliegender Artikel, Umschmiss des ganzen Heftes, neuer Leitartikel, neuer Kommentar von Louise, hektische Materialbeschaffung aus Archiven, schweinische Arbeit und Überstunden. Meistens waren es die Artikel aus meiner Redaktion, die plötzlich überflüssig wurden, denn ich war für die Kultur zuständig und dafür, meine Autorinnen mit plausiblen Aktualitätsargumenten zu vertrösten. Die Grafikerin Brigitte bekam die Existenzkrise, die Cartoonistin Bettina nagte am Bleistift und übersetzte den Unmut in Bilder und unsere stellvertretende Chefin Marie behielt die Nerven.

Ohne Frage brauchte die Amazone Louise. Erstens war es ihr Blatt, zweitens ihr Geld. Aber wenn Louise fern blieb, entweder auf Urlaub, auf Lesereise, zu Fernsehterminen oder wegen dringend nötiger Depressionsphasen auf ihrem Monrepos, dann blühte die Redaktion auf wie ein Wüstengarten unter Bewässerung. Die zarte Helga schrieb böse Glossen, Martha buk wunderbare Plätzchen und kochte herrlichen Kaffee, Brigitte bastelte Layouts, bei denen man sich der Banalität der eigenen Texte schämte, und Marie verfasste kühle, sogar von der Männerpresse beachtete Reportagen über Frauen in Politik und Wirtschaft, die Rechenkünste und das Alltagsmanagement von allein erziehenden Müttern und sexistische Modefotografie.

Ich dagegen arbeitete weder besser noch schlechter, wenn Louise da war, denn ich arbeitete so wenig wie möglich. Ich hatte mich vor zwei Jahren auf gut Glück als Sekretärin bei der Amazone beworben – Fremdsprachenkenntnisse vorhanden – und war von Louise empfangen worden. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich zu meiner Mentorin aufgeworfen, ohne mich ins Bett gezogen zu haben. Seitdem waren gerade einmal drei Artikel von mir in der Amazone erschienen, einer über Christa Wolf, einer über die Galerie Mondin, die kurz darauf einging, und einer über das Frauenkulturzentrum Sarah, anlässlich dessen Louise mich ermahnt hatte, mich nicht mit den Objekten meiner Arbeit zu solidarisieren. Den Veröffentlichungen waren lange Diskussionen vorausgegangen und ich hatte sie ein halbes Dutzend Mal umschreiben müssen. Auch meine Aufträge an unsere freien Autorinnen ergingen erst nach umständlicher Instruierung und wurden sowieso von Louise gegengelesen. Als Redakteurin war ich überflüssig, als Autorin eine Niete und als Mensch unerheblich.

Martha goss die Blumen.

Marie saß in ihrem Büro an der Schreibmaschine, die blonden Haare hinterm Ohr, eine rote Bluse um die straffen Schultern, knappe Jeans. Sie war kompetent, unbestechlich, logisch, aufrichtig, zupackend und intelligent, außerdem schön, sportlich, weiblich, klar und gerade, ohne modischen Kleinkram und so wunderbar blauäugig, dass keine schmutzigen Gedanken aufkamen.

Sie blickte auf. Ich störte.

»Was gibt’s?«

Selbstverständlich herrschte Ordnung in ihrem Büro.

»Ich bin da an einer Geschichte dran«, sagte ich. »Kennst du eine gewisse Gabi?«

»Meinst du Gabriele Weiß, Marthas Tochter?«

»Ach du Scheiße!« Das war es, was mir gestern bei Gabis Besuch so komisch vorgekommen war. Die Distanzlosigkeit.

»Sie ist unter Mordverdacht festgenommen worden«, erklärte ich.

Marie blinzelte nicht.

»Sie soll einen Jungen auf der Straße erschlagen haben. Gabi sagt, der Junge habe sie mit einem Messer angegriffen. Aber die Polizei hat wohl kein Messer gefunden. Gabi hat sich selbst gestellt. Soll ich dranbleiben?«

Marie nickte. Sie schien mit ihren Gedanken woanders. »Wir reden morgen drüber, wenn Louise da ist, ja?«

Martha putzte den Kühlschrank in der Küche, die wir im ehemaligen Badezimmer der zum Büro umorganisierten Fünfzimmerwohnung untergebracht hatten. Mit resolutem Blick sackte sie Joghurtbecher jenseits des Verfallsdatums, verschimmelte Käseecken und Reste eines Büfetts in eine Tüte.

