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Heike Kleffner, Matthias Meisner (Hg.)

Unter Sachsen

Heike Kleffner
Matthias Meisner (Hg.)

Unter Sachsen

Zwischen Wut
und Willkommen

Mit Fotos von Christian Ditsch und
Karikaturen von Klaus Stuttmann

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In Zusammenarbeit mit Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, März 2017

entspricht der 1. Druckauflage vom März 2017

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Cover: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag, unter Verwendung eines Fotos von David Brandt von einer NoPegida-Demonstration vor dem Zwinger in Dresden am 5. 1. 2015.

eISBN 978-3-86284-392-3

Inhalt

Heike Kleffner, Matthias Meisner

Vorwort

1990 bis 2016 – Unter Sachsen

1 | Die gesellschaftliche Mitte als Gefahrengebiet

Matthias Meisner

Die Relativierer

Die Staatspartei CDU unternimmt zu wenig gegen Fremdenhass

Andreas Wassermann

Ein bisschen Singapur – nur ohne Stockhiebe

Wie der erste Ministerpräsident Kurt Biedenkopf das Land prägte

Stefan Locke

Sächsische Wut

Pegida: Über Ursachen und Entwicklung einer sehr sächsischen Bewegung

Noura Maan, Fabian Schmid

»Wir sind das Volk« – auch im Netz

Wie AfD, Pegida & Co. soziale Netzwerke und rechte Blogs für ihre Propaganda nutzen

Tino Moritz, Toralf Staud

Rechtsaußen, mittendrin

Anders als zehn Jahre lang die NPD wird die AfD im Sächsischen Landtag nicht ausgegrenzt

Michael Nattke

Eine neue soziale Bewegung von rechts

Der sächsische Schulterschluss von »besorgten Bürgern und Bürgerinnen« und organisierten Neonazis

»Die Polizei braucht das Vertrauen aller Bevölkerungsgruppen«

Ein Interview mit Karlhans Liebl von der Hochschule der Sächsischen Polizei

Paul Simon, Andreas Raabe

»Liebe Leute. Wir. Wollen. Die. Macht.«

Über Jürgen Elsässer und sein Compact-Magazin

Amrei Drechsler

Der Fackelträger

Der Dresdner Kabarettist Uwe Steimle, seine Mission und sein Publikum

Joachim Huber

Aus für die Wernesgrüner Musikantenschenke

Wie der MDR die ostalgische Grundierung seines Programms langsam abbaut

2 | Unterwegs. Eine andere Heimatkunde

Oliver Hach

»Deitsch un frei« im Erzgebirge

Robert Feustel, Tobias Prüwer

Rosarotes Leipzig

Die Pleißestadt gibt sich aufgeklärt und weltoffen

Olaf Sundermeyer

Eine alltägliche Tat

Zwei Familienväter verüben in Meißen einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft

Sebastian Leber, Matthias Meisner

Wegschauen. Verdrängen. Versagen

Hass in Freital – auch nach der Anklage gegen eine Gruppe von mutmaßlichen Rechtsterroristen

Julia Oelkers

Hoyerswerda revisited

Ein Vierteljahrhundert nach dem rassistischen Pogrom in Hoyerswerda erinnern sich Betroffene und Zeitzeugen

Dirk Laabs

»Wir arbeiten weiter«

Der »Nationalsozialistische Untergrund« in Sachsen

Arndt Ginzel

Die Welt außerhalb des Steinhauses

Wie in Bautzen Hass gegen die sorbische Minderheit und Gewalt gegen Flüchtlinge entstand

Thomas Datt

Flucht aus Colditz

Eine rechtsfreie Zone im mittelsächsischen Hügelland

Heike Kleffner

Die tödliche Dimension rechter Gewalt

Kamal Kilade und Patrick Thürmer starben, weil sie »anders« aussahen und »anders« dachten

Maik Baumgärtner

Die extreme Rechte und Crystal Meth

Die Legende von den Saubermännern und -frauen

3 | Wie viel Hoffnung bleibt?

»Die Pegida-Bewegung hat an vielen Orten ein Klima des Hasses erzeugt«

Ein Interview mit Robert Kusche und Andrea Hübler von der Opferberatung des Vereins Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie Sachsen e. V.

Matthias Meisner

Netzaktivismus als Gegenöffentlichkeit

Über die Projekte »Perlen aus Freital«, »Hoaxmap« und »Straßengezwitscher«

Imran Ayata

Deutschland liegt in Sachsen

Jaroslav Rudiš

Sachsen in Böhmen, Böhmen in Sachsen

Anna Kaleri

Mutmaßungen über einen Apfelwurf

Ali Schwarzer

Eine unversöhnliche Abschiedsrede

Michael Bittner

Die Rückkehr der Döner-Nazis

Anhang

Chronik ausgewählter politischer Ereignisse in Sachsen seit 1990 (von Michael Bartsch)

Literaturempfehlungen

Ortsregister

Personenregister

Karte von Sachsen

Verzeichnis der Zwischenrufe »Mein Sachsen«

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Über Herausgeberin und Herausgeber

Heike Kleffner, Matthias Meisner

Vorwort

1990 bis 2016 – Unter Sachsen

Es konnte kein bequemes Buch werden.

»Merkel muss weg« und »Lügenpresse, Lügenpresse« grölen seit über zwei Jahren immer montags in Dresden die Pegida-Demonstranten. Vor einer brennenden geplanten Flüchtlingsunterkunft in Bautzen klatschen Gaffer Beifall und behindern die Rettungskräfte. In Dörfern und Kleinstädten wie Clausnitz und Meerane werden Busse mit ankommenden Geflüchteten blockiert.

Längst geht es bei dieser neuen Bewegung von rechts, die ihren Ausgangspunkt in Sachsen hat und die Berichterstattung über den Freistaat dominiert, nicht mehr nur um ein Image-Problem, wie mancher Politiker in Sachsen der Öffentlichkeit einreden möchte. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung, die mit dieser Bewegung einhergeht, spaltet Familien, polarisiert an Arbeitsplätzen und Schulen und hat auch sonst handfeste Folgen: Investoren bleiben aus, Wissenschaftler und Studierende kehren Universitätsstädten wie Dresden und Leipzig den Rücken. Einige verteidigen ihre Heimat, andere denken ans Auswandern.

Die Frage »Warum Sachsen?« wird von vielen gestellt, von Bewohnerinnen und Bewohnern des Freistaats ebenso wie von Menschen jenseits der Landesgrenzen. Sie fragen sich: Ist das wirklich alles ein nur sächsisches Phänomen – oder etwas, das ähnlich auch andernorts geschehen kann?

In diesem Buch begeben sich über 40 Autorinnen und Autoren auf die Suche nach Antworten. Für eine neue Heimatkunde vermessen Journalisten wie Oliver Hach und Thomas Datt die kleinen Ortschaften des Erzgebirges und im Leipziger Umland, analysieren Tino Moritz und Toralf Staud die parlamentarische Präsenz am rechten Rand, erinnert Dirk Laabs an die vielen offenen Fragen zum Netzwerk des »Nationalsozialistischen Untergrunds« in Sachsen. Julia Oelkers befragt Betroffene und Zeitzeugen des ersten rassistischen Pogroms nach 1989 in Hoyerswerda. Stefan Locke beschreibt die Entwicklung der Pegida-Bewegung.

