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Wolfgang und Heike Hohlbein sind die erfolgreichsten und meistgelesenen Fantasyautoren im deutschsprachigen Raum. Seit ihrem Überraschungserfolg »Märchenmond« konnte sich die wachsende Fangemeinde auf zahlreiche weitere spannende Bestseller freuen. Ein besonderes Anliegen ist den Autoren die Nachwuchsförderung, wie z. B. die Verleihung des Hohlbein-Preises in Zusammenarbeit mit dem Verlag Ueberreuter.

Katharina Grossmann-Hensel wurde 1973 in Hamburg geboren, lebt heute als freie Illustratorin in Paris und arbeitet für verschiedene Verlage.

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Über das Buch

Märchenmond gibt es wirklich! Davon ist Rebekka felsenfest überzeugt. Schließlich kennt sie Peer, der vor langer Zeit aus dieser Welt der Zauberer, Drachen und sprechenden Tiere verbannt wurde. Die Suche nach ihrem unglücklichen Freund führt Rebekka in die düsteren Kellergewölbe von Schloss Drachenthal. Als sie dort in die Falle ihrer Todfeindin Samantha tappt, scheint nur noch die graue Königin der Ratten helfen zu können. Doch die misstraut allen Menschen - und plötzlich befindet sich Rebekka wieder auf einer fantastischen Reise zwischen den Welten …

Die graue Plage

Obwohl seit Rebekkas Ankunft im Internat fast genau ein Monat vergangen war, hatte sie bis heute noch keine wirklichen Freunde gefunden. Daran war Fräulein Bienenstich nicht ganz unschuldig, die gestrenge Internatsleiterin und selbst ernannte Anstandsdame, die von allen nur Biene genannt wurde (wenn sie weit genug weg war um es nicht zu hören). Biene achtete nämlich streng darauf, dass sich ihre männlichen und weiblichen Schutzbefohlenen nicht zu nahe kamen. Wäre es nach ihr gegangen, dann hätte sie vermutlich nicht nur die Klassen streng nach Geschlechtern getrennt, sondern auch noch die Treppe zum Mädchentrakt hinauf vermint und vor jeder Tür einen Stacheldrahtzaun gezogen.

Gottlob ging es nicht nur nach Biene; aber es war ohnehin schon schlimm genug. Und was die anderen Mädchen anging … auf die meisten konnte sie getrost verzichten, vor allem im Moment.

Rebekka schmiegte sich eng in den Schatten, der die schmale Wandnische ausfüllte, und wartete mit angehaltenem Atem, bis die grölende Meute vorübergezogen war, die vor einer Minute ungefähr so diszipliniert und leise wie eine Herde Wildpferde auf der Flucht vor einem Steppenbrand die Treppe heruntergepoltert war – ein sicheres Anzeichen dafür, dass Fräulein Bienenstich nicht in der Nähe war, denn sie hätte eine solche Verletzung ihrer ehernen Verhaltensregeln niemals geduldet. Sie blickte noch einmal auf die Armbanduhr und gab sicherheitshalber noch eine Minute zu, ehe sie vorsichtig einen Schritt aus der Nische heraustrat und sich umsah. Auch der Platz hinter der antiquierten Theke, die eher in ein Hotel als ein Internat gepasst hätte, war verwaist.

Gut. Normalerweise schob dort Bienes Geheimwaffe Anton Wache, der ihr ergeben als Hausmeister, Chauffeur, Aushilfskoch, Mechaniker, Empfangschef und Nachtwächter diente. Aber auch der alte Anton hatte seine kleinen Schwächen: Er schlich sich jeden Abend genau zur gleichen Zeit fort, um sich in aller Heimlichkeit ein Bierchen zu genehmigen – von dem Fräulein Bienenstich selbstverständlich nichts wissen durfte.

So auch heute. Rebekka war klar, dass sie nur knapp fünf Minuten Zeit hatte, aber das war mehr, als sie brauchte. Das blaue Klemmbrett mit dem angehängten Filzstift unter dem linken Arm und die Taschenlampe in der rechten Hand durchquerte sie mit raschen Schritten die große Halle und steuerte eine Tür auf der anderen Seite an. Sie war sehr schmal und so niedrig, dass sogar Rebekka sich bücken musste um durchzugehen, und sie sah massiv genug aus, selbst einem Kanonenschuss standzuhalten. Außerdem war sie – seit einem gewissen dramatischen Zwischenfall vor ungefähr vier Wochen – mit drei riesigen Vorhängeschlössern gesichert, deren Schlüssel Fräulein Bienenstich unter ihrem Kopfkissen aufbewahrte.

