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Das Wissen dieser Welt aus den Hörsälen der Universitäten.

Fachbereich

LITERATURWISSENSCHAFT

Liebe, Lust und Leidenschaft

Von Prof. Dr. Barbara Vinken

Fangen wir bei Adam und Eva und dem Buch Genesis an. Der Mythos des Falls verbindet zwei für die Liebe entscheidende Momente: das Begehren nach Gottgleichheit drückt sich in dem Wunsch nach Allwissenheit aus – Eva wird verführt, vom verbotenen Baum der Erkenntnis zu essen. Das Wissen, das sie durch den Übertritt des Verbotes erlangt, ist eines vom Unterschied der Geschlechter. Eva und Adam erkennen, dass sie nackt sind. Scham und Begehren sind diesem Erkennen des Geschlechtsunterschiedes gleichursprünglich.

Am Ursprung unseres Liebesverständnisses liegen zwei sehr verschiedene Vorstellungen von Liebe: Im fünften Jahrhundert vor unserer Zeit erzählt die griechische Dichterin Sappho, deren Gedichte nur fragmentarisch auf uns gekommen sind, von der zerstörerischen Gewalt der Liebe, die das Subjekt zur völligen Selbstverausgabung, zum ekstatischen Selbstverlust und schließlich zum Selbstmord führt. Die Dichterin liebte eigentlich Mädchen. Diese Liebe trägt bis heute ihren Namen: wir sprechen von der lesbischen oder der sapphischen Liebe. Verzweifelt stürzt sie sich dann jedoch um eines bezaubernd schönen Jünglings, um Phaons willen – so weiß es die Sage – vom leukadischen Felsen in die tobende See. Dass es auch hier um Erkenntnis geht, mag man am Licht erkennen, das im Namen des Jünglings und im Weiß des Felsen aufleuchtet.

Die unerfüllte maßlose Liebe verzehrt. Sie ist eine einsame Erfahrung, die das Individuum aus der Gemeinschaft ausgrenzt. Auch ist sie trotz höchster Steigerung der Selbsterfahrung im Schmerz und in der Angst vor dem lebensbedrohenden Verlust des Geliebten eher wahnhaftes Verkennen als gesteigerte Erkenntnis.

Der griechische Philosoph Platon entwickelt 150 Jahre später in seinem Gastmahl, dem Symposium, die erste abendländische Liebeslehre. Im Gegensatz zur zerstörerischen Liebe der Sappho ist die von Platon entwickelte Liebesvorstellung produktiv. Eros führt zur Zeugung. Durch den Eros wächst das Subjekt über sich hinaus; in der Zeugung wird es ewig. Nietzsche hat am Ende dieser Tradition den platonischen Eros im Sinn gehabt, als er den auf der Insel im Silser See in einen Findling eingravierten Satz schrieb: „Denn alle Lust will Ewigkeit.“ Menschliche Gemeinschaft bildet sich durch die Energie des Erotischen, die geradezu als staatsbildende Kraft eingeschätzt wird. Die höchste Form findet dieser nach Ewigkeit strebende, zeugende Wille nicht in der Liebe zwischen Mann und Frau, sondern in der Männerliebe.

Sappho singt in ihren Gedichten als Liebende. Hilflos hingerissen von Begehren gerät sie außer sich: ihr verschlägt es beim Anblick des geliebten Objektes die Sprache, der Atem stockt, die Ohren summen, alles verschwimmt ihr vor den Augen, sie wird flammend rot und im nächsten Moment totenbleich, ihr Herz schlägt rasend, kalter Schweiß bricht aus, ihr versagen die Sinne. Schon im Leben gibt die erotisch Betroffene ein Bild des Todes. Dieses Gedicht, das nur als Fragment überliefert ist, endet mit den Worten: „alles muß ertragen werden, denn.“ Ohne den Geliebten ist alles nichts. Das Subjekt erleidet den Selbstverlust, als es die Begehrte im heiteren, scherzenden Gespräch mit einem Dritten sieht, der ihm durch dieses übermenschliche Glück der Zuwendung der Geliebten göttergleich scheint.

Der Selbstverlust in entäußernder Liebe ist als Moment der intensivsten Selbsterfahrung höchst sprachmächtig gefasst. Das von Leidenschaft erfasste Subjekt mag erglühen und gleichzeitig vor Kälte zittern, taub, bleich wie der Tod, blind, stumm werden: der Dichterin verschlägt es darüber die Sprache nicht. Der Verlust des Ausdrucks ist meisterhaft in einer unmittelbar wirkenden, fast nüchternen Sprache beschrieben. Das leidende Selbst, ganz außer sich, macht sich in Selbstbeobachtung kühl zum Objekt der Selbstanalyse und gibt sich den anderen zum Schauspiel. Ein theatralischer Charakter ist selbst dieser extremen Liebeserfahrung, die bis zum Selbstverlust geht, nicht fremd.

Für Rainer Maria Rilke wurde Sappho zur Heiligen der Liebe, die den erhaben Liebenden unbedingte Hingabe vorbuchstabiert: Heloise und die portugiesische Nonne, zwei der großen weiblichen Stimmen erhabener Liebe in der Moderne, sieht Rilke als Nachfahren Sapphos. Sappho, hingegeben an das Objekt ihres Begehrens, sich nach ihrem Ein und Alles verzehrend, wird für Rilke zum Inbegriff des Pathos.

Dass diese ekstatische Liebe auf wahnhafter Verkennung – oder, es mit Freud zu sagen, auf einer Überschätzung des Liebesobjektes beruht, die nicht von Dauer ist – leuchtet bereits in den Gedichten der Sappho auf, die von der „Verrücktheit ihres Herzens“ spricht. In einem Zwiegespräch zwischen Sappho und der Liebesgöttin scherzt Aphrodite: „Schon wieder, sagt die Göttin der Liebe, schon wieder rufst Du nach mir. Wen soll ich jetzt davon überzeugen, Dich zu lieben? Ohne wen glaubst du jetzt keine Sekunde weiter leben zu können?“ Aphrodite insinuiert damit, dass die Leidenschaft flatterhaft, die existentielle Bedrohung, die überwältigende Angst, aus der heraus das Ich spricht, ein Zustand ist, der vorübergeht. Das Gedicht schließt so zwei Stimmen zusammen: die leidenschaftliche, in Extase und Schmerz liebende, die aus der Agonie heraus fleht und Aphrodite, die das kühle Wissen von der Wandelbarkeit, ja, der Serialität der Leidenschaft hat. Die mütterliche Gegenwart der allmächtigen Liebesgöttin, die diejenigen, die sie anrufen, erhört, ist vielleicht nur Projektion der aus tiefster Angst und Verlassenheit rufenden Liebenden; sie besänftigt und beruhigt das vom Verlust des Liebesobjekt bedrohte Ich.