Analysen von Andreas Wassermann zum System Biedenkopf, von Joachim Huber zur Geschichte des MDR und von Arndt Ginzel zu Bautzen erinnern auch daran, dass die Frage »Warum Sachsen?« nicht erst seit dem kurzen Sommer des Willkommens 2015 für einige Hunderttausend Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Irak und anderen Krisenregionen aktuell ist. 2004 zog die NPD mit 9,2 Prozent der Stimmen in den Sächsischen Landtag ein. Die Neonazipartei war damit erstmals seit 1968 wieder in einem Landesparlament vertreten und landete nur knapp hinter der SPD. Zeitgleich wurden junge Linke und Migranten von Neonazis in der Sächsischen Schweiz oder in Wurzen im Muldentalkreis (heute Landkreis Leipzig) angegriffen. Michael Bartsch hat dazu eine Chronik »sächsischer Verhältnisse« seit 1990 zusammengestellt.

»Die Sachsen«, sagte der Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion Frank Kupfer im Herbst 2016, seien »konservativ in ihrer Grundhaltung, stolz auf das Erreichte und skeptisch vor dem Fremden«. Er fügte hinzu: »Das ist aber auch ihr gutes Recht.« Damit reagierte die CDU-Landtagsfraktion auf den sogenannten Sachsen-Monitor, mit dem im Auftrag der Staatskanzlei rund 1000 Bürgerinnen und Bürger unter anderem dazu befragt wurden, welche Ressentiments es im Freistaat gibt.

Der Aussage »Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet« stimmten mit 58 Prozent mehr als die Hälfte der befragten Sachsen und Sächsinnen zu. Vergleichbare Erhebungen wie beispielsweise die »Mitte-Studie 2016« der Universität Leipzig kommen für dieselbe Aussage bei bundesweiten Befragungen auf einen Zustimmungswert von einem Drittel der Befragten. Der Anteil von »Ausländern« liegt in Sachsen mit 3,9 Prozent deutlich unter dem Bundesdurchschnitt von 10,5 Prozent.

Aber warum sind die Sachsen so skeptisch gegenüber Fremdem und Fremden? Und wann schlägt diese Skepsis um in Gewalt beispielsweise gegen Flüchtlinge, ihre Helfer und Helferinnen oder auch Politikerinnen und Politiker? Andrea Hübler und Robert Kusche unterstützen seit mehr als 15 Jahren Opfer rechter Gewalt im Freistaat und stellen nüchtern fest: »Für pogromartige Zustände wie in Heidenau im Sommer 2015 und in Bautzen im Februar 2016 braucht es die rassistische gewaltbereite Menge, die applaudierende Deckungsmasse und eine nicht handelnde Ordnungsmacht.«

Auch uns als Herausgeber und Herausgeberin dieses Sammelbands bewegt die Frage »Warum Sachsen?« seit den 1990er Jahren. Wir erlebten die überragenden Erfolge der CDU bei der ersten freien Volkskammerwahl und der Landtagswahl 1990, ebenso wie wir die Vertreibung einer türkischen Familie aus Pirna zur Jahrtausendwende begleitet haben, die dort einen Imbiss betrieb. Wir beschrieben, wie damals NPD- und »Blood & Honour«-Kader Jugendklubs übernahmen und das Leugnen von Angstzonen und rechter Dominanz dennoch zum guten Ton in den Amtsstuben gehörte. Und wir lernten Menschen kennen, die – oft genug mit dem Rücken zur Wand – in Orten wie Freital, Meißen oder Bautzen die demokratischen Grundwerte verteidigen und gegen alle Widerstände an der Idee festhalten, dass die Würde aller in Sachsen lebenden Menschen unantastbar sein sollte.

»Werft euch in Warnwesten und schnappt eure Besen!«, hieß es Anfang 2015 in Dresden in einem Aufruf. Eine der kreativen Aktionen gegen Pegida. Dresdner Kulturschaffende hatten dazu augerufen, in Anbetracht von immer mehr Deutschlandfahnen und hasserfülltem, verbalem Müll auf den Straßen der Landeshauptstadt den »Patrioten« hinterherzufegen. Die Symbolik kam an: Bis zu 5000 Menschen beteiligten sich an der »Aktion Neujahrsputz«, um sich gegen rassistische und ausgrenzende Ressentiments zu wehren. Nach nur zwei Runden war dann auch schon wieder Schluss mit der Aktion – nun erinnert das Titelbild dieses Buches von dem Fotografen David Brandt daran. Die Fotos im Buch stammen von Christian Ditsch. Und Klaus Stuttmann hat seine besten Sachsen-Karikaturen beigesteuert.

Das Erstarken von Rechtspopulismus und rechter Gewalt ist bei weitem kein allein sächsisches Problem. Doch in dem Freistaat mit knapp vier Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen zeigen sich wie im Brennglas Probleme, die es auch in anderen Teilen Deutschlands und Europas gibt. Deshalb lohnt der genaue Blick. Stilistisch fällt er bewusst heterogen aus: Analysen und Reportagen wechseln sich ab. Und wir haben ganz unterschiedliche Sachsen-Kennerinnen und -Kenner um »Zwischenrufe« gebeten: zum Beispiel die Opernsängerin Iris Stefanie Maier, den Maler Michael Triegel, den syrischen Journalisten Tarek Khello, die Schauspielerin Annedore Bauer, den ehemaligen sächsischen Innenminister Heinz Eggert, die Bloggerin Nhi Le. Hinzu kommen einige eher literarische Beiträge, etwa von Jaroslav Rudiš, Anna Kaleri und Küf Kaufmann. Imran Ayata bilanziert: »Deutschland liegt in Sachsen.«

Wir bedanken uns bei den vielen, die dieses Buch mit Hinweisen, Rat und tatkräftiger Hilfe möglich gemacht haben, stellvertretend bei unserem Verleger Christoph Links, unserem Lektor Patrick Oelze und dem Team des Verlags.

1

Die gesellschaftliche Mitte
als Gefahrengebiet

Matthias Meisner

Die Relativierer

Die Staatspartei CDU unternimmt zu wenig gegen Fremdenhass

Der Mann hat Chuzpe. »Der Freistaat ist unglaublich stark dabei, diese rechtsextremistische Gewalt zurückzudrängen«, sagt Michael Kretschmer. September 2016, der sächsische CDU-Generalsekretär sitzt in einer Talkrunde bei Anne Will. Wieder einmal diskutiert die Republik die Warum-Sachsen-Frage, die immer auch lauten muss: Was kann die CDU dafür? Seit zweieinhalb Jahrzehnten ist sie die dominierende Kraft in Sachsen. Bis 2004 regierte sie mit absoluter Mehrheit, gewählt mit Ergebnissen von bis zu 58,1 Prozent.