Was Rebekka nicht weiter störte. Die Tür sprang mit einem leisen Klicken auf, kaum dass sie sie flüchtig berührt hatte, und schwang dann lautlos nach innen. Das tat sie nur für Rebekka, und das war nicht das einzig Sonderbare in diesem sonderbaren Internat.

Rebekka trat durch die Tür, wartete, bis sie sich – ebenso lautlos und wie von Geisterhand bewegt – wieder hinter ihr geschlossen hatte, und schaltete dann ihre Taschenlampe ein. Der bleiche, geisterhafte Strahl tastete über uraltes Mauerwerk, Moder und Spinnweben und die ersten Stufen einer steil nach unten führenden Wendeltreppe, die Rebekka vorsichtig, aber sehr rasch hinabzusteigen begann. In den zurückliegenden vier Wochen war sie diesen Weg so oft gegangen, dass sie jeden Schritt praktisch im Schlaf kannte.

Unten angekommen wandte sie sich nach links und zählte genau hundertfünfzig Schritte, ehe sie eine Abzweigung erreichte und dann nach rechts ging, an der nächsten Kreuzung nach links und dann wieder nach rechts und so weiter. Auf diese Weise brachte sie ein gutes Dutzend Abzweigungen und Kreuzungen hinter sich, ehe sie schließlich in einen größeren Raum gelangte, wo sie anhielt und sich in die Hocke sinken ließ. Sie zog das Klemmbrett unter dem Arm hervor, klappte es auf und betrachtete konzentriert die mit feinen Linien gezeichnete Karte, die im Licht der Taschenlampe zum Vorschein kam. Für niemanden außer ihr hätte das Durcheinander aus Linien, Pfeilen, Zahlen und Buchstaben irgendeinen Sinn ergeben, Rebekka aber konnte darin lesen wie in einer Straßenkarte.

So etwas Ähnliches war es ja auch. Nur dass die Linien keine Straßenkreuzungen, Ampeln, U-Bahn-Stationen und Brücken darstellten, sondern eine präzise Karte des unterirdischen Labyrinths aus Tunneln, Gängen, Sälen und Treppenschächten, das sich unter Schloss Drachenthal erstreckte – und möglicherweise noch weit darüber hinaus. Seit jenem schicksalhaften Tag vor vier Wochen, an dem sie das Labyrinth entdeckt hatte, stieg sie so oft wie möglich hier herunter und gab ihr Bestes um die Karte zu vervollständigen.

Allerdings kamen ihr in letzter Zeit immer heftigere Zweifel, ob ihr das jemals gelingen würde. Sie hatte bereits mehrere Kilometer des Tunnelsystems auf Papier gebannt, aber noch war kein Ende abzusehen.

Ein leises Kratzen drang in ihre Gedanken. Rebekka sah mit einem Ruck auf, hob die Taschenlampe und ließ den bleistiftdünnen Strahl im Halbkreis durch den Raum gleiten. Sie sah nur das, was es hier unten überall gab: Staub, Spinnweben und Moder. Sie musste sich getäuscht haben. Wer außer ihr sollte auch an diesem wenig einladenden Ort sein? Seit es in den Kellergewölben um ein Haar einen Todesfall gegeben hatte (was hieß um ein Haar?, dachte Rebekka schaudernd) und Anton auf Bienes Befehl hin die Tür verrammeln musste, kam außer ihr niemand mehr in das Labyrinth herunter.

Rebekka konzentrierte sich wieder auf ihre Karte. Eine Zeit lang studierte sie sie aufmerksam im blassen Licht der Taschenlampe, dann malte sie mit dem mitgebrachten Filzstift ein Kreuz an eine bestimmte Stelle, stand auf und ging zu einem der etwa ein halbes Dutzend Tunnels, die von dem großen Raum abzweigten. Mit einem sorgsam zurechtgefeilten Nagel, den sie aus der Tasche zog, kratzte sie dasselbe Symbol, das sie gerade auf ihre Karte gemalt hatte, in die Wand neben dem Tunneleingang.

So verfuhr sie nacheinander mit allen Ausgängen, die es hier gab. Sie brauchte eine Stunde dafür. Aber es war unbedingt notwendig, jeden einzelnen Gang sorgsam zu markieren, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, die Orientierung zu verlieren. Allein bei dem Gedanken, sich in diesem unterirdischen Labyrinth zu verirren, lief Rebekka ein eisiger Schauer über den Rücken …

Als sie fertig war, sah sie auf die Uhr und runzelte ärgerlich die Stirn. Sie musste sich beeilen, denn seit einer Weile hatte es sich Biene zur schlechten Angewohnheit gemacht, Überraschungsinspektionen in den Zimmern durchzuführen, und zwei Mal schon war Rebekka nur um Haaresbreite der Entdeckung entgangen. Trotzdem würde sie aber wenigstens noch einen Tunnel in ihre Karte aufnehmen.