»Das mit Gabi tut mir leid«, sagte ich.

»Was ist denn mit ihr?«

»Ach, dann wissen Sie es noch gar nicht. Gabi ist zur Polizei gegangen und hat erklärt, sie habe diesen Jungen umgebracht, der am Feuersee gefunden wurde.«

Martha ließ den Putzlappen ins Spülwasser sinken. »Mein Gott, warum denn?«

»Ich denke, es war Notwehr.«

Martha sprach nie viel. Ihre Domäne war die stille liebevolle Dienstbarkeit. Sie hatte sämtliche Termine Louises im Kopf, alle wichtigen Telefonnummern, die kulinarischen Vorlieben und Abneigungen aller Menschen, mit denen sie zu tun hatte, und organisierte unauffällig und effizient das soziale Leben der Redaktion. Immer war Kaffeesahne da, stets Kaffee, Süßstoff und Zucker. Hitzige Konferenzen kühlte sie mit Plätzchen und Säften ab. Und wenn Louise in Lobeshymnen ausbrach, lächelte sie nur und wallte stumm von dannen. Nach einigen Monaten hatte auch ich meine Bedenken gekillt, dass wir Amazonen uns eine Redaktionsmutti hielten. Es war einfach zu schön, wenn sich jemand um die alltäglichen Kleinigkeiten kümmerte.

»Das hat wohl so kommen müssen«, seufzte sie und zog den triefenden Lappen wieder aus dem Wassereimer. »Was treibt sie sich auch immer dort herum!«

Wahrscheinlich war es gut, dass die Sekretärin so selten mitredete. Ihre geistige Welt entsprach nicht dem aufgeklärten Standard, den wir pflegten.

»Auch Frauen haben das Recht, jeden Ort in der Stadt zu jeder Zeit ohne Gefahr für Leib und Leben aufzusuchen«, sagte ich.

Martha widersprach nicht. Sie widersprach selten. Sie dachte sich ihren Teil und wischte den Kühlschrank aus.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir holen Ihre Tochter da wieder raus«, sagte ich. Wieso hatte ich nur den Eindruck, als wäre Martha das nicht recht?

Den Nachmittag über bewegte ich in meinem Hirn das Konzept einer Polemik gegen öde Unterführungen, einsame Grünanlagen und die zynische Empfehlung der Polizei an Frauen, stets wachsam zu sein. Dann meldete ich mich zur Recherche ab.

Es war feuchtkalt draußen. Den Menschenmassen nach zu schließen, die mit bösen Mienen und dicken Tüten herumschusselten, war Weihnachten ziemlich nahe. Vom Markt wehten Brandmandeldüfte herüber. Beim Kaufhaus Breuninger verteilte ein Weihnachtsmann Parfümproben, aber nicht an mich. Ein Mann in Lederjacke prallte gegen mich. Ich hatte ihn kommen sehen und den Ellbogen ausgefahren. Es riss ihn um seine eigene Achse. Ein Sekundenbruchteil flight or fight, dann entschuldigte er sich erschrocken. Seit ich aufgehört hatte, auf der Straße entgegenkommenden Männern auszuweichen, kam es immer wieder zu Zusammenstößen. Die meisten Männer waren unfähig, einen Zusammenprall vorherzusehen.

Ein System von Ladenpassagen, Treppen, Rolltreppen und kleinen Plätzchen leitete mich unter das Schwabenzentrum. Hier vereinigten sich die Einkaufsströme aus den großen Kaufhäusern mit Obst- und Blumenverkäufern, Zeitschriftenhändlern und um Pfennige singenden Bettlern mit struppigen Hunden. Ein Teil zweigte an den Kassenautomaten ins Breuningerparkhaus ab. Der schäbigere Rest fand sich in dämpfigen U-Bahnen ein, die sich unter der Innenstadt hindurchtunnelten. Charlottenplatz, Staatsgalerie, Neckartor. Dort zuckelte die Bahn in den Winterabend hoch zum Stöckach in der Neckarstraße. Im Vorteil-Discount volle Einkaufswagen mit Großpackungen von Taschentüchern, Klopapier und Dosentomaten. Ich beschränkte mich auf ein Netz Orangen. Seitdem ich im dritten Stock wohnte, hatte ich mir Großeinkäufe abgewöhnt.