Der gebürtige Görlitzer Kretschmer ist in der Partei nicht irgendwer – seit mehr als zehn Jahren ist er nun Generalsekretär. Auch wurde er stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und ist Anführer der sächsischen CDU-Bundestagsabgeordneten. Aktuell gestritten wurde im TV-Talk, wie es dazu kommen konnte, dass in Bautzen rund 80 Neonazis junge Flüchtlinge vom Kornmarkt am Rande der Innenstadt verjagten. Kretschmer spricht beschwichtigend davon, dass »mit aller Intensität« für ein »weltoffenes Sachsen« gekämpft werde. Mit Blick auf rechte Gewalt in Sachsen biegt er die Wirklichkeit nach CDU-Vorstellungen zurecht: »Und die Zahl geht auch nach unten, Gott sei Dank.«

Die Lage schöner reden als sie ist – für die Sachsen-Union ist das Prinzip. Und Kretschmer steht nicht allein. Relativieren, die Probleme mit Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit weitgehend negieren, wegsehen – darin ist die Partei groß. Wer für einen liberaleren Kurs in der Landespartei streitet, für den sind meist nur Statistenrollen übrig.

Tillich gibt Probleme zu, Konsequenzen bleiben aus

Zwar hat der CDU-Landesvorsitzende und Ministerpräsident Stanislaw Tillich im Februar 2016 nach der Blockade eines Busses mit neu eintreffenden Flüchtlingen in Clausnitz und dem Brandanschlag auf die noch unbewohnte Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Hotel »Husarenhof« in Bautzen einen Erkenntnisgewinn zugegeben. »Ja, es stimmt: Sachsen hat ein Problem mit Rechtsextremismus, und es ist größer, als viele – ich sage ehrlich: auch ich – wahrhaben wollten«, erklärte er damals im Landtag. Das Vorgehen der Wutbürger sei jämmerlich und abstoßend, »der Humanismus wird durch Barbarei verdrängt«. Seine markigen Worte blieben praktisch fast ohne Konsequenzen. Dem ehemaligen Ost-CDU-Mitglied Tillich fehlt es offenbar an der notwendigen Autorität.

Der bis heute vorherrschende Umgang der CDU in Sachsen mit rechten Umtrieben ist in den 1990er Jahren geprägt worden – vom damaligen Regierungschef Kurt Biedenkopf. Er wollte nicht, dass sich rechts von der CDU eine Partei breitmachte. Einzelne versuchten vom Vogtland in der Nähe der Grenze zu Bayern aus, einen sächsischen CSU-Landesverband zu gründen. Mit der Deutschen Sozialen Union (DSU) entstand eine aus München geduldete und zunächst sogar geförderte Schwesterpartei. Biedenkopf widersetzte sie sich, indem sie Rechtspopulisten und Rechtskonservativen in der CDU eine politische Heimat bot.

Vorsitzender des CDU-Landesverbandes war der Westdeutsche Biedenkopf nur von 1991 bis 1995. Das Parteimilieu blieb ein ostdeutsches. Viele Mitglieder kamen aus der DDR-Blockpartei CDU, ein paar waren Bürgerrechtler, die sich aus Gruppen wie dem »Demokratischen Aufbruch« anschlossen. Attraktiv war die Partei als Pöstchenverteilverein. Westdeutsche hatten an der Basis so gut wie nichts zu bestimmen, das rheinisch-katholische Element fehlte damit so gut wie ganz. Im Ergebnis: deutschnationale Töne, aber null Verständnis für Multikulti. Sachsens CDU ist eine Adresse für die Ängste abstiegsbedrohter Kleinbürger.

Bundesweit Bekanntheit von den CDU-Granden aus Sachsen erlangte neben Biedenkopf zunächst Steffen Heitmann. Bundeskanzler Helmut Kohl wollte ihn 1993 im Einvernehmen mit Biedenkopf zum Nachfolger von Richard von Weizsäcker als Kandidaten für die Wahl des Bundespräsidenten nominieren. Heitmann scheiterte schon vor der offiziellen Ernennung, an seinen Äußerungen zur Ausländerpolitik, zum Holocaust und zur Rolle der Frau. Der »organisierte Tod von Millionen Juden in Gaskammern« war nach seinen Worten »tatsächlich einmalig«, allerdings nur »so wie es viele historisch einmalige Vorgänge gibt«. Deshalb »bis ans Ende der Geschichte« eine »Sonderrolle Deutschlands abzuleiten, sei falsch. Der CDU-Politiker blieb bis zum Jahr 2000 Minister in Sachsen, im Landtag bis 2009. Im Dezember 2015 verkündete er seinen Parteiaustritt – verbunden mit dem Vorwurf an Angela Merkel, sie habe Deutschland durch eine »einsame Entscheidung« zum »bevorzugten Ziel für Flüchtlinge« gemacht, ihre Koalition habe sich »in einer nationalen Krise als handlungsunfähig« erwiesen.

Ganze Regionen zu »national befreiten Zonen« erklärt

Parallel etablierte sich in der Biedenkopf-Ära eine rechte gewaltbereite Szene in Sachsen. Das Pogrom 1991 in Hoyerswerda bildete den Auftakt für eine kreuzgefährliche Entwicklung in vielen Landesteilen, vor allem in der Provinz. Ganze Regionen wurden zu »national befreiten Zonen« erklärt, mit offener Gewalt, Einschüchterung an Schulen und Terror gegen politisch links stehende Jugendliche – zum Beispiel in Kleinstädten wie in Sebnitz, Zittau und Wurzen. Mit »Sturm 34« in Mittweida und den »Skinheads Sächsische Schweiz« entstanden paramilitärische Organisationen.

Zwar bildete Heinz Eggert, Innenminister von 1991 bis 1995, früh die SoKo Rex, um die gewaltbereite Neonazi-Szene besser verfolgen zu können. Biedenkopf aber konterkarierte das mit seiner 2000 getroffenen Feststellung, laut der die Sachsen gegen Rechtsextremismus »immun« seien. Eggert erklärt Biedenkopfs Satz im Rückblick so: »Ich vermute, das beruhte nicht auf einer Fehleinschätzung, sondern für Biedenkopf war das eine Imagefrage. Er wollte nicht, dass dieser Schatten auf sein Land fällt.« Biedenkopf derweil verteidigte seine Einschätzung noch Ende 2015. Zugleich lobte der Ex-Ministerpräsident damals Pegida als »politische Innovation«, die »in Anlehnung an frühere Protesterscheinungen in der Zeit vor der Wiedervereinigung« entstanden sei.

Hubertus Grass, langjähriger Landesgeschäftsführer der Grünen, weist auf eine weitere wesentliche Ursache dafür hin, dass rechte Gewalt in Sachsen grassiert. Die Grünen warben Mitte der 1990er Jahre bei der Sachsen-CDU für einen Schulterschluss aller Demokraten gegen die rechten Feinde der Demokratie, prallten aber mit diesem Ansinnen ab. Denn Biedenkopf und andere führende Vertreter der CDU meinten, wenn sie vom politischen Extremismus sprachen, sowohl die PDS als auch Neonazis. An dieser Argumentationslinie der Landes-CDU, linke und rechte Gefahr gleichzusetzen, hat sich bis heute nichts geändert. Grass bilanziert, auch heute komme kein gemeinsamer Widerstand aller Demokraten gegen Pegida zu Stande, »weil sich die Abgrenzung nach links tief in die sächsische CDU eingebrannt« habe. »Links da steht der Feind. Rechts – da geht es aus Sicht der CDU in Sachsen um Wählerstimmen.«1

Erst zog die NPD, dann die AfD in den Landtag ein

Verhindern konnte die CDU mit ihrer Strategie nicht, dass die NPD in Sachsen erstmals in ein ostdeutsches Landesparlament einzog. Gezielt hatte die NPD den Freistaat zum Ziel ihrer Agitation ausgewählt, sammelte die Verlierer ein. Das Partei-Hetzblatt Deutsche Stimme nahm seinen Sitz in Riesa. Sie kam bei der Wahl 2004 auf 9,2 Prozent, die SPD erhielt nur 0,6 Prozentpunkte mehr. Zwei Legislaturperioden lang blieb die rechtsextreme Partei im Landesparlament, scheiterte 2014 nur knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. Abgelöst wurde sie 2014 von der AfD, die aus dem Stand 9,7 Prozent erzielte und erstmals überhaupt in ein Landesparlament einzog. In Umfragen wird sie inzwischen mehr als doppelt so hoch taxiert.

