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Edmund Husserl zur Einführung

Peter Prechtl

Edmund Husserl zur Einführung

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Junius Verlag GmbH

© 1998 by Junius Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Inhalt

1. Einleitung

2. Biografie

3. Das philosophische Selbstverständnis

4. Die Psychologismuskritik

5. Die Intentionalität als grundlegende Bewusstseinsstruktur

Der sprachanalytische Zugang zur phänomenologischen Perspektive: Ausdruck und Bedeutung

Das intentionale Bewusstseinserlebnis

Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung

6. Die transzendentale Phänomenologie

Die phänomenologische Reduktion

Erkenntnisweisen in der Phänomenologie

Wesensschau und eidetische Variation

Noesis und Noema

Transzendentale Subjektivität

Statische und genetische Phänomenologie

7. Die Welt als Horizontintentionalität

8. Wahrnehmung und kinästhetisches Bewusstsein

9. Das Zeitbewusstsein

10. Intersubjektivität und Fremderfahrung

11. Die Konstitution der geistigen Welt

Die personale Einstellung

Motivation als Grundgesetz

12. Transzendentales und personales Ego

Der Ich-Pol

Die Habitualität

13. Die Krisis der Philosophie und die Lebenswelt

14. Aspekte der praktischen Vernunft

Die Ethik der kulturellen Erneuerung

Zwischen Gefühls- und Verstandesethik

Die Grundlegung der Ethik in der Lebenswelt

15. Personale Identität – ein phänomenologischer Beitrag

16. Aspekte kritischer Husserl-Rezeption

Idealität und die Tendenz zur Geschichtlichkeit – Derridas Kritik

Der Leib und die Inkarnation des Sinnes bei Merleau-Ponty

Phänomenologie und soziales Verstehen

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

1. Einleitung

Die Absicht, eine Einführung in die Phänomenologie Husserls zu schreiben, sieht sich vor dieselben Schwierigkeiten gestellt wie der Versuch einer erstmaligen Lektüre husserlscher Werke. Ein beinahe undurchdringlicher Komplex gedanklicher Bezüge und Verweisungen erschwert den Anfang; zahlreiche bis ins Detail gehende Einzelanalysen lassen den Leser den roten Faden verlieren; die eingestreuten Auseinandersetzungen mit anderen Positionen der Philosophie erfordern in ihrer z.T. sehr differenzierten Argumentation bereits weitgehende Kenntnisse der husserlschen Position wie der anderen Standpunkte.1 Der abschlägige Hinweis, ein solcher Voraussetzungsreichtum sei auch anderen philosophischen Œuvres eigen und gerade ein Kennzeichen für den wissenschaftlichen argumentativen Stil, hilft demjenigen, der sich für die Philosophie Husserls zu interessieren beginnt, nicht weiter.

Einer Einführung in Husserls Phänomenologie kann demnach nur dann Erfolg beschieden sein, wenn sie die grundlegenden Züge seiner Position nachzuzeichnen vermag. Es gilt, Schneisen zu schlagen und damit den Weg durch Husserls Werk, von dem aus die zahlreichen Seitenwege (selbstständig) beschritten werden können, zu bahnen. Ein solches Unterfangen hat allerdings immer mit der Gefahr zu kämpfen, die Einfachheit der Erläuterung auf Kosten der Komplexität des behandelten Themas zu erreichen. Die zahlreichen Bemühungen, die Relativitätstheorie Einsteins verständlich zu machen, lassen deutlich werden, dass es auch für den Anspruch auf Verständlichkeit eine Grenze gibt, über die man nicht hinausgehen kann, ohne das behandelte Problem zu verfehlen.

Eine andere Schwierigkeit, die Philosophie Husserls darzustellen, ergibt sich aus der Entwicklung, die seine Phänomenologie vollzogen hat. Rein äußerlich lassen sich die Veränderungen daran ablesen, dass sich unterschiedliche phänomenologische Gruppen auf Husserl berufen können bzw. sich aus seiner Phänomenologie heraus entwickelt haben. Husserl ist in unterschiedlicher Gestalt Initiator einer Bewegung phänomenologischen Denkens geworden. Je nach philosophischem Interesse wird seine Leistung an unterschiedlichen Schlagwörtern festgemacht: Psychologismuskritik, transzendentale Phänomenologie, Lebenswelt.