Ohne zu zögern trat Rebekka gebückt in den erstbesten Gang und ließ den zitternden Lichtkreis vor sich über den Boden gleiten. Das war lebenswichtig, denn der Fußboden hielt schon mal die eine oder andere böse Überraschung bereit – wie zum Beispiel jäh aufklaffende Spalten, die in so bodenlose Tiefen führten, dass sie ihr wie der Übergang in eine andere Welt vorkamen.

Sie stieß auf keinen weiteren Abgrund mehr, aber der Gang schien kein Ende zu nehmen. Rebekka folgte ihm fünfzig Schritte weit, dann hundert, dann hundertfünfzig und sie begann bereits ernsthaft darüber nachzudenken, ob sie umkehren und am nächsten Tag an der gleichen Stelle weitermachen sollte, als sich das Kratzen wiederholte.

Hastig hob Rebekka die Lampe.

Etwas kleines Graues tauchte für den Bruchteil einer Sekunde im Zentrum des blassen Lichtscheins auf und huschte davon, bevor sie es wirklich erkennen konnte. Aber sie glaubte das Tappen winziger harter, krallenbewehrter Pfoten zu hören, und was ihre Augen nicht sahen, das erledigte ihre Fantasie, die plötzlich auf Hochtouren arbeitete. War das eine … Ratte gewesen?

Wieder lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Rebekka hatte keine panische Angst vor Ratten, aber sie liebte sie auch nicht gerade und sie konnte sich eine Menge lustigerer Situationen vorstellen als hier unten einer Ratte zu begegnen, die, genauso erschrocken wie sie selbst, möglicherweise überhaupt nicht erbaut von der Tatsache war, dass ein Mensch in das unterirdische Reich eindrang, das seit Urzeiten nur ihr selbst und ihren Brüdern und Schwestern gehörte.

Sie sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war, dann aber kämpfte sie ihr Unbehagen nieder und entschloss sich wenigstens noch ein paar Schritte zu gehen, bevor sie endgültig kehrtmachte. Vielleicht hatte sie sich die Ratte ja auch nur eingebildet.

Sie musste noch einmal gut fünfzig Schritte zurücklegen, bis sie das Ende des Stollens erreichte, und als sie dort angekommen war, da wünschte sie sich fast, sie wäre niemals weitergegangen. Der Gang mündete in eine Treppe, die in einen weit größeren Raum führte, aber Rebekka sah weder, wie groß er war, noch ob es dort weitere Abzweigungen gab. Sie starrte wie hypnotisiert auf die Treppe.

Auf der obersten Stufe saß eine Ratte. Auf der darunter saßen zwei Ratten. Auf der wiederum nächsten befanden sich vier und alles, was dann kam, stellte sich für Rebekka nur noch als ein einziges graues Gewimmel dar, ein Gewusel aus Fell, Klauen, nackten, zuckenden Schwänzen und winzigen Knopfaugen, die geblendet in das ungewohnte Licht der Taschenlampe blinzelten.

Sie hatte genug gesehen. Mit einem Schrei fuhr Rebekka herum und jagte den Weg zurück, den sie gekommen war. Sie hielt erst an, als sie den großen Raum mit den vielen Abzweigungen erreichte, und lehnte sich mit klopfendem Herzen und geschlossenen Augen gegen die Wand um wieder zu Atem zu kommen. Das war knapp gewesen! Zwar glaubte Rebekka trotz allem nicht, dass die Ratten sie angegriffen hätten, aber man konnte schließlich nie wissen …

Aus dem Gang, aus dem sie gerade gekommen war, drang ein leises Trippeln und Rascheln und Rebekkas Herz machte einen kleinen Sprung. Ihre Hände zitterten so sehr, dass der Lichtstrahl im ersten Moment wie betrunken hin und her sprang, als sie die Taschenlampe hob und in den Tunnel richtete.

Diesmal versuchte sie erst gar nicht einen Schreckensschrei zu unterdrücken.

Nur ein paar Schritte hinter ihr befand sich ein gutes Dutzend Ratten, wenn nicht mehr. Die Tiere hielten mitten in der Bewegung inne, als sie der Lichtschein traf. Wahrscheinlich war er ihren an die ewige Dunkelheit hier unten gewöhnten Augen unangenehm, wenn er ihnen nicht sogar Schmerzen bereitete. Trotzdem, dachte Rebekka entsetzt, die Ratten waren ihr eindeutig gefolgt. Ihre Augen blinzelten geblendet in ihre Richtung, die langen nackten Schwänze peitschten erregt hin und her, schreckliche Zähne und scharfe Krallen blitzten im flackernden Licht der Taschenlampe auf.