Klare Grenzen zu Rechtspopulisten in den eigenen Reihen zieht die Sachsen-CDU nur selten. Eine Ausnahme bildet der Fall des Bundestagsabgeordneten Henry Nitzsche aus dem ostsächsischen Kamenz, der 2006 auf einer Parteiveranstaltung in Anspielung auf die von Gerhard Schröder geführte Bundesregierung von »Multikultischwuchteln« sprach, von denen Deutschland nie wieder regiert werden dürfe. Drei Jahre zuvor hatte er behauptet, einem »Muslim würde eher die Hand abfaulen, als dass er CDU wählen würde«. Auf Druck aus der Partei trat Nitzsche Ende 2006 aus der Partei und der Bundestagsfraktion aus, behielt sein Mandat aber bis zum Ende der Wahlperiode.

Ihre dominierende Stellung hat die CDU im Freistaat behaupten können. Die Ministerpräsidenten gehörten seit 1990 alle der CDU an, das einzige Bundesland, in dem das so ist. Im Landtag ist die CDU-Fraktion mit 59 von 126 Abgeordneten die mit Abstand größte. Überhaupt nur ein Direktmandat ging bei der Landtagswahl 2014 an die Politikerin einer anderen Partei – die Linke Juliane Nagel in Leipzig. Die CDU stellt die meisten Kommunalpolitiker, auch wenn sie zuletzt in Großstädten einbüßte. Alle Landräte gehören der CDU an. 2015 sagte SPD-Landeschef und Vizeministerpräsident Martin Dulig: »25 Jahre Staatspartei haben Sachsen auch zu einem demokratiepolitischen Entwicklungsland werden lassen.« Dulig macht die CDU maßgeblich verantwortlich für das Versagen der Politik im Umgang mit Pegida & Co.

Rassismus, Anbiederung an die AfD, Stimmungsmache gegen Flüchtlinge – viele CDU-Politiker mischen kräftig mit. Und Aufrechte der Partei haben es vergleichsweise schwer. In Großrückerswalde im Erzgebirge ließ die CDU 2014 sogar einen ehemaligen NPD-Gemeinderat auf ihrer Liste zur Kommunalwahl antreten. Der CDU-Ortsbürgermeister verteidigte das mit dem Hinweis, der Mann habe »nie rechtsgerichtete oder menschenverachtende Gedanken geäußert«. Der CDU-Ortsverbandschef sagte: »Man sollte solche Leute integrieren und nicht ausgrenzen.« In Johanngeorgenstadt, der »Stadt des Schwibbogens«, drohten zwei Stadträte, darunter der CDU-Fraktionschef, mit Rücktritt, sollten die Pläne zur Flüchtlingsunterbringung umgesetzt werden.

Als im Mai 2016 eine Männertruppe in Arnsdorf bei Dresden einen irakischen Flüchtling nach Streit im Supermarkt mit Kabelbindern in Bürgerwehr-Manier an einem Baum fesselte, war auch ein CDU-Gemeinderat mit dabei. Die Landespartei verzichtete auf Kritik, für ein Urteil sei es zu früh. In diesem Fall ging wenigstens der CDU-Ortsverband auf Distanz. »Menschen an Bäume zu fesseln, entspricht keinesfalls dem christlichen Selbstbild der CDU und auch nicht unserer Auffassung eines Rechtsstaats. Es darf keine Selbstjustiz unter dem Deckmantel einer Bürgerwehr geben.«

Generell gilt: Die CDU in Sachsen lässt ihren Funktionären und Mandatsträgern sehr viel durchgehen, bevor sie entschieden einschreitet. Im September 2016 twitterte die Leipziger CDU-Bundestagsabgeordnete Bettina Kudla: »BK #Merkel streitet es ab, #Tauber träumt. Die #Umvolkung #Deutschlands hat längst begonnen. Handlungsbedarf besteht!« »Umvolkung« – ein Nazibegriff, mit dem zu jener Zeit die Germanisierung deutschfreundlicher Bevölkerungsgruppen in eroberten Gebieten Osteuropas gemeint war. Auch die Landespartei distanzierte sich, einen Ausschluss aus der Bundestagsfraktion aber suchte deren Führung tunlichst zu vermeiden. Kudla selbst sah die Angelegenheit mit dem Löschen des Tweets als erledigt an.

Landkreis Meißen ist Pegida-Kernland

Bemerkenswert sind die Zustände auch in Meißen, dem Bundestagswahlkreis von Innenminister Thomas de Maizière. Hier sorgte der CDU-Landrat, Arndt Steinbach, Anfang 2015 für Aufsehen, als er die Teilnehmer einer NPD-Kundgebung unter dem Motto »Asyl-Chaos in Meißen verhindern« zum Dialog ins Landratsamt einlud. Bei dem laut Steinbach »sachlichen Gespräch« wurde die Idee geboren, Asylbewerber künftig in der Justizvollzugsanstalt Zeithain 25 Kilometer von Meißen entfernt unterzubringen. Die Begründung des Landrats: Die Umzäunung würde die Bewohner drinnen genauso vor Übergriffen schützen wie die Leute draußen. Als im Juni 2015 ein Brandanschlag auf die kurz vor dem Bezug stehende Flüchtlingsunterkunft verübt wurde, verteidigte Steinbach seine Heimat und herrschte Reporter an: »Die rechten Umtriebe sehe ich nicht, die Sie meinen. […] Sie quatschen da ja einen Mist nach.«

Andreas Vorrath, der sich seit Jahren mit den rechten Strukturen in Sachsen beschäftigt, sagt: »Der Bundestagswahlkreis von Minister de Maizière ist Pegida-Kernland, seine CDU ist hier, man muss das leider so sagen, völlig verwoben mit diesen Strukturen, mit Pegida, AfD und Co. Die CDU im Landkreis Meißen ist schlicht und einfach antidemokratisch eingestellt.«2