Meine Holzdielenwohnung mit ihren zugigen Fenstern und einem staubigen Gasofen im Zentrum teilte ich mir mit einer Kaffeemaschine, einem Kühlschrank, einem Kleiderschrank, einem Bett, einem Fernseher, einigen Kisten Büchern und diversen Kosmetikartikeln. Ich schwang die Orangen auf die Spüle, die ich beim Einzug vor einem Jahr zusammen mit dem Küchenmobiliar und einer Bastverkleidung am Ofen für sechstausend Mark hatte ablösen müssen. Noch fehlte mir ein Tisch. Aber ich stand in Verhandlungen mit Sally, die einen übrig hatte.

Ich stellte den Fernseher an, damit ein wenig Farbe in den Salon kam. Das Fenster ging auf einen Hinterhof, in dem ein KfZ-Betrieb seine Heimstatt hatte. Vom Küchen- und Schlafzimmerfenster hatte ich einen schönen Ausblick auf die Haltestelle Stöckach und den Bunker der Staatsanwaltschaft gegenüber.

Ich hatte genügend Zeit, mich aufzustylen. Nach einer Stunde konnte ich als Star des Films Eine Frau steht ihren Mann aus dem Haus gehen: dunkler Anzug, Weste, Binder, Krawattennadel, Taschentuch in der Brusttasche, Schulterklappentrenchcoat, streng gekämmte Haare, Narbe im Gesicht.

Stadteinwärts war die Straßenbahn leer. Die Hausfrauen kochten jetzt, und die Jugend von damals war noch nicht ins Kino aufgebrochen. Alle anderen hatten sowieso ein Auto. Ich besaß auch eines, aber ich bewegte es ungern, um meinen Parkplatz nicht zu gefährden.

4

Es gibt Leute, die erkennen einen Lehrer zehn Meter gegen den Wind oder Theologen am Hinterkopf. Ich erkannte Journalisten am fragenden Blick. Am Eingang zum Tauben Spitz zwischen Rotlichtareal und Fresskulturregion in der sogenannten Altstadt stieß ich mit einem solchen Exemplar zusammen. Obgleich ich mir Krk als aufgedunsenen Alten mit Tomatensoßenflecken auf der Krawatte vorgestellt hatte, identifizierte ich ihn sofort. Ein verlebter Vierziger, nicht groß, aber grobknochig, schwarz behaart, außer auf dem Schädel, wo ein grauer Filz wucherte, schlecht rasiert. Er hatte ein kantiges Gesicht mit großer Nase, gefurchter, breiter Stirn, unruhigen Linien und sagenhaft großen grauen Augen, die träge und feucht auf- und zuklappten. Er war nicht gerade dünn, aber auch nicht dick. Vermutlich trank er und rauchte, aß aber nichts.

»Hoppla«, sagte er und zog den Bauch ein.

»Sie sind Herr Kraus«, sagte ich. »Ich bin Lisa Nerz.«

»Aha!«

Er hatte eine verhärmte Lesbe in unübersichtlichen lila Röcken erwartet. Die Umstellung auf das andere Vorurteil dauerte ein paar Sekunden. Nun wusste er nicht, ob er mir die Tür aufhalten durfte oder nicht. Ich stürmte großzügig das Lokal. Unter der Decke schwebten blaue Schwaden. Um die großen Rundtische duckten sich die Leute Schulter an Schulter unter tief hängenden Kupferlampen. Geschmälzte Maultaschen geisterten an meiner Nase vorbei. Krk prallte zum zweiten Mal auf mich, weil ich plötzlich stehen geblieben war.

»Oh! Entschuldigung.« Seine Augen glitten skeptisch über die Hockenden. »Ob wir hier Platz finden?«

Ein guter Journalist, der die richtige Frage zur richtigen Zeit stellte.

Sally winkte hinter dem Tresen. Sie zapfte gerade Bier. Am Tresen waren noch zwei Barhocker frei. Sally blinzelte mir zu. Die üppigen blonden Locken hatte sie nach hinten gebändigt.

»Hallo, wie geht’s?«, fragte sie. Ihre blauen Augen hüpften zwischen mir und Krk hin und her.