Es käme einer eigenen Unternehmung gleich, im Einzelnen die Verbindungslinien aufzuzeigen, die zwischen Husserls Logischen Untersuchungen und dem Göttinger bzw. Münchner Phänomenologenkreis (Pfänder, Daubert, Geiger, Conrad, Reinach) bestanden, oder zu untersuchen, von welchen Problemkreisen die Wege zu den Phänomenologien von Scheler, Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty führen.2

Am besten wird man Husserls Denkweg wohl gerecht, wenn man zum einen zu fassen sucht, um welche zentralen Probleme sich sein Denken bewegt, zum anderen die Gründe aufspürt, die innerhalb dieser Problemstellungen zu Verschiebungen und Veränderungen geführt haben.

Eine dritte Schwierigkeit, vor die nicht erst der gegenwärtige Leser gestellt ist, liegt in der Terminologie Husserls begründet. Begriffe wie »Bewusstseinserlebnis«, »intentionales Erleben« oder »intentionaler Akt« verleiten immer wieder zu einem psychologischen Verständnis. Auch (und gerade) dort, wo nicht in sachlichen Problemen eine Trennschärfe zwischen Phänomenologie und Psychologie begründet ist, erschweren psychologische Assoziationen das Verständnis dessen, was die Phänomenologie ausmacht. Für meine Einführung kommt die Notwendigkeit, eine terminologische Übersetzungsarbeit zu leisten, einer Gratwanderung gleich, bei der ein Absturz nach zwei Seiten droht: entweder rigides Festhalten an der Terminologie oder zu große Freiheit gegenüber den ursprünglichen Begriffen. Im ersten Fall würde nichts erläutert, im zweiten Fall wäre der Bezug zum erläuterten Begriff nicht mehr erkennbar; schlimmstenfalls würde sich eine Bedeutungsverschiebung gegenüber dem Originaltext einstellen. Diese Einführung versucht den Mittelweg zu finden, indem sie die betreffenden Begriffe in ihrer Bedeutungsintention verständlich macht, soweit möglich mit Husserls eigenen Umschreibungen. Gänzlich wird sich wohl nicht erreichen lassen, was schon Max Scheler in einem Brief an Husserl angemerkt hat: Er möge doch bei der zweiten Auflage seiner Logischen Untersuchungen auf eine Klärung von Begriffen wie z.B. »intentionaler Akt« achten, die zu zahlreichen Missverständnissen geführt und das Verständnis des phänomenologischen Denkens erschwert hätten.

Trotz aller Schwierigkeiten, die sich mit der Lektüre der Texte Husserls verbinden, scheint mir doch die Beschäftigung und Auseinandersetzung eine Gewinn bringende Bemühung zu sein. Allerdings darf nicht ein abgeschlossenes Ergebnis im Sinne eines fixen Gedankengebäudes erwartet werden, mithilfe dessen man alles erklären zu können meint. Ebenso wenig wie die Wissenschaft ein statisches Denkgebäude ist, vielmehr einen Denkprozess darstellt, darf auch die Phänomenologie Husserls als abgeschlossenes System betrachtet werden. Er selbst verstand Phänomenologie als Forschungsanspruch, von dem er sagte, dass dessen Einlösung die Leistungskraft eines einzelnen Forschers überstiege. Am deutlichsten bekundet sich dieses Selbstverständnis in seinen zahlreichen Manuskripten, in denen er jedes Problem immer wieder neu angegangen ist.