Auch der zum rechten Flügel der ohnehin schon im Ländervergleich rechten Sachsen-CDU gehörende Großenhainer Landtagsabgeordnete Sebastian Fischer ist im Landkreis Meißen daheim. Immer wieder bringt er sich mit spektakulären Vorstößen ins Gespräch. Mal bietet er sich als Redner bei Pegida an, dann tritt er einer Facebook-Gruppe »Betroffene von Ausländerkriminalität in Sachsen« bei. Kritik daran weist er zurück: »Kritische Diskussion mit Nicht-NPDlern ist unerlässlich! Vorurteile abbauen! Toleranz.« Als er einen neuen NSU-Untersuchungsausschuss im Dresdner Landtag als »Beschäftigungstherapie« abtut, erklärt CDU-Generalsekretär Kretschmer: »Wir können doch nicht jeden Quark, der bei Twitter läuft, kommentieren.«

Die Sachsen-CDU fühlt sich der CSU näher als der von Angela Merkel geführten Bundespartei. Bei Debatten im Landtag bekommen manche CDU-Redner mehr Beifall von der AfD als vom Koalitionspartner SPD. Ermuntert fühlen sich von ihren Spitzenfunktionären Landtags-, Bundestags- und Europaabgeordnete der Sachsen-CDU. Sie verteidigen den Grenzzaun in Ungarn. Streben, wie der sächsische Innenminister Markus Ulbig, nach einem Dialog mit Pegida. Fordern, Flüchtlinge ohne Papiere im Gefängnis unterzubringen (»Ein Aufenthalt hinter Gittern fördert die Gedächtnisleistung enorm«). Warnen vor »übermäßiger Toleranz zu No-go-Areas wie in Westdeutschland« und »fortschreitender Islamisierung«. Gern geben viele dieser Abgeordneten ihre Interviews der Jungen Freiheit, dem AfD-Zentralorgan, oder wahlweise der Super Illu. Sowohl da wie dort kommt das an.

Im Oktober 2016 schrieb der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Arnold Vaatz, auch er stellvertretender CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender, zum Anschlag auf eine Moschee in Dresden kurz vor dem Tag der deutschen Einheit, solche Aggression könne sich überhaupt nur entladen, weil eine »gewalttätige westdeutsche Linke« die Hemmschwellen schon seit Jahrzehnten aus dem Weg geräumt habe. »Der Steinewerfer Fischer wurde deutscher Außenminister, und die vor Verständnis für den linken Terror triefenden Sympathisanten sitzen in allen möglichen Gremien.«

Im selben Monat verlangte der CDU-EU-Parlamentarier Hermann Winkler eine »bürgerliche Mehrheit mit der AfD«, wo immer diese möglich werde. »Sonst steuern wir auf eine linke Republik zu.« Ähnlich äußerte sich die sächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Veronika Bellmann. Spielraum für solche Debatten lässt Tillich durchaus: Vor der Landtagswahl 2014 wollte auch er eine Koalition mit der AfD nicht ausschließen, anders als Bündnisse mit NPD oder Linkspartei. Sein Argument damals: Man kenne die AfD ja noch gar nicht so richtig.

Inzwischen beteuert die Spitze der Landes-CDU, für eine Koalition mit der AfD nicht bereit zu sein. Doch das gilt nur, weil sie ihren Koalitionspartner SPD nicht allzu ernst nimmt – und der das recht geduldig erträgt. Umgekehrt nimmt es die CDU hin, wenn aus den Reihen der SPD doch mal etwas gegen die »sächsischen Verhältnisse« gesagt wird.

Das heißt nicht, dass eine Koalition mit der AfD nach der nächsten Landtagswahl 2019 unwahrscheinlich ist. Bis dahin dient »die AfD in der sächsischen Union als Drohkulisse gegen den noch vorhandenen liberalkonservativen Flügel«, schätzt die Linken-Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz ein. Sie sagt: »Die Parteirechte will die AfD durch die Übernahme ihrer Positionen schwächen. Da das aber nicht alle Wählerschichten erreicht, wird der AfD die Rolle des späteren Juniorpartners zugewiesen.«3

»Heimat und Patriotismus als Kraftquellen«

Zu den wichtigen Männern, die Sachsens CDU auf Rechtskurs halten, gehört Matthias Rößler, Präsident des Landtags. Gemeinsam mit Generalsekretär Kretschmer und mehreren CSU-Politikern trieb er im September 2016 seine Lieblingsdebatte voran und pries »Leitkultur« sowie »Heimat und Patriotismus« als »Kraftquellen«. Die schwarz-rot- goldene Fahne und die Nationalhymne seien »Voraussetzungen gemeinsamen Glücks«. Weiter heißt es in dem Papier von Sachsen-CDU und CSU: »Gerechtigkeitsempfinden wird verletzt, wenn Solidarität überbeansprucht wird. Auch humanitär begründete Zuwanderung darf nicht die Belastbarkeitsgrenzen der Bevölkerung Deutschlands überschreiten oder den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gefährden.«

Im Parteiprogramm der Bundes-AfD heißt es zum selben Thema: »Die Ideologie des Multikulturalismus, die importierte kulturelle Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und deren Werte damit zutiefst relativiert, betrachtet die AfD als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit. Ihr gegenüber müssen der Staat und die Zivilgesellschaft die deutsche kulturelle Identität als Leitkultur selbstbewusst verteidigen.« Eine Allianz also nicht nur von CDU und CSU, sondern eine Lockerungsübung auch in Richtung AfD.

Bemerkenswert: Entstanden ist der »Aufruf zu einer Leit- und Rahmenkultur« der CDU Sachsen unter »sachverständiger Beratung« des Dresdner Politikprofessors Werner Patzelt. Er ist einfaches CDU-Mitglied und machte sich einen Namen mit Pegida-freundlichen Analysen. Ein Strippenzieher im Hintergrund: Patzelt betrachtet die AfD zwar als Gegner, von dem man jedoch lernen solle, wenn er die besseren Argumente habe. Die AfD habe »in der rechten Spielfeldhälfte angefangen, sich als neue Partei zu etablieren«. Die CDU müsse ein »vernünftiges Verhältnis« zu ihr finden. Eine mögliche Koalition der CDU mit der AfD denkt Patzelt dabei immer mit, so »wie mit den Grünen erst die SPD und jetzt die CDU«.

Tillichs Autorität ist begrenzt. Er ist seit 2008 Ministerpräsident und Landesvorsitzender der CDU. Als er sehr spät deutliche Worte zum Rassismus und Rechtsextremismus in Sachsen findet, geht es ihm in erster Linie um das Image des Landes. Seinen Satz »Der Islam gehört nicht zu Sachsen« hat er nie zurückgenommen. Und als im Januar 2015 die Stadt Dresden und die Landesregierung eine Kundgebung für Weltoffenheit organisierten, sollte diese ausdrücklich nicht als Veranstaltung gegen Pegida verstanden werden. Zur »Staatskundgebung« waren die CDU-Mitglieder per SMS mit der Botschaft mobilisiert worden: »Unseren Stanislaw Tillich unterstützen.«

Nach den rassistischen Krawallen im August 2015 in Heidenau hielt Tillich eine vergleichsweise klare Rede im Landtag. Er bescheinigte der »überragenden Mehrheit der Sachsen« Menschlichkeit. »Aber eine enthemmte Minderheit besudelt und beschämt unser ganzes Land in einer Art und in einem Ausmaß, die ich mir nicht habe vorstellen können.« Der CDU-Fraktionschef im Landtag, Frank Kupfer, sagte, quasi in einer Erwiderung auf Tillich: »Die muslimische Religion ist keine Religion, die hier in Sachsen ihre Heimat hat.« Dass Muslime »kein Schweinefleisch essen und keinen Alkohol trinken, kann man ja noch tolerieren, das ist ja sogar gesund«. Aber dass die Töchter »oft nicht freiwillig ihren Lebenspartner suchen können, sondern zwangsverheiratet werden, das sind Fragen, und diese muss man beantworten«. Ansatz der CDU sei, »die Bürger in ihren Sorgen ernst zu nehmen und nicht zu versuchen, sie zu erziehen«.