»Es geht so«, antwortete Krk. »Und Ihnen?«

Offenbar hatten Krk und ich eine gemeinsame Bekannte. Sally hatte einst als Sekretärin im Stuttgarter Anzeiger gearbeitet, ehe sie zum SDR wechselte, der inzwischen SWR heißt. Gleichzeitig jobbte sie im Tauben Spitz und in der Praxis eines Kinderarztes. Sie brauchte immer Geld für Kosmetikartikel, Fußreflexzonenmassage, die Menagerie von drei Katzen und einem Hund, mit der sie in einer kleinen Dachgeschosswohnung zusammenlebte, und den Tierarzt. Jetzt nahm sie ein Reserviert-Schildchen von einem Zweiertisch in der Ecke beim Spielautomaten und lud uns ein, Platz zu nehmen. »Was darf ich bringen?«

Sally grinste mich mit Verschwörerinnenmiene an. Ich war ihr vor einigen Jahren im Krankenhaus in die Hände gefallen. Sie hatte damals kurzerhand mein Leben gerettet, als ich mich mit Hilfe eines allergischen Schocks davonstehlen wollte. Seitdem gehörte ich zu der Menagerie streunender Viecher, die sie betreute. Als ich nach meinem Unfall nur an Krücken gehen konnte, hatte sie mir die ebenerdige Wohnung einer Freundin vermittelt und für mich eingekauft. Dafür begleitete ich sie, wann immer sie es wünschte, als Mann zu Konzerten und Partys. Sally verliebte sich gern und bevorzugt in die falschen Männer. Ich diente ihr dann als Puffer zwischen ihr und einer dauerhaften Beziehung. Dass die Männer nicht in ihre Wohnung kamen, und wenn, dann nicht blieben, dafür sorgte ihre Schäferhündin Senta.

Krk bestellte ein Hefeweizen und Maultaschen, ich einen Salat und ein Pils. Sally gab sich servil. »Kommt sofort.«

Ich bot Zigaretten an und eröffnete die Verhandlung. »Also, was haben Sie rausgekriegt.«

»Nicht viel.« Er versuchte, mir nicht ins Gesicht zu starren. »Ich kenne einen bei der Polizei. Der hat mir wenigstens ein bisschen was erzählt. Ihre Freundin Gabriele Weiß ...«

Ich zog die Brauen hoch. »Freundin is’ nicht.«

»Also gut. Gabi ist heute früh zur Polizei marschiert und hat erklärt, sie wolle einen Mord gestehen.«

»Es war Notwehr.«

Krk hüstelte. »Die Polizei hat das Ganze zunächst auch für Spinnerei gehalten. Es gibt immer wieder Leute, die gestehen, sobald es einen Toten gibt. Aber der Tote an der Johanneskirche war nicht sonderlich spektakulär. Und die Brille, die man am Tatort gefunden hat, passt auf Gabi. Man fertigte ein Protokoll an und übergab Gabi der Staatsanwaltschaft, die einen Antrag auf Einweisung in eine psychiatrische Klinik stellte zur Überprüfung von Gabis Schuldfähigkeit oder so ähnlich. Sie muss einen ziemlich verwirrten Eindruck gemacht haben.«

»Aber sie ermitteln doch nicht in Richtung Mord?«

Krk zuckte mit den Schultern. »Da müssten Sie bei der Staatsanwaltschaft nachfragen. Mein Gewährsmann bei der Polizei sagt, Gabi beharre auf Mord, wenn sie auch nicht genau beschreiben konnte, was wirklich passiert ist.«

»Vermutlich ist Gabi mit den juristischen Begriffen nicht vertraut«, sagte ich. »Oder sie ist realistisch. Frauen werden nicht wegen Totschlags angeklagt, sondern immer wegen Mordes.«

»Soso.« Ein Lächeln zuckte in Krks Mundwinkeln. »Oder es war Mord.«

»Unsinn. Sie ist angegriffen worden und hat sich verteidigt.«

»Waren Sie dabei? Die Polizei hat jedenfalls das von Ihnen erwähnte Messer nicht gefunden. Gabi soll auch der Polizei gegenüber das Messer nicht erwähnt haben. Sie soll erklärt haben: ›Ich habe den Jungen ermordet, weil die Männer alle Schweine sind.‹«

Sally brachte das Bier. »Recht hat sie!« Sie legte die Bierdeckel aus und stellte die beschlagenen Gläser darauf. Dann eilte sie geschäftsmäßig weiter. Sie hatte straffe, runde Waden. Leider schämte sie sich ihres großflächigen Hinterns, auch wenn sie Röcke trug, und bedeckte ihn stets mit Hemdblusen.