2. Biografie

Edmund Husserl wurde am 8. April 1859 in Proßnitz (Mähren) geboren. Zu Beginn seines Studiums, 1876 in Leipzig und ab 1878 in Berlin, dominierte sein Interesse an der Mathematik, Physik und Astronomie. Er konnte die renommierten Mathematiker Leopold Kronecker und Karl Weierstraß zu seinen Lehrern zählen. Das mathematische Institut der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin hat damals große Anziehungskraft weit über Berlin hinaus ausgeübt. Kronecker hatte sich einen Namen gemacht durch seine Vorlesungen zur Zahlentheorie, zur Theorie der Determinanten und Integrale. Weierstraß ging der Ruf voraus, dass er die neuesten Forschungsergebnisse auf den Gebieten der analytischen und elliptischen Funktionen, abelsche Funktionen und Variationsrechnung in seinen Vorlesungen behandelte. Von seinen Schülern ist wohl Cantor der berühmteste. Ihm haben wir die Entwicklung der Mengenlehre zu verdanken, die wie die Differenzialrechnung und die Funktionentheorie zum gesicherten Bestand der modernen Mathematik zu rechnen ist. Husserls Dissertation im Fach Mathematik befasste sich mit der Theorie der Variationsrechnung. Nach seiner Promotion war er für kurze Zeit Assistent bei Weierstraß.

Husserls mathematischer Lehrer machte sich vor allem einen Namen durch seinen Anspruch, Klarheit in den Grundbegriffen der Mathematik zu schaffen. Einen konkreten Anlass für seine kritische Einstellung bot ihm die damalige Praxis der Differenzialrechnung, mit dem fragwürdigen Begriff der »unendlich kleinen Größen« umzugehen, ohne ihn durch eine exakte Fundierung wissenschaftlich befriedigend begründet zu haben. Weierstraß zählt zu jenen Vertretern einer kritischen Mathematik (wie später auch Cantor und Dedekind), die auf klare Definition der Begriffe und logische Strenge der Beweise bedacht waren. Nach Weierstraß’ Verständnis hatte deshalb eine strenge Darstellung der Differenzial- und Integralrechnung mit der Erörterung des Zahlbegriffs zu beginnen. In Husserls Habilitationsschrift Über den Begriff der Zahl kommt dieser Grundlegungsgedanke ausführlich zu Geltung. Dieser Begründungsanspruch einer kritischen Mathematik prägte sein Denken und das »Ethos seines wissenschaftlichen Strebens« (Husserl) nachhaltig.

Auf dem Gebiet der Philosophie wurde Husserl von Franz Brentano geprägt. Entscheidend dafür waren seine Wiener Studienjahre von 1884 bis 1886, in denen er bei Franz Brentano einerseits eine an strenger Wissenschaftlichkeit ausgerichtete Form der Philosophie kennen lernte, andererseits mit jenen grundlegenden Gedanken in Berührung kam, die schließlich zu einer neuen Form des Philosophierens führen sollten. Der Streit darüber, ob man nun Brentano oder Husserl die Urheberschaft für die Phänomenologie zuschreiben will, erscheint müßig angesichts der unterschiedlichen weiteren Entwicklung beider Philosophen. Unbestritten ist, dass Brentano zu der Zeit, als Husserl seine Vorlesungen besuchte, jene Gedanken entwickelte, die den Grundstein phänomenologischen Philosophierens darstellen. In seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874/1911)3 kommen diese Einsichten zur Sprache: In diesem Werk geht es Brentano nicht um die empirische Beschreibung psychischer Tatsachen, sondern um die Beschreibung einer wahrhaft ursprünglichen Erfahrung. Brentano zeigt auf, dass die psychischen Akte des erfahrenden Bewusstseins der inneren Wahrnehmung unmittelbar zugänglich sind. Seiner Auffassung nach sind sie dieser besonderen Form von Wahrnehmung erscheinungsmäßig, d.i. phänomenal, gegeben. – Diese Vorstellung der unmittelbaren Zugänglichkeit werden wir bei Husserl in Gestalt der adäquaten Erkenntnis wieder finden. – Spezifisch für einen phänomenologischen Ansatz ist die Erkenntnis, dass psychische Phänomene als Zustände des Bewusstseins aufzufassen sind. Eine weitere grundlegende Festlegung gewinnt Brentano durch die Erörterung des Bewusstseins: Bewusstsein ist immer auf etwas bezogen, ist immer Bewusstsein von etwas. Diese für jede Form des Bewusstseins grundlegende Gegenstandsbeziehung bezeichnet er als Intentionalität des Bewusstseins.4