Das Szenario sollte sich ähnlich im Februar 2016 wiederholen, als Tillich zugegeben hatte, dass Sachsen ein Problem mit Rechtsextremismus habe. Wieder hielt Kupfer eine Art Gegenrede für die »besorgten Bürger« und warf der Opposition vor, Fremdenfeindlichkeit lediglich zu instrumentalisieren, »um unsere erfolgreiche Politik der vergangenen 26 Jahre zu diskreditieren«. Tillich hörte sich das emotionslos an und ging nicht mehr darauf ein.

Ein Spiel mit verteilten Rollen? Immer wieder fällt auch Tillich ins Relativieren zurück. Kurz nach der Landtagsrede zu den Ausschreitungen in Clausnitz und Bautzen verwahrte er sich dagegen, dass »pauschalisiert über Sachsen gesprochen wird«. Im »heute journal« von Claus Kleber befragt, verglich er die rassistischen Attacken im Freistaat mit den Protesten gegen das Stuttgarter Bahnhofsprojekt S 21: »In den letzten Jahren haben wir durchaus das eine oder andere Beispiel erlebt, wo es auch sehr unsachlich zugegangen ist, denken wir zum Beispiel an die Auseinandersetzungen in Stuttgart um den Bahnhof.«

Nachdem am 3. Oktober 2016 Pegida-Anhänger und andere rechte Pöbler Merkel, Bundespräsident Joachim Gauck und andere Spitzenpolitiker in Dresden zur Einheitsfeier mit »Volksverräter«-Rufen empfingen, sagte Tillich bei der Festveranstaltung in der Semperoper: »Es gibt Fremdenfeindlichkeit nicht nur bei Radikalen und Rechtsextremisten, deren rassistisches Weltbild auf Ausgrenzung beruht. Es gibt Linksextremisten, die unseren demokratischen Staat und seine Vertreter ablehnen, ja sie angreifen. Es gibt die islamischen Extremisten, die ebenfalls Hass predigen und unsere Demokratie ablehnen.«

Wieder die angesichts der Lage in Sachsen irreführende Gleichsetzung von rechter und linker Gewalt. Sie führt zur Dauer-Verharmlosung des Rechtsextremismus. Der Dresdner Politikwissenschaftler Dietrich Herrmann bilanziert: »Es wurde alles vermischt, anstatt sich klar gegen rechte Gewalttaten abzugrenzen, die nun einmal deutlich häufiger passieren. Man hat es sich zu leicht gemacht.«4

Anmerkungen

1 Hubertus Grass: Wie die Tillich-CDU Sachsen schädigt, Tagesspiegel, 27. 8. 2015, www.tagesspiegel.de/politik/heidenau-freital-pegida-wie-die-tillich-cdu-sachsen-schaedigt/12241666.html [gesehen am 27. 1. 2017]

2 Matthias Meisner: »Die CDU bei uns ist antidemokratisch eingestellt«, Tagesspiegel, 1. 9. 2015, www.tagesspiegel.de/politik/pegida-afd-und-npd-insachsen-die-cdu-bei-uns-ist-antidemokratisch-eingestellt/12262174.html [gesehen am 27. 1. 2017]

3 Richard Gebhardt: Bedingt abkehrbereit, Jungle World, 27. 10. 2016, http://jungle-world.com/artikel/2016/43/55055.html [gesehen am 27. 1. 2017]

4 Bernhard Honnigfort: »Rechtsextremismus wird verharmlost«, Frankfurter Rundschau, 23. 2. 2016, www.fr-online.de/flucht-und-zuwanderung/rechtein-sachsen--rechtsextremismus-wird-verharmlost-,24931854,33840190. html [gesehen am 27. 1. 2017]

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Mein Sachsen

Heinz Eggert (Politiker)

Am Vormittag lese ich in meinem Heimatblatt, dass ganz in meiner Nähe auf einem Gebirgsparkplatz das Auto einer tschechischen Familie gestohlen worden ist.

Autodiebstähle sind ein Ärgernis in unserem Dreiländereck. Auf allen drei Seiten.

Was Demagogen nicht schaffen, schaffen diese Diebstähle. Misstrauen gegeneinander und Unsicherheiten machen sich breit. Alte Vorurteile leben wieder auf. Natürlich sind es die Polen und die Tschechen, die unsere guten deutschen Autos klauen. Während meine tschechischen Freunde erklärend auf die Zigeunerkonzentration (dass man inzwischen Sinti und Roma sagen soll, wissen sie nicht) in der Grenzregion verweisen.

So hat jeder seine einfachen Erklärungen.

Ein Klingeln an der Haustür unterbricht meine Überlegungen. Draußen steht eine Gruppe von Jugendlichen aus dem tschechischen Kinderheim gleich hinter unserer Grenze, die nur 300 Meter von unserem Haus entfernt ist. Als ich als Pfarrer 1974 hier nach Oybin kam, war diese stacheldrahtbewehrte Grenze gut bewacht. Jetzt sind die Grenzen wieder offen.

Die Erzieher der Jugendlichen warten auf der anderen Straßenseite. Ein junger großer brauner Cigan (wie sie sich selber gern nennen) hält mir eine Nähnadel entgegen und fragt mich ein wenig aufgeregt auf Deutsch, ob ich sie gegen irgendetwas eintauschen würde. Gespannt beobachtet die Gruppe unser Gespräch.

Jetzt bin ich verblüfft. Vielleicht sammeln sie für eine Feier, denke ich und frage: Zehn Euro?

Alle Jugendlichen schütteln den Kopf. Kein Geld!

Ja, was dann? Ich bin unsicher, weil ich das Prinzip nicht kapiert habe.

Eigentlich kann man mit Geld doch immer alles regeln.

Was würdest du nehmen?, frage ich direkt. Ein Ei, sagt er.

O. k., sage ich, zehn Eier? Mein Gott, wir haben’s doch.

Er schüttelt den Kopf.

Die Jugendlichen lachen. Kompromissbereit zeigt mir ein kleiner Dicker drei Finger.

Also gehe ich ins Haus, packe fünf (!) Eier in eine Packung, nehme noch eine Riesenpackung Gummibären mit und mache den Tausch perfekt. Erleichtert bedankt sich mein Tauschpartner. Die anderen freuen sich mit, während die Erzieher noch ein Erinnerungsfoto machen.

Dann erfahre ich, dass nach dem Hans-im-Glück-Prinzip jeder Jugendliche ein Tauschobjekt bei sich hat und sich selber einen Ansprechpartner suchen muss, um zu tauschen. Das kostet Überwindung und Mut, denn Zurückweisung und Ablehnung drohen ja immer. Respekt!

Dieses Erlebnis beflügelt meine Fantasie immer noch. Vielleicht sollten das mal die Erwachsenen in unserem landschaftlich traumhaften Dreiländereck spielen.

Es könnte doch befreiend sein, wenn Nationalität, Status und Geld keine Rolle mehr spielen, sondern nur noch das, was wir bereit sind zu geben und füreinander in großer gegenseitiger Freundlichkeit einzusetzen. Hier im Dreiländereck kann es nur Mut machen.

Heinz Eggert war CDU-Politiker und von 1991 bis 1995 Innenminister in Sachsen.

Andreas Wassermann

Ein bisschen Singapur – nur ohne Stockhiebe

Wie der erste Ministerpräsident Kurt Biedenkopf das Land prägte

Es ist ein bürgerliches Heim an einem der oberbayrischen Seen, wo Reiche unter sich sind. Doch an diesem Abend kommen die Armen mit dunkler Haut. Sie könnten Flüchtlinge sein aus Nordafrika oder dem Nahen Osten. Sie stehen am Zaun des Reichen. Zuerst ist es eine kleine Gruppe, dann kommen immer mehr, dunkelhäutige Menschen in weißen Gewändern, Kopftüchern und Turbanen. Sie überwinden den Zaun, werfen Mülleimer und dringen auf den wohlständigen Besitz. Dann wird ein Brandsatz geworfen, ganz nah beim Haus ein Feuer entfacht. Einer der Invasoren, ein kräftiger, groß gewachsener Mann, hat einen schweren Gegenstand in der Hand, es könnte eine Eisenstange sein. Er rennt auf den Hauseigentümer zu …

Es war nur ein Traum. Kurt Hans Biedenkopf hat ihn geträumt, wenige Wochen bevor er Ministerpräsident von Sachsen wurde. So nachhaltig wirkte offenbar der Traum, dass er ihn aufgeschrieben hat, in seinem Tagebuch unter dem Datum des 12. September 1990. Er habe viel über »die Gefahr eines Einwanderungsdrucks aus dem Süden auf Europa gesprochen«, schreibt Biedenkopf, »das war wohl eine Umsetzung dieser Gedanken in Bilder«.

Und es war ein Traum, der vielen Sachsen den Tiefschlaf raubt: Fremde in Massen vor dem eigenen Haus, die christlich-abendländische Identität in Gefahr, wie in jener Zeit, als die Türken vor Wien standen – der sächsische Albtraum. Kurt Biedenkopf, der CDU-Politiker aus Nordrhein-Westfalen mit Villa am bayerischen Chiemsee, war da schon einer von ihnen, er hatte tief im Inneren die gleichen Ängste.

Vielleicht ist es diese Furcht im Unterbewussten, die Biedenkopf in den darauffolgenden Jahren so nachsichtig hat sein lassen mit den xenophoben Exzessen in Sachsen. Nein, die Sachsen seien nicht ausländerfeindlich, sie seien hingegen weltoffen, sagt Biedenkopf bis heute. Und er sagte es bereits, als zum ersten Mal rassistische Pogrome im Lande weltweit für Schlagzeilen sorgten, 1991, als die angeblich so weltoffenen Sachsen in Hoyerswerda Jagd auf ehemalige DDR-Vertragsarbeiter aus Mosambik und Vietnam machten.

Entschuldigt hat Biedenkopf die Gewalt nie, aber sie kleingeredet, marginalisiert zu Übergangserscheinungen nach dem Zusammenbruch der DDR. Unschöne, lästige Flecken, die Sachsens Gloria beschmutzen, aber nicht zerstören können. Biedenkopf fand den Ton, den die Sachsen hören wollten. Nur der Wirklichkeit entsprach er nicht.

Von Beginn an ist die Beziehung zwischen Sachsen und Biedenkopf symbiotisch. Die Sachsen brauchten einen wie Biedenkopf. Und Biedenkopf brauchte ein Land wie Sachsen.

Im Westen war der CDU-Politiker auf dem Abstellgleis gelandet. Als der Ostblock erodierte, war der kluge Professor nur noch Zaungast. Ganz am Rand der politischen Bühne musste er verfolgen, wie sein alter Widersacher Helmut Kohl mit der Vorbereitung der deutschen Einheit Geschichte schrieb. Biedenkopf, in den 1970er Jahren CDU-Generalsekretär, Wahlkampfmanager, Vor- und Querdenker seiner Partei, hatte abgeschlossen mit der aktiven Politik. Sein vorerst letzter Versuch in der Landespolitik Nordrhein-Westfalens war jämmerlich gescheitert. Biedenkopf zog sich zurück in eine kleine, aber mit lukrativen Mandaten ausgestattete Anwaltskanzlei in Bonn, schrieb Bücher über die Zukunft der Rente und die Probleme in einer überalterten Gesellschaft.

Dann sollte eine von vermögenden Freunden subventionierte Gastprofessur für Volkswirtschaft an der Karl-Marx-Universität in Leipzig alles ändern. Im Osten, wo alles im Umbruch war, der Sozialismus abgewirtschaftet und der Kapitalismus sich noch ungewohnt und fremd anfühlte, fand Biedenkopf wieder aufmerksame Zuhörer. Sein Rat war gefragt, bei alten SED-Genossen, die sich zum persönlichen Wohlergehen wenden wollten, genauso wie bei ehemaligen Montagsdemonstranten, die eine reformierte DDR längst in der Sehnsucht nach einem vereinten Deutschland und einem auferstandenen Sachsen aufgegeben hatten. Biedenkopf versprach keine Wunder, erklärte immer wieder, wie steinig der Weg zu Wohlstand und Wohlergehen sein werde. Doch wenn es ein Volk schaffen könnte, dann die Sachsen, die in der Vergangenheit prächtige Reiche gegründet hatten und im 19. Jahrhundert den Takt der Industrialisierung vorgegeben hatten.

Und irgendwie war Biedenkopf ja auch einer von ihnen. Er war in Ludwigshafen geboren, aber seine Kindheit und frühe Jugend hat er in Schkopau verbracht, das damals, in den 1930er Jahren, noch zu Sachsen gehörte.

Wer also, wenn nicht er, könnte Sachsen wieder zur alten Größe führen? Kurt Biedenkopf, der Sohn eines Buna-Betriebsleiters, der in den USA studiert hatte, Präsident der Ruhr-Universität Bochum war, beim Waschmittelkonzern Henkel im Vorstand saß und die Union mit einem demagogischen Freiheit-statt-Sozialismus-Wahlkampf zur stärksten Partei gemacht hatte.

Als sich die DDR in Abwicklung befand, saß Biedenkopf in mehreren Aufsichtsräten ehemaliger volkseigener Betriebe und Kombinate. An einem Tag im August 1990 war er auf dem Rückweg von der Aufsichtsratssitzung der Buna-Werke nach Leipzig in die Universität. Die Gewerkschaft ÖTV hatte den Verkehr lahmgelegt, der Platz vor der Hochschule war gesperrt. Biedenkopf parkte seinen Wagen vor dem Gewandhaus, ausgerechnet auf jenem Stellplatz, der für den Chefdirigenten Kurt Masur reserviert war. Doch der aufgeregt herbeieilende Pförtner war nicht etwa ungehalten, sondern erfreut und schon ein wenig huldvoll, als er den Falschparker erkannte: »Ei verbibsch. Der neie sächs’sche Kenich.«

Die Geburtsstunde von König Kurt. Am 14. Oktober, einem sonnigen Herbstsonntag, ist Landtagswahl in Sachsen. Biedenkopf sitzt nach Schließung der Wahllokale im Fernsehraum des Dresdner Hotels »Bellevue« und wartet auf die erste Hochrechnung. Die Prognosen, die er seit dem späten Nachmittag kennt, versprechen einen fulminanten Wahlsieg für die CDU und ihren Spitzenkandidaten.

