so heiß wie ein buschbrand in den trockensavanne

„Zeig mir die Handtasche eines Mädchens, und ich sag dir, wer sie ist.“ Antonio klappte den Kragen seines Polohemds hoch, bevor er nach den Tellern mit den Clubsandwichs griff, die ihm sein Kollege in die Durchreiche gestellt hatte.

„Alles klar“, erwiderte Karl spöttisch lächelnd. „Und ich kann an der Haarfarbe eines Mädchens erkennen, wie sie im Bett ist.“

Deswegen bist du also mit Jolka zusammen!“ Geschickt wie ein Akrobat schichtete Antonio die Teller auf seinem Unterarm. „Rote Haare gleich Leidenschaft gleich Hemmungslosigkeit. Da darf man ja gratulieren, oder?“

„Nur kein Neid“, blaffte Karl zurück. „Es gibt in Berlin bestimmt noch mehr rothaarige Mädchen, die bloß darauf warten, sich mit einem gut aussehenden Kellner wie dir einzulassen.“

„Unter Garantie. Nur leider steh ich nicht auf Hexen.“ Antonio konnte es sich nicht verkneifen, hämisch aufzulachen. Er sah noch, wie Karl seine Kochmütze zurechtrückte, dann machte er auf dem Absatz kehrt und eilte, gefolgt von seinem Hund Amore, durch das Café nach draußen. Jolka und gut im Bett ... Bei ihrem kurzen Techtelmechtel im letzten Jahr hatte sie zwar Herzchen für zehn in den Augen gehabt, sich allerdings wie eine Klosterschülerin angestellt.

Es war einer der ersten Tage im Jahr, in denen der Außenbereich des Cafés geöffnet hatte. Trotz schlechten Wetters. Der Himmel war wolkenverhangen, und ein frischer Wind blies von Nordosten. Dennoch hatten es sich drei Mädchen im Schutze der Mauer des Cafés bequem gemacht und tranken Latte macchiato.

„Prego, le Signorine“, rief Antonio und stellte die Teller mit einer galanten Bewegung ab. Wie immer, wenn sich die Möglichkeit für einen Flirt bot, sprach er italienisch. Denn – das war eine Art Naturgesetz – Mädchen standen auf Italiener, Spanier und Portugiesen. Irgendwie schien sich in ihren Gehirnwindungen der verquere Gedanke festgesetzt zu haben, dass Südländer die besseren Liebhaber waren. Also hatte sich Antonio (der zumindest schon mal so aussah, als hätte er jenseits der Alpen das Licht der Welt erblickt) vor ein paar Jahren auf das Abenteuer Italienisch eingelassen. Er hatte sich durch Verb-Tabellen, Präpositionen und Zeitabfolgen geboxt, wochen-, monatelang, und zu seinem Erstaunen festgestellt, dass ihm die Paukerei anders als in der Schule Spaß machte. Kurs eins hatte Kurs zwei nach sich gezogen, Kurs zwei Kurs drei, und sein Sprachenschul-Spitzname Antonio Peppino, an einem weinseligen Abend in einer Kneipe entstanden, war nach und nach in sein reales Leben gedrungen. Niemand nannte ihn inzwischen noch Manfred (außer seinen Verwandten vielleicht). An seiner Haustür pappte ein Emailleschild mit dem wohlklingenden Namen Antonio Peppino, Fremden gegenüber stellte er sich als Antonio Peppino vor, und auch die Behörden hatten nach einigem Hickhack und Heckmeck endlich Antonio Peppino als Künstlernamen in seinen Ausweis eingetragen. Antonio machte heute noch drei Kreuze, dass es so gekommen war. Auch wenn er das seiner Mutter so nicht sagen konnte, aber mit dem Namen Manfred Müller war man einfach nur gestraft. Manfred