Auch wenn sich Husserl bereits in den Logischen Untersuchungen5 mit einigen kritischen Bemerkungen von Brentanos Auffassung der Intentionalität absetzte6, eröffneten ihm dessen Einsichten die Möglichkeit, seine Form der Phänomenologie zu entwickeln. Brentanos Gedanken rezipierte Husserl zunächst in dem Sinne, dass er das Bewusstsein als »psychischen« Akt im Sinne eines Denkakts auffasste. Diese Sichtweise fand ihren Niederschlag in seiner Habilitationsschrift, in der er (noch) der Vorstellung anhing, man könne den Begriff der Zahl durch Rekurs auf die psychischen Tätigkeiten der Denkakte begründen. Husserl hat diese Habilitationsschrift 1887 an der Universität in Halle eingereicht. Er fand dort in dem Brentano-Schüler Carl Stumpf einen unmittelbaren Ansprechpartner. Dieser machte durch seine Untersuchungen zur »Psychologie der Sinne« von sich reden. In seiner 1883 und 1890 veröffentlichten Schrift Tonpsychologie demonstriert Stumpf, dass die Sinnespsychologie von einer Wechselbeziehung zwischen Psychischem und Physischem auszugehen habe. Auch wenn in diesen Betrachtungen viele Gesichtspunkte phänomenologischen Denkens bereits zur Geltung kamen, blieb es doch Husserl vorbehalten, die Phänomenologie von den psychologischen Komponenten zu befreien und zu einer philosophischen Richtung zu formen. Ob ihm das in hinreichendem Maße gelungen ist, wird zumindest in der husserlkritischen Rezeption kontrovers beurteilt.

In der Entwicklung seines Denkens spielten zwei weitere Wissenschaftler eine bedeutende Rolle: zum einen der Logiker und Mathematiker Frege, zum anderen der Philosoph Natorp. Eine Gemeinsamkeit zwischen Husserl und Frege bestand hinsichtlich ihres Interesses an den Grundlegungsfragen der Mathematik. Frege trat durch mehrere Veröffentlichungen in Erscheinung: Grundgesetze der Arithmetik, begriffsgeschichtlich abgeleitet (1893 und 1903), Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens (1879), Logische Untersuchungen (1886). Neben dem Mathematiker und Sprachphilosophen Bertrand Russell war wohl Husserl einer der wenigen, die Freges wissenschaftliche Bedeutung hinreichend zu würdigen wussten. Der dokumentierte Briefwechsel zwischen beiden belegt die wissenschaftliche Argumentation, die sie miteinander austauschten.7 In einem dieser Briefe ist Freges Kritik an Husserls Schrift Über den Begriff der Zahl festgehalten. Darin trägt er seine Kritik an dem Versuch vor, Denkakte im Sinne von psychischen Tätigkeiten als Grundlage mathematischen Denkens auszuweisen. Es ist strittig, ob es dieser Kritik Freges bedurft hätte oder ob nicht schon davor Husserl selbst zu der Einsicht gekommen ist, dass solche Formen der Begründung entscheidende Mängel aufweisen. In den Logischen Untersuchungen tritt Husserl wie Frege ganz entschieden einer unzulässigen Vermengung von logischen und psychologischen Gesetzen entgegen.

Mit dem Namen Paul Natorp verbinden sich vielfältige inhaltliche Auseinandersetzungen. Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung einer psychologischen Begründung der Logik.8 Aber auch darüber hinaus entwickelte sich eine äußerst fruchtbare Diskussion zwischen dem Neukantianer Natorp und Husserl. Auch wenn ihm die begriffliche Art der Gedankenformung Natorps nach eigener Aussage fremd blieb, so stellt Husserl in einem Brief doch explizit heraus, dass er von ihm reiche Belehrungen empfangen habe.9 Die Auseinandersetzung mit den kritischen Einwänden Natorps begleitete Husserls Entwicklung von den Logischen Untersuchungen zu einer transzendentalen Phänomenologie, wie sie letztlich in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie ihren Niederschlag gefunden hat.