Am Ende waren es 53,8 Prozent, das beste Ergebnis für die CDU bei den ersten Landtagswahlen im Osten. Biedenkopf hatte mit 48 Prozent gerechnet und damit zwei Flaschen Champagner an seine Frau Ingrid verloren. Biedenkopfs Gemahlin lag mit ihrem Tipp von 54 Prozent dem Ergebnis am nächsten.

Dann wird gefeiert bis in die Nacht hinein in einer Kneipe im DDR-patinierten Dresdner Großbürgerviertel Blasewitz; der Linie 6, deren Wahrzeichen ein alter Straßenbahnwaggon war, und deren Wirt mit seinem mächtigen Schnurrbart aussah, als sei er übriggeblieben aus Sachsens Fürsten-Gloria. CDU-Mitglieder und Anhänger sind wie im Rausch, sie stimmen einen Schlager des westdeutschen Blödel-Barden Frank Zander an: »Hier kommt Kurt, ohne Helm und ohne Gurt«. Ständig wiederholen sie den Refrain. Mit ihrem Kurt als Spitzenkandidaten hatten sie nicht nur landesweit gesiegt, sondern auch alle 80 Wahlkreise erobert.

Dabei war der Wessi, der sich sogar noch in die DDR hat einbürgern lassen, alles andere als erste Wahl für Sachsens CDU. Der Blockpartei-Funktionär Klaus Reichenbach, einst Vorsitzender der Partei im DDR-Bezirk Karl-Marx-Stadt, hatte seinen Hut in den Ring geworfen. Dessen innerparteiliche Gegner brachten Walter Priesnitz, einen ehemaligen Staatssekretär des gerade in Abwicklung befindlichen Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen, als Spitzenkandidaten ins Gespräch. Dann schlug der Dresdner Trompeter und Alt-Ost-CDUler Ludwig Güttler die West-CDU-Frau Rita Süssmuth vor, und DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière hätte am liebsten einen DDR-Bürger an der Spitze Sachsens gesehen. Bundeskanzler Helmut Kohl war jeder recht, wie er de Maizière erklärte, nur nicht »dieser Traumtänzer«. Und damit meinte Kohl seinen Querdenker Biedenkopf.

Gegen Heiner Geißler, Biedenkopfs Nachfolger als CDU-Generalsekretär, hatte Kohl nichts, und die Sachsen-CDU hätte ihn liebend gern als Spitzenkandidat aufgestellt. Doch Geißler mochte nicht. Und so wurde Kurt Biedenkopf am 27. August 1990, um ein Uhr morgens am Chiemsee aus dem Schlaf geklingelt. Am Telefon war Parteifreund Lothar Späth, damals Ministerpräsident Baden-Württembergs, der sich ein wenig verantwortlich fühlte für die Gestaltung der politischen Zukunft in Sachsen. Er, Biedenkopf, müsse es jetzt machen, sagte Späth, und der Umworbene legte sich wieder schlafen.

Nach Sonnenaufgang und einer Tasse Tee mit der Gemahlin stimmte Biedenkopf seinem politischen Karriere-Comeback zu – unter Bedingungen: freie Hand beim Personal und keine Intrigen – gegen ihn, versteht sich. Ein Angebot, das Späth weder ablehnen konnte noch wollte. Die Entscheidung auf der CDU-Landesvorstandssitzung in Chemnitz war nur noch Formsache. Und selbst Kohl überließ nun, wenn auch zähneknirschend, dem »Traumtänzer« den Südosten der DDR, der alsbald der Freistaat Sachsen werden sollte. Biedenkopf notierte in sein Tagebuch: »Eine Genugtuung habe ich. Ich werde nun wohl doch Ministerpräsident werden, wenn auch nicht in NRW.«

Die CDU-Notlösung sollte sich für die Sachsen als Glücksfall erweisen. Sie bekamen einen Regierungschef, der ihnen zwar wirtschaftlich einiges zumutete, aber nie ihre Selbstgewissheit anzweifelte oder auch nur kritisch in Frage stellte. Mit Biedenkopf bekamen sie in einer wirren Umbruchzeit genau den Mann, den sie brauchten; der sie darin bestärkte, dass nur das Joch des realexistierenden Sozialismus die Sachsen bisher daran hinderte, ein glückliches und prosperierendes Völkchen zu sein.

Wie die Mehrheit der Sachsen wollte auch Biedenkopf niemals reformieren, sondern restaurieren. Gemeinsames Ziel war die Wiederherstellung einer präsozialistischen Bürgerlichkeit. Vor allem die ehemalige Residenzstadt Dresden sollte – möglichst von der Moderne unangetastet – ins glorreiche 18. Jahrhundert renoviert werden und der Rest des Landes zur bürgerlichen Puppenstube oder Modelleisenbahnlandschaft mit Hightech-Leuchttürmen mutieren – mit Biedenkopf, dem passionierten Spielzeugeisenbahner, an den Schaltköpfen.

Dem Spätberufenen machte so das Regieren große Freude. Ganz anders als in Nordrhein-Westfalen himmelte die gesamte Partei Biedenkopf an, und in Sachsen wurde der spröde, selbstgewisse Professor sogar populär, ein richtiger Landesvater. »Eine Art höheres Wesen zum Anfassen«, schwärmte ein CDU-Landtagsabgeordneter der ersten Stunde. Und für Biedenkopf wohl das Überraschendste von allem, er musste sich dafür nicht einmal ändern. »Erstmals in seinem Leben agiert Kurt Biedenkopf nun ohne Korrektiv. Kein Kanzler kann ihn hindern, kein Gegenspieler ausbremsen. Die Sachsen erleben Biedenkopf pur.« So bewertete der Spiegel das erste Dresdner Regierungsjahr.

Biedenkopf pur, das hieß: Regieren im Stil des Oberseminars oder eines Vorstandskonzern-Meetings. Von seinen Ministern will er nichts von Problemen hören, sondern Lösungen präsentiert bekommen. Er liebt den Diskurs, solange am Ende alle seiner Meinung sind. Denn Biedenkopf weiß alles, oder zumindest alles besser. Die Ressorts, die ihm besonders nahe sind, Finanzen und Wirtschaft, hat er mit Männern seines Vertrauens aus dem Westen besetzt.

Das Innen- und Justizministerium interessieren Biedenkopf nicht so sehr. Hier kommen Ostdeutsche zum Zuge: Den Dresdner Kirchenjuristen Steffen Heitmann, einen der stockkonservativen Vertreter aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung, beruft Biedenkopf zum Justizminister, Rudolf Krause, langjähriges Mitglied der CDU-Blockpartei in der DDR aus Leipzig, zum Innenminister.