Krks Fackelaugen gingen denselben Weg. Dann sah er mich an. Es war ihm peinlich. Gleichzeitig erschien ein streitsüchtiges Grinsen auf seinem Gesicht.

»Was wissen wir denn über die Leiche?«, erkundigte ich mich friedlich.

»Er wurde von hinten mit einem Stein erschlagen und lag auf dem Bauch neben dem Sandhaufen einer Baustelle nahe dem Eingang zur U-Bahn. Die Stadt gräbt da Kabel aus. Ein Obdachloser hat die Leiche gefunden. Aber die Obdachlosen, die in der Toilette an der Kirche übernachteten, wollen nichts bemerkt haben. Übrigens kein Grund zum Misstrauen. Die Penner sind der Polizei bekannt. Man nimmt nicht an, dass sie die Mithilfe böswillig verweigern. Sie müssen vielmehr ein Interesse daran haben, dass der Verdacht nicht auf sie fällt.«

»Weiß man inzwischen, wer der Tote ist?«

»Nein.«

»Hatte er denn nichts bei sich?«

»Zumindest keinen Ausweis, falls Sie das meinen. Übrigens auch keinen Geldbeutel. Ein paar Münzen und Scheine trug er in der Jackentasche, außerdem eine Fahrkarte der Straßenbahn, abgestempelt am Schillerplatz in Vaihingen, ein Päckchen Taschentücher und eine abgerissene Kinokarte vom Palast. Er hat den Film Die dreizehn Kammern der Schaolin gesehen. Das ist kein Porno, sondern ein Kung-Fu-Film ...«

»Karate«, sagte ich.

Krk blinzelte. Wahrscheinlich befürchtete er, dass ich zu den Weibern gehörte, die den Lotuskick beherrschten. Die meisten Männer dachten an ihre Eier, wenn das Thema Selbstverteidigung aufkam.

»Der Film war Viertel vor elf zu Ende«, sagte er.

»Gabi hat gegen elf das Sarah verlassen. Der Junge muss sich allerdings ganz schön beeilt haben, um vom Kino in der Bolzstraße durch die Innenstadt bis zum Feuersee zu wetzen. Und was wollte er da?«

Krk zog die Schultern hoch. »Übrigens hatte er außerdem noch einen Draht in der Jackentasche ...«

»Ah«, machte ich hoffnungsvoll. »Draht taugt immerhin dazu, jemanden umzubringen.«

»Leider«, sagte Krk, »ist er der Tote, nicht der Mörder, oder nicht? Außerdem hatte er Kaugummi bei sich und einen Rasierapparat.«

»Was?«

»Richtige Männer müssen sich zuweilen rasieren.«

»Haben Sie auch Ihren Apparat dabei?«

Krk fuhr sich übers Kinn. Das schabende Geräusch erinnerte mich an Sallys letzten Liebhaber, zumindest an das, was sie mir im Brustton der Entrüstung über seine Morgenlatte und sein stachliges Gesicht erzählt hatte. Krk dagegen zog den Rotz durch die Nasenhöhle. Vermutlich schnarchte er fürchterlich. Außerdem kratzte er sich hin und wieder irgendwo, brachte bei jeder Positionsänderung sein Gemächt wieder in Stellung und zog, als er aufstand, um zum Pinkeln zu gehen, die Jeans hoch. Es war unübersehbar, dass der Mann ein biologisches Gebilde war, das mehr als die Frau den tierischen Bedürfnissen nach Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, Fortpflanzung und sich zu flöhen unterworfen war. Krk trug Jeans mit der Patina echten Alters, die an sämtlichen Ausbuchtungen blank und in den faltigen Vertiefungen grau waren, dazu ein grünbraunes Hemd und ein dunkelgraues Sakko.

Während er auf dem Klo war, brachte Sally Maultaschen in der Brühe und den Salat. »Woher kennst du den denn?«

»Beruflich«, beschwichtigte ich.

