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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Edwin Carberry sah an diesem Tag nachdenklicher aus, als es seine Art war. Der bullige Profos der „Isabella IX.“ hatte sich zum Quarterdecksniedergang an Backbord zurückgezogen, abseits von dem Punkt, um den sich das eigentliche Geschehen abspielte. Für die Affenärsche, so nannte er sie auch in Gedanken, schien es nichts Wichtigeres zu geben.

Dicke, graugelbe Rauchschwaden stiegen dort auf, gleich neben dem Kombüsenschott.

Ed Carberry ließ seinen Blick über die Kuhl der stattlichen neuen „Isabella“ gleiten und begann, die Welt nicht mehr zu verstehen. Da ließen sich diese ausgewachsenen Kerls vom Gestank einhüllen und glaubten auch noch fest daran, daß es ein Lekkerbissen war, was die Kombüsenhengste ihnen auftischten. Ja, in der Tat, der Kutscher und Mac Pellew führten sich auf, als hätten sie den einzig wahren Gaumenkitzel entdeckt.

„Wartet nur ab“, murmelte Carberry vor sich hin, „ich gebe euch noch einen oder zwei Tage, und die verdammten geräucherten Heringe kriechen euch zu den Ohren raus!“

Sein Blick gewann einen Ausdruck von Traurigkeit, je länger er beobachtete, wie sie dem Kutscher und Mac Pellew die Räucherheringe regelrecht aus den Händen rissen. Das begeisterte Gegröle konnte auch ein wenig auf den Aquavit zurückzuführen sein, von dem es eine Kostprobe gab. Aber eine Entschuldigung für das absonderliche Verhalten der Seewölfe war das nach Meinung des Profos’ noch lange nicht. Er begann, von einem saftigen Brocken Fleisch zu träumen, von einem handfesten Bohneneintopf, der einen drei Tage toten Seelord noch wieder in die Stiefel hob.

Eine besorgte Stimme riß ihn aus seinen tiefschürfenden Betrachtungen.

„Alles in Ordnung, Mister Carberry?“

Der Profos schrak auf, blinzelte verwirrt und hob den Kopf. Philip Hasard Killigrew lehnte sich über die Schmuckbalustrade, und seine eisblauen Augen blickten so besorgt, wie es dem Klang seiner Stimme entsprach.

„Was sollte nicht in Ordnung sein, Sir?“ entgegnete Ed Carberry mißtrauisch. Normalerweise redete der Seewolf ihn nicht so förmlich an. Wollte er ihn etwa verspotten, was, wie?

„Ed, ich sehe es dir an der Nasenspitze an. Irgendwas stimmt nicht. Keiner von den anderen hat die Pest oder eine sonstige ansteckende Krankheit. Trotzdem gehst du ihnen aus dem Weg.“ Hasard deutete zu der ausgelassenen Schar seiner Männer, die sich rings um das Kombüsenschott den Heringsrauch um die Ohren wehen ließen.

„Also gut.“ Ed Carberry richtete sich auf und wandte sich mit einem entschlossenen Ruck dem Seewolf zu. „Wenn du es genau wissen willst, Sir, dann will ich es dir sagen: Es paßt mir ganz und gar nicht, daß diese Kombüsenratten aus unserer sauberen ‚Isabella‘ einen Fischkutter machen wollen. Verdammt noch mal, das paßt mir nicht!“

Hasard mußte sich ein Lächeln verkneifen.

„Ed, sei nicht ungerecht. Der Kutscher hat keine Fischernetze eingekauft.“

„Aber einen dreimal verdammten Räucherofen. Und Ferris Tucker, dieses Rübenschwein von einem Schiffszimmermann, hat ihm auch noch beim Aufbau geholfen.“

„Warum gibst du nicht Mac Pellew die Schuld?“

„Keiner hätte auf ihn zu hören brauchen. Mac, dieses alte Schlitzohr, wollte sich mit seinen Bornholmer Räucherheringsgeschichten doch nur aufspielen. Und jetzt haben wir den Salat. In jedem Hafen werden sich die Leute verdrücken, wenn unser stinkender Stinteimer einläuft.“

„Himmel noch mal, Ed, Mac und der Kutscher werden nicht jeden Tag Heringe räuchern.“

„Seit Bornholm tun sie nichts anderes.“

„Auf Vorrat. Als Abwechslung für unseren Speiseplan. Die beiden meinen es nur gut.“