Unter dem Titel Logische Untersuchungen legte Husserl 1901 ein umfangreiches Werk vor, das seinen Ruf nachhaltig prägen sollte. Neben der Kritik an den psychologischen Begründungsversuchen der Logik entwickelte er in den sechs logischen Untersuchungen, die der zweite Band dieses Werkes umfasst, die ersten Ansätze zu einer phänomenologischen Philosophie. Wenige Jahre nach dieser Veröffentlichung erhielt er (1906) eine Professur an der Göttinger Universität. Ein erster Schülerkreis bildete sich, der Husserls methodisches Postulat »Zu den Sachen selbst« im Sinne eines »phänomenologischen Realismus« deutete. Zu diesem Kreis zählten unter anderem Wilhelm Schapp, Hans Lipps, Helmuth Plessner, daneben die aus München zugewanderten Studierenden Johannes Daubert, Adolf Reinach, Moritz Geiger, Theodor Conrad, Dietrich von Hildebrand und Hedwig Conrad-Martius. Ihr gemeinsames phänomenologisches Interesse richtete sich auf die Frage der angemessenen Erfassung der Gegenständlichkeit in ihrer Wesensallgemeinheit. Reinach artikulierte am deutlichsten deren Auffassung von Phänomenologie als Suche nach den Wesensgesetzen und Wesenszusammenhängen.10

Für diesen Kreis musste Husserls nächste große Veröffentlichung, die Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913), einen Rückfall in Ansichten einer idealistischen Philosophie bzw. in neukantianisches Denken darstellen. Dieses Werk markiert einen entscheidenden Schritt in Husserls philosophischer Entwicklung, nämlich hin zu einer transzendental-philosophischen »Fassung« der Phänomenologie. Insofern haben die Einwendungen der Göttinger Schüler ihre Berechtigung. Mit größerem Recht aber kann man in diesem Neuentwurf eine Weiterentwicklung der bereits in den Logischen Untersuchungen angelegten Gedanken sehen. 1916 nahm Husserl schließlich einen Ruf an die Universität Freiburg an, wo er bis zu seiner Emeritierung 1928 lehrte.

In den Freiburger Jahren fand Husserl in Martin Heidegger einen Mitarbeiter, in dem er gleichzeitig einen Mitstreiter in Sachen Phänomenologie sah. Heidegger besorgte die Veröffentlichung der Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1928), die Husserls langjährige Mitarbeiterin Edith Stein aus Vorlesungen und Forschungsmanuskripten zu einem Textmanuskript zusammengestellt hatte. 1927 trat Heidegger durch sein Werk Sein und Zeit an die Öffentlichkeit. Husserl nahm zunächst nicht zur Kenntnis, dass sich darin ein anders geartetes Denken bekundete.

Auch nach seiner Emeritierung ließ Husserl in seinem Bemühen, in immer neuen Versuchen seinen phänomenologischen Ansatz zu verdeutlichen, nicht nach. So verfasste er in nur wenigen Monaten die Formale und transzendentale Logik (1929). Kurz nach deren Fertigstellung hielt er an der Sorbonne in Paris einen Vortrag, in dem er prägnant die Grundgedanken seiner Philosophie zur Sprache brachte. Die beiden Vorträge erschienen zunächst in französischer Sprache (1931) und wurden erst 1950 in deutscher Sprache unter dem Titel Cartesianische Meditationen veröffentlicht. Auch sein letztes Werk, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, wurde dem deutschen Publikum erst verspätet (1954) zugänglich. Es geht auf den 1935 vor dem Wiener Kulturbund gehaltenen Vortrag über Die Philosophie in der Krise der europäischen Menschheit und den ebenfalls 1935 an der Prager Universität gehaltenen Vortrag Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die Psychologie zurück. In Teilen wurde die Krisis-Schrift bereits 1936 in der in Belgrad erscheinenden Zeitschrift Philosophia abgedruckt. Dass diese Schrift nicht früher in Deutschland erschienen ist, hängt mit den politischen Entwicklungen dieser Zeit in Deutschland zusammen. Husserl wurde aufgrund seiner jüdischen Abstammung mit Ablauf des Kalenderjahres 1935 die Lehrbefugnis entzogen. Sein früherer Mitarbeiter und Lehrstuhlnachfolger Martin Heidegger spielte eine unrühmliche Rolle dabei, als er in seiner Funktion als Rektor der Universität seinem früheren Mentor Husserl das Betreten der Universität untersagte. Auf Veranlassung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung musste Husserl sogar aus der von Arthur Liebert in Belgrad gegründeten philosophischen Organisation austreten. Man ging so weit, ihm zudem 1937 die Erlaubnis zur Teilnahme am IX. Internationalen Kongress für Philosophie zu verwehren.

Es waren also nicht allein inhaltliche Verständnisschwierigkeiten, sondern ein vom Hass gegen Juden und Intellektuelle geprägter politischer Zeitgeist, der die Rezeption der husserlschen Phänomenologie beeinträchtigte. Husserl wurde namentlich attackiert als Prototyp jenes Intellektuellen, der die Geltung einer richtigen Erkenntnis für alle Menschen proklamierte, also auch für »Unmenschen«, gleichgültig, ob Schwarzer oder Jude. Er repräsentierte jenen »unfruchtbaren Geist ohne Geblüt und Rasse«, jenen »krüppelhaften Intellektuellen«, dessen Geistigkeit eine »krankhafte Wucherung« sei, die in keinem Verhältnis zu seiner »schmächtigen Leiblichkeit« stehe, der voller Hass gegen die »Erdverbundenheit echter Geistigkeit« sei.11

Edmund Husserl starb am 27. April 1938. Die Verbannung aus der öffentlichen Diskussion zeigte auch in den Nachkriegsjahren noch ihre Wirkung, als Heideggers Phänomenologie und Existenzialismus das Feld beherrschten. Die sprachanalytische Philosophie, die sich aus dem Denken des logischen Positivismus bzw. aus dem Wiener Kreis um Carnap, Schlick und Neurath entwickelte, teilte mit Husserls Phänomenologie zwar das politische Schicksal. Deren Repräsentanten, wie z.B. Rudolf Carnap, der noch 1924/25 in Husserls Oberseminaren saß, konnten jedoch zumindest im angelsächsischen Bereich in wissenschaftlicher Hinsicht Fuß fassen und von dort wieder in den deutschsprachigen Raum Eingang finden.

Zu einer wachsenden Beachtung husserlscher Gedanken haben schließlich wohl unterschiedliche Faktoren beigetragen. Neben dem Interesse an dem Begriff der Lebenswelt ist vor allem die Umsetzung seiner Phänomenologie in soziologischen und psychologischen Ansätzen zu nennen. Bei näherer Betrachtung lässt sich keine einheitliche Husserl-Rezeption angeben. Die Schwerpunktsetzungen variieren. Aus der Sicht der sprachanalytischen Philosophie mögen die Logischen Untersuchungen im Vordergrund stehen. Die Ideen und die nachfolgenden Schriften artikulieren demgegenüber den transzendental-phänomenologischen Standpunkt. Dessen Interesse richtet sich auf die Intentionalität als diejenige sinnstiftende Leistung, durch die Gegenständlichkeit konstituiert wird. Beide Perspektiven geben den Rahmen weiter führender Diskussionen ab.

Im Sinne vielfältiger Anregungen erweist sich Husserls Denken als fruchtbar. Durch die Nachlassmanuskripte eröffnete sich ein erweiterter Einblick in Husserls stark analytisch geprägtes Philosophieren. Zahlreiche Neuentwürfe und Einzelanalysen, die er nicht mehr in ein systematisches Ganzes zu bringen vermochte, erweitern das Verständnis seiner Überlegungen. Sein philosophischer Nachlass umfasst etwa 40000 (meist stenografische) Manuskriptseiten. Ihre Existenz ist dem belgischen Franziskanerpater Herman Leo van Breda zu verdanken: Er hat sie kurz nach Husserls Tod vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten und der Zerstörung durch den Krieg gerettet, indem er sie in einer heimlichen Aktion außer Landes schmuggelte. Das Husserl-Archiv an der Universität in Löwen (Belgien) ist durch die Bemühungen van Bredas zustande gekommen.

3. Das philosophische Selbstverständnis

Vergegenwärtigt man sich die Anstrengung, die für eine solche Menge an Manuskripten, wie Husserl sie produziert hat, aufzubringen ist, kann man auch erahnen, mit welcher Intensität er seine philosophischen Fragestellungen verfolgt hat. Wie sehr sein Anspruch an sich selbst als Philosophierenden von einem radikalen Impetus getragen war, bezeugen zahlreiche Briefe an Freunde, in denen zum Ausdruck kommt, mit welcher Intensität er um die Lösung bestimmter Problemstellungen kämpfte.

Husserl setzte sich den Maßstab der Philosophie als strenger Wissenschaft. In einem emphatischen Sinne spricht er von der mit einem solchen Philosophieren verbundenen Lebensentscheidung, mit der das »Subjekt sich selbst […] für das an sich Beste im universalen Wertbereich der Erkenntnis und für ein konsequentes Hinleben gegen die Idee dieses Besten entscheidet«12. Das Bestreben nach absoluter Rechtfertigung dient seinem philosophischen Forschen als Orientierungslinie. Husserl bringt dies in verschiedenen Formulierungen zum Ausdruck: »Philosophie als strenge Wissenschaft«, »erste Philosophie«, die Idee der Philosophie als universaler Wissenschaft in »absoluter Rechtfertigung«13, die Idee der Philosophie als einer »wahren und echten Universalwissenschaft aus letzter Begründung«14. Der Begriff der absoluten Rechtfertigung, den er immer wieder verwendet, mag dabei dem heutigen Leser angesichts des damit verbundenen Anspruchs Verständnisschwierigkeiten bereiten, wenn nicht gar äußerste Bedenken hervorrufen. Solche Bedenken werden nicht beseitigt, indem man darauf verweist, dass sich Husserl dabei der »Platonischen und Cartesischen Idee einer universalen Wissenschaft aus absoluter Rechtfertigung«15 verpflichtet wisse. Klarere Konturen gewinnen wir diesem programmatischen Ansatz am besten dadurch ab, dass wir die betreffenden Punkte im Einzelnen erörtern: 1. Was soll begründet werden? 2. Welche Form der Begründung kann überhaupt als befriedigend bzw. hinreichend angesehen werden? 3. Auf welche Begründungsmuster der philosophischen Tradition nimmt Husserl dabei Bezug? 4. Worin besteht die spezifisch phänomenologische Variante der Lösung?

Schon im alltagssprachlichen Kontext richten wir an denjenigen, der uns mit einer bestimmten Behauptung entgegentritt, die Frage, woher er das wisse oder wie er seine Aussage begründen könne. Wir erwarten dabei, dass er uns die Möglichkeit an die Hand gibt, die Richtigkeit seiner Aussage zu überprüfen. Einen solchen Begründungsanspruch formulieren wir also für explizite Behauptungen bzw. für Aussagen, die als wahr hingestellt werden. Nur da, wo unserer Rückfrage auf befriedigende Weise entsprochen wird, können wir eine solche Behauptung akzeptieren und diese auch als gesichertes Wissen in unseren Bestand der Erfahrung aufnehmen. Es geht also zunächst darum, bloße Behauptungen oder subjektive Meinungen von objektiver Erkenntnis oder Wissen zu unterscheiden. Unser Beispiel aus dem alltäglichen Erfahrungsbereich lässt sich erweitern in Bezug auf die empirischen Wissenschaften. Diese verweisen zur Bestätigung ihrer allgemeinen Aussagen auf Erfahrungen, die man unter methodisch festgelegten Regeln wiederholt machen kann. Anders als in der Alltagserfahrung unterliegt das Experiment bestimmten Versuchsanordnungen, die es jedem anderen ermöglichen sollen, diese Erfahrungen unter denselben Anordnungen wiederholen zu können. Spezifisch für beide Wissensformen ist es aber, dass eine solche Art empirischen Wissens immer auf Erfahrung angewiesen ist, die grundsätzlich nicht abzuschließen ist. Die Möglichkeit, dass sich in der Reihe der weiteren Erfahrungen plötzlich Ergebnisse zeigen, die mit den bisherigen Erfahrungen nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen sind, ist nicht auszuschließen. Insofern handelt es sich bei diesem Wissen immer nur um eine vorläufige Wahrheit. In der modernen Erkenntnistheorie wird dem dadurch Rechnung getragen, dass man nicht mehr von der Möglichkeit der Verifikation ausgeht, sondern eine Behauptung so lange als gültig annimmt, wie diese nicht widerlegt (d.i. falsifiziert) wird.16

Die zitierten Beispiele machen allerdings nur plausibel, in welchem Sinne man Begründungsansprüche stellen kann, sie geben aber nicht wieder, worin das philosophische Problem besteht. Dieses bekommen wir erst dadurch in den Blick, dass wir die Frage ganz allgemein stellen: Wie kann man für die von Subjekten vollzogenen Erkenntnisleistungen Objektivität beanspruchen? Insofern sie von einzelnen Subjekten vollzogen werden, haftet ihnen der Charakter der Subjektivität an. Können wir unter diesen Bedingungen den Anspruch auf Objektivität überhaupt aufrechterhalten? Wir haben damit bereits den Problemgehalt vor uns, der auch Husserls gesamtes Werk durchzieht: Subjektivität des Erkennens auf der einen Seite, objektiver Erkenntnisgehalt auf der anderen. Aus dieser Konstellation heraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Grundlage für den Anspruch auf objektive Erkenntnis auszuweisen. Aber welche Form der Begründung kann diesen Nachweis erbringen?

Die philosophische Problemstellung kann nur dann auf eine befriedigende Lösung stoßen, wenn sie zu einer gesicherten Form der Begründung findet. Gefordert ist also eine Form der Wahrheit, die nicht wie die empirische unter dem Vorbehalt steht, nur vorläufig bzw. von den zufälligen Erfahrungen in konkreten faktischen Situationen abhängig zu sein.17 Die gesuchte philosophische Wahrheit hat allgemein und notwendig zu gelten. Ob und wie eine solche Wahrheit im Einzelnen zu erreichen ist, ist damit noch nicht gezeigt. Es geht zunächst nur darum, den für eine solche Begründung geforderten Anspruch zu bestimmen. Eine endgültige Begründung ist dann gegeben, wenn alles »vernünftige Fragen sein Ende hat«18. Zu einem Ende des Hinterfragens gelangen wir, wenn wir ein letztes Fundament aller Erkenntnis ausmachen können.

Wenn wir diesen Aspekt der absoluten Begründung vorläufig festhalten, bleibt noch zu klären, um welches Fundament es sich dabei handeln kann. Zu beantworten ist also noch die Frage, was wir als Fundament der Erkenntnisbegründung ansehen können. Es bedarf einer eigenen Begründung, inwiefern es sich um ein Fundament für jede Erkenntnis handelt. Wir können diesen Problemkomplex auf zwei Fragen zuspitzen: 1. Wie kann man den Absolutheitscharakter der letzten Quelle aller Erkenntnis bestimmen? 2. Welches Verfahren bietet sich an, das die absolute Verbindlichkeit der Begründung sicherstellen kann?

Diese Suche nach einer absoluten Begründung begleitet Husserls philosophische Bemühungen bis in seine letzten Manuskripte hinein. Dadurch zeichnet sich sein Konzept einer Letztbegründung aus, das schlagwortartig auch als fundamentalistische Rechtfertigungsbemühung bezeichnet wird.19

Da wir die vollständige Antwort erst in den Ausführungen zu seiner Phänomenologie erwarten dürfen, soll an dieser Stelle Husserls Lösungsweg nur angedeutet werden. Ein Fundament bzw. ein Absolutes im Sinne einer Basis aller Erkenntnis ist dann gegeben, wenn wir zu einer irrelativen Gegebenheit gelangen können. D.h., es müsste mit der Angabe des Fundaments gleichzeitig ersichtlich sein, dass wir nicht nochmals dahinter zurückfragen können. Husserls Phänomenologie wird dafür den »Bereich des Bewusstseins« namhaft machen, in dem ein absoluter Grund gefunden werden soll. Dabei haben wir das Kriterium »absolut« im Sinne von Nichtrelativität gedeutet.20