Krk kam wieder. Sally kniff die Lippen zusammen und warf ihm einen Blick zu, der mir als Warnung dienen sollte.

Krk grinste. »Und was haben Sie nachher noch vor?«

»Bevor wir zum privaten Teil kommen: Was weiß die Polizei über Gabi?«

»Vermutlich weniger als Sie?«

»Ich kenne Gabi praktisch nicht«, sagte ich, »von einer kurzen, für sie enttäuschenden Begegnung im Sarah abgesehen.«

»Ach so.« Krk schlürfte die Brühe. Es war der Moment, wo er sich für die ganze Geschichte zu interessieren begann. »Gabi«, sagte er, »ist zwanzig. Abitur, studiert Germanistik und Anglistik, nachdem sie eine Lehre als KfZ-Mechaniker abgebrochen hat.«

»Mechaniker-in!«

Krks Augen blendeten auf. »Na, Bruder, unter uns Männern: Das mit dem weiblichen Genus ist doch reine Emanzenhysterie, ein Nebenschauplatz gelangweilter Hausfrauen, die lieber Hausmänner wären.«

Ich gab meinem Bierglas einen Schubs. Es schäumte über den Holztisch auf ihn zu. Er glitt schnell vom Stuhl. Das Getränk tropfte eher kümmerlich über die Kante. Während die Nachbarn im Lokal mit verrenkten Hälsen lauschten, sagte er: »Bier, Wein, Wasser, das sind die typischen Waffen der Frau, der der Saft ausgeht. Heutzutage vergeht kaum noch eine Talkshow, ohne dass ein Mann mit triefendem Gesicht und nassen Hosen dasitzt.«

Er weichte eine Serviette ein und tupfte das Bier von der Platte, ehe er sich wieder setzte. Wenigstens hatten seine Zigaretten etwas abgekriegt. Er knüllte die halb volle Schachtel in der Faust. Die Stängel knackten. Er schob sich ein Bonbon in den Mund, eines von diesen Vitamin-C-haltigen mit flüssigem Kern. Wir bezahlten dann getrennt, was Sally mit Befriedigung zur Kenntnis nahm. Krk ging grußlos, das Bonbon zerbeißend.

Ich setzte mich zu Sally an die Theke und bestellte Kaffee. Sie servierte mir dazu die Sätze: »Was willst du mit dem? Der stinkt, wenn du mich fragst.«

Sally konnte Männer im Allgemeinen nicht riechen.

»Kennst du ihn näher?«, fragte ich.

»Gott bewahre. Er kam erst zum Anzeiger, als ich schon fast weg war. Er ist eigentlich Fotograf, aber wir brauchten damals keinen Fotografen. Ich glaube, er kam über persönliche Beziehungen zum Chef rein. Ein Sozialfall. Er soll Lehrer gewesen sein.« Sie transportierte mit starken Armen ein Tablett mit Bier in den Gastraum. »Da gab es irgendeine Geschichte«, fuhr Sally fort, als sie wieder am Zapfhahn stand. »Aber das musst du für dich behalten, ja? Es heißt, er soll was mit einer Schülerin gehabt haben. Es gab sogar einen Prozess, glaube ich. Danach musste er scheint’s den Schuldienst quittieren.«

Ich blähte meine Lungen. »Wann war das?«

Sally zuckte mit den hübschen runden Schultern. »Vor einigen Jahren. Übrigens nicht in Stuttgart. Er kommt, soviel ich weiß, aus Hamburg oder Hannover.«

Na bitte!

5

Zum Morgenkaffee die Schlagzeile: »Lesbe erschlägt jungen Mann«. Darunter: »Im Fall des Toten an der Johanneskirche (wir berichteten davon) hat die Polizei gestern eine junge Frau festgenommen. Die 20-jährige Gabi W. (Name von der Redaktion geändert) legte nach Angaben der Polizei ein Geständnis ab und bezichtigte sich selbst des Mordes. Als Motiv gab sie an, aus Männerhass gehandelt zu haben. Gabi kam am Abend der Tat aus dem nahe gelegenen Frauencafé Sarah. Sie wurde inzwischen in psychiatrische Behandlung überwiesen. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft hat noch keine Anklage erhoben. Die Identität des etwa 20- bis 25-jährigen Toten ist noch nicht geklärt. Krk.«