„Gut?“ knurrte der Profos. „Was soll daran gut sein? Fisch ist gut für Stubenhocker, die zum Arbeiten nur ihren Grips, einen Federkiel und schön saubere Hände brauchen. Deine Männer, Sir, brauchen Mumm in den Knochen, und den kriegen sie nur von einem ordentlichen Happen Fleisch.“

„Recht hast du, Ed“, sagte der Seewolf geduldig. „Aber einseitige Ernährung ist auch nicht gut. Und du wirst schon sehen, es läuft sich alles von selbst zurecht. In ein paar Tagen haben sie genug von der Heringsräucherei. Warum regst du dich über diese Anfangsbegeisterung auf?“

Der Profos brummelte Unverständliches, schon halb besänftigt. Wenn nicht mal Hasard sich um den guten Eindruck sorgte, den er mit der „Isabella“ erweckte, wozu sich dann noch aufregen?

Die Zeiten, so resümierte Ed Carberry mit einem innerlichen Seufzer, änderten sich eben. Heute segelten sie mit einem Heringsräucherofen unter königlich britischer Flagge. Morgen hatte der Kutscher vielleicht die Idee, eine Schnapsbrennerei an Bord einzurichten. Warum nicht gleich eine ganze Farm mit Kühen, Schweinen, Hühnern, Enten?

Seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, denn das Stimmengewirr vorn bei Kombüse und Räucherofen legte sich etwas. Blicke richteten sich nach achtern und folgten Philip und Hasard, den Söhnen des Seewolfs. Philip trug in beiden Händen eine Muck, vorsichtig, um nichts zu verschütten. Hasard begleitete ihn mit den würdevollen Schritten eines Menschen, der sich der Bedeutsamkeit seines Auftrags bewußt ist.

„Wir kriegen Besuch, Ed“, sagte der Seewolf lächelnd. „Hör auf, die beleidigte Leberwurst zu spielen, und vergiß den stinkenden Stinteimer.“

„Der Teufel soll die kleinen Rübenschweine holen, wenn sie sich wieder was ausgedacht haben.“

„Haben Sie nicht, Ed. Die anderen haben sie geschickt.“

Der Profos der „Isabella“ schob sein Rammkinn vor, und ein Grinsen huschte über sein zerklüftetes Narbengesicht. Hasard atmete auf. Es sah so aus, als brauche er mit Edwin nicht länger zu reden wie ein Bauer mit seiner kranken Kuh.

Die Zwillinge blieben stehen, wechselten einen Blick, sahen erst ihren Vater an und dann den Profos.

„Wir haben eine Einladung zu überbringen, Mister Carberry.“ Philip junior räusperte sich, und Hasard junior nickte beipflichtend.

„Ah so, eine Einladung.“ Der Profos kratzte sich am Hinterkopf. Das Ganze mochte harmlos sein. Ganz sicher war er in der Beziehung aber nicht.

Denn die beiden Söhne des Seewolfs taten mal wieder so, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Ed Carberry kannte seine kleinen Rübenschweine jedoch zur Genüge und wußte, wie faustdick sie es hinter den Ohren hatten.

Sicher, sie waren größer geworden, waren keine kleinen Kinder mehr und standen schon tapfer ihren Mann bei den Aufgaben, die sie an Bord zu erledigen hatten. Das änderte aber nichts daran, daß sie immer noch eine Menge Beispiele für ihr Temperament und ihren Starrsinn lieferten. Ho, Edwin Carberry konnte ein Lied davon singen, welche Scherereien sie der „Isabella“-Crew schon bereitet hatten – und das meistens dann, wenn der Seewolf sie seiner höchstpersönlichen Obhut anvertraut hatte.

Und die beiden Lausebengel wußten verdammt genau, daß ihr Mister Carberry noch lange nicht vergessen hatte, was sie sich schon alles geleistet hatten. Denn er hatte sie oft genug aus den verzwickten Situationen herauspauken müssen, in die sie hineingeschlittert waren.

Äußerlich ähnelten sich die beiden Jungen wie ein Ei dem anderen. Schlank und schwarzhaarig, hatten sie den unverwechselbar gleichen Gesichtsschnitt wie der Seewolf. In ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen, und schon jetzt, in ihren jugendlichen Jahren, ließen sie erkennen, daß sie als erwachsene Männer einmal alle überragenden Eigenschaften und Fähigkeiten ihres Vaters haben würden.

„Eine Einladung von Mister Larsen“, ergänzte Hasard junior. „Er möchte seinen Dank aussprechen.“

Der Seewolf wandte sich ab, denn er konnte sein Grinsen nicht länger unterdrücken. Und er wollte Ed Carberry, der an diesem Tag offenbar mit dem falschen Bein zuerst aus der Koje gekrochen war, nicht vor den Jungen in Verlegenheit bringen.

Philip junior hielt dem Profos die Muck entgegen, in der eine kristallklare Flüssigkeit schwappte.

„Eine Kostprobe, Sir. Mister Larsen bittet Sie höflich, sich das nicht entgehen zu lassen.“

„Das Wasser des Lebens“, fügte Hasard junior hinzu. „Der Kutscher hat gesagt, das bedeutet ‚Aquavit‘, wenn man es übersetzt. Leider dürfen wir nur dran riechen.“

„Leider?“ knurrte Carberry. Er nahm die Muck und hob sie an. „Paßt auf, daß ich euch nicht den Hosenboden strammziehe, wenn ich euch mit dem Zeug erwische. Das ist nur was für ausgewachsene Kerls. Und man braucht die richtigen Seebeine, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.“ Er schnupperte an dem „Lebenswässerchen“ und kippte es dann mit einem Ruck hinunter. „Ah! Nicht schlecht. Wenigstens tötet es den Heringsgestank ab. Die Nase ist nicht mehr so empfindlich.“ Er stieß sich vom Niedergang ab und behielt die Muck gleich in seiner ankerklüsengroßen Hand. „Vorwärts, Gentlemen! Lassen wir unseren dänischen Jungferntröster nicht länger warten.“

Die beiden Jungen wirbelten herum und liefen freudestrahlend los, vorbei an den mächtigen 25pfündern und den vor der Kuhlgräting festgezurrten Jollen. Auch die Söhne des Seewolfs hatten bereits ein feines Gespür dafür, wenn es Mißstimmungen in der Crew gab. Und gemeinsam mit dem Kutscher, Mac Pellew und den anderen waren sie froh, einen passablen Weg gefunden zu haben, um Edwin Carberry aus seinen rauchumwölkten Gedanken wachzurütteln.

Sie hatten Nils Larsen, den breitschultrigen blonden Dänen, schon mehrmals an diesem Tag hochleben lassen. Er hockte in ihrer Mitte auf einer Taurolle und sprang auf, als der Profos herannahte. Die Zwillinge zogen sich zum Räucherofen zurück und schauten dem Kutscher und Mac Pellew zu, die sich jetzt mit besonderem Eifer darauf konzentrierten, eine neue Ladung Heringe in den Rauch zu schieben.

Alle anderen empfingen den Profos mit freudigem Gebrüll. Ed Carberry schüttelte sich, als er sah, wie Nils Larsen etwas über die Köpfe der Männer hinweg nach außenbords schleuderte. Dieses Etwas hatte er sich gerade zuvor durch die Zähne gezogen, und danach bestand es nur noch aus einem Heringskopf, der mit der Schwanzflosse durch eine borstige Gräte verbunden war. Carberry zwang sich, nicht in die Runde zu blicken, denn die meisten Männer hielten noch eines der goldgelben Räucherbiester in den fettigen Fingern.

Nils Larsen schnappte sich den Krug vom Aquavitfaß, ging strahlend auf den Profos zu und hieb ihm auf die Schulter. Nichts war dem kräftig gebauten Dänen anzumerken, wieviel von dem „Wasser des Lebens“ er schon genossen hatte.

„Ich stehe in deiner Schuld, Mister Carberry!“ rief er lautstark. „Erst nachträglich habe ich mitgekriegt, daß du bereit warst, für mich durch die Hölle zu gehen.“ Er füllte Carberrys Muck aus dem Krug auf.

Donnerndes Beifallsgebrüll wurde laut und übertönte für einen Moment das Singen des Windes, der durch Wanten und Pardunen pfiff und die Segel prall füllte.

„Hölle?“ entgegnete der Profos dröhnend. „Hölle, sagst du? Da kennst du mich aber verdammt schlecht, Nils Larsen. Deine dänische Jungfer wäre mit mir durch den siebenten Seefahrerhimmel gegangen.“ Er blickte nun doch in die Runde, feixte und schob das Rammkinn vor. „Allerdings nur eine Nacht lang. Genug für sie, um den Rest ihres Lebens davon zu träumen.“

Die Männer grölten vor Vergnügen. Larsen und Carberry rammten ihre Mucks gegeneinander und ließen den Aquavit durch ihre Kehle brennen.

„Hoho, unser Profos spricht aus Erfahrung!“ rief Ferris Tucker, der hünenhafte Schiffszimmermann mit dem roten Haarschopf.

„Wetten, daß er doch weiche Knie gekriegt hätte?“ schrie Matt Davies, der einen Räucherhering an seiner Hakenprothese aufgespießt hatte.

„Weiche Knie? Wobei?“ Batuti, der schwarze Riese aus Gambia, war es, der sich fragend umsah.

Die anderen schütteten sich aus vor Gelächter.

Ed Carberry sah ihn an.

„Vor dem Traualtar, du Einfaltspinsel! So was Feierliches haut den stärksten Seemann aus den Stiefeln.“

Wieder folgte begeistertes Gebrüll. Mac Pellew, der Kombüsenmann, hielt den Moment für angebracht, ein Angebot seiner Räucherkünste an den Mann zu bringen. Auf einer Holzschale trug er einen kleinen Berg fettglänzender Ostseeheringe heran, die er frisch aus dem Rauch geholt hatte. Er deutete eine Verbeugung an und übersah geflissentlich, daß sich das Narbengesicht des Profos’ bedrohlich zu verziehen begann.

„Wir haben alle einen Grund zum Feiern“, sagte er salbungsvoll. „Wir konnten den guten Nils vor dem Joch der Ehe bewahren, noch dazu mit einer Lady, deren Schönheit jede Blume …“

Die Männer grölten von neuem los, schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und bogen sich vor Lachen. Denn besagte Lady, die dem armen Nils von seinem Vater zugedacht worden war, konnte jeder aus der „Isabella“-Crew mit Fug und Recht als das Häßlichste bezeichnen, was ihm jemals unter die Augen getreten war.

„… deren Schönheit jede Blume zum Welken gebracht hätte!“ fuhr Mac Pellew fort, nachdem sich die anderen einigermaßen beruhigt hatten. „Es ehrt dich, hochverehrter Mister Carberry, daß du bereit warst, für Nils als Scheinbräutigam einzuspringen. Sei froh, daß die ganze Geschichte nicht so weit gediehen ist. Und letzten Endes habe auch ich einen Grund zur Freude. Denn ich konnte endlich das Rezept für die berühmten Bornholmer Räucherheringe auftreiben. Und die sind wahrhaftig eine gute Unterlage, wenn man einen anständigen dänischen Aquavit zu sich nehmen möchte. Also laß dir das nicht zweimal sagen. Lang zu!“ Er hob die Schale höher.

Carberry hielt sich die Nase mit Daumen und Zeigefinger zu.

„Hau ab, du Hering“, grollte er näselnd, „verschwinde mit deiner Dunstwolke, oder …“

Die Worte wurden ihm von den Lippen gerissen. Ein Windstoß, der sich zwischen Fock und Großsegel verirrte, drückte die Rauchsäule aus dem Räucherofen nach unten und hüllte die Männer wie mit einem gelblichgrauen Wattebausch ein.

Aus dem stark riechenden Wattebausch war ein Wutschrei des Profos’ zu hören. Dann tauchte Mac Pellew in wilder Flucht aus dem Räuchernebel auf. Die Schale mit den kostbaren goldgelben Bornholmer Heringen hatte er fallen lassen. Ed Carberry verfolgte ihn mit zwei Schritten Abstand in Richtung Achterdeck.

„Dir ziehe ich die Haut in Streifen von deinem Affenarsch!“ brüllte er, und jeder Mann an Bord der „Isabella“ wußte, daß der gute alte Edwin wieder zu seiner wohlvertrauten Stimmung zurückgefunden hatte.

Vor einem Tritt in den Hintern wurde Mac Pellew nur durch einen langgezogenen Schrei bewahrt, der unvermittelt aus dem Großmars ertönte.

„Land in Sicht! Laaand – in Sicht!“

2.

Man schrieb den 23. Februar des Jahres 1593.

Bei raumem Wind, über Backbordbug segelnd, lief die „Isabella“ mit rauschender Fahrt auf die Küste von Gotland zu. Es war früher Nachmittag, und der Himmel über dem Baltischen Meer versteckte sich hinter dicken grauen Wolken, die einen baldigen Regenguß ankündigten. Die Hafenstadt Wisby schälte sich nach und nach aus dem Dunst heraus, und den Männern, die der Profos zum Aufpacken der Segel in die Wanten hinaufscheuchte, bot sich der beste Ausblick.

Was vor allem ins Auge stach, waren die gewaltigen Mauern und Türme der an einem Hang liegenden Stadt. Mauern, die die Geschichte dieser immer noch wohlhabenden Ansiedlung lebendig werden ließen. Es war eine wildbewegte Vergangenheit, auf die Wisby zurückschauen konnte.