Flackernd?

Eine eisige Hand schien nach Rebekkas Herz zu greifen und es zusammenzudrücken, als sie sah, dass das Licht der Taschenlampe tatsächlich flackerte. Und – nein, es war keine Einbildung – es war auch deutlich blasser geworden. Verdammt, sie hatte vergessen neue Batterien einzulegen!

Eine der Ratten machte einen kecken Satz in ihre Richtung und sprang mit einem erschrockenen Quieken wieder zurück, als Rebekka den Lichtstrahl genau auf sie richtete, aber das Licht flackerte immer stärker und Rebekka begriff, dass ihr wahrscheinlich nur noch wenige Minuten blieben, bis die Lampe endgültig den Geist aufgeben würde. Sie fuhr herum, rannte los, so schnell sie konnte, und hörte, wie hinter ihr auch die Ratten loshetzten.

Rebekka lief so hastig, dass ihr kaum Zeit blieb, auf die Markierungen zu achten, die sie an Abzweigungen und Wegkreuzungen angebracht hatte. Als sie um die Ecke eines großen Ganges hetzte, der ihr vollkommen unbekannt schien, leuchtete etwas auf, nur ganz kurz, aber so grell, dass sie geblendet die Augen schloss und ein paar Schritte vorwärts taumelte, bis sie sich endlich fangen konnte. Die Ratten hinter ihr quietschten auf, so als wäre jemand unter die Verfolgerschar gefahren um sie auseinander zu treiben.

Sie wirbelte herum, riss die Taschenlampe hoch, doch in ihrem trüben Schein konnte sie jetzt noch nicht einmal die Umrisse des Tunnels richtig erkennen, geschweige denn die Ratten. Stattdessen tanzten bunte, durch die Lichtexplosion ausgelöste Punkte vor ihren gequälten Augen und es würde wahrscheinlich eine ganze Weile dauern, bis sie ihre Umgebung wieder einigermaßen deutlich wahrnehmen könnte.

Aber sie hatte keine Zeit, sie musste so schnell wie möglich wieder raus aus diesem unterirdischen Labyrinth!

Wie als Antwort auf ihre panikerfüllten Gedanken quietschte es vor ihr aus Hunderten winziger Kehlen auf und dann folgte das Trappeln unzähliger kleiner Füße. In Erwartung eines Angriffs riss sie die Arme hoch. Doch das erwies sich als vollkommen überflüssig: Die krallenbewehrten Pfoten, die laut auf dem uralten Steinfußboden klackten, hielten nicht auf sie zu, sie entfernten sich rasch.

Verblüfft ließ sie die Lampe sinken und sie begriff: Was für sie nicht mehr als ein schmerzhafter Lichtblitz gewesen war, kam für die Ratten einer grauenhaften Katastrophe gleich, schließlich hatten sich ihre lichtempfindlichen Augen auf die sonst herrschende fast komplette Dunkelheit eingestellt.

Da hörte sie hinter sich wieder ein Geräusch. Es klang ganz anders als das Trippeln, das Rascheln und das Quieken der Ratten; es klang eher so, als würde sich hinter ihr ein Elefant mit aller Gewalt durch einen viel zu schmalen Gang quetschen wollen.

Diesmal wirbelte sie nicht herum, diesmal drehte sie sich ganz langsam um. Es war tatsächlich keine Ratte. Es war etwas ganz anderes.

Der Drache

Rebekka hatte den kurzen Eindruck von etwas Großem, Massigem, das sich vor ihr durch den Gang schob. Noch immer tobte ein wahres Gewitter von Farbfünkchen auf ihrer Netzhaut, sodass sie nicht viel mehr als einen Schemen erkannte, aber auch so fiel ihr auf, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Der Gang war viel breiter als alle anderen, auf die sie bisher hier unten getroffen war, und er wurde von Fackeln an der Wand in ein unwirkliches gelblich-rötliches Licht getaucht.

Doch all das war nichts gegen das riesige rot geschuppte Wesen, das da auf mächtigen Säulenbeinen durch den Gang stapfte, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.

Rebekka riss entsetzt die Augen auf, als sie das breite, von dunkelroten schuppigen Hornplatten bedeckte Gesicht sah, das sich einen Herzschlag lang in ihre Richtung zu wenden schien, als das Wesen an eine Abzweigung kam. Obwohl sie es anders in Erinnerung hatte, nämlich mit zwei langen, gebogenen Hörnern statt mit jetzt nur noch einem, war sie sicher, es schon einmal gesehen zu haben – und das ausgerechnet in Samanthas Spiegelscherbe, kurz bevor das Mädchen sie angegriffen und über den Rand des Schachts gestoßen hatte!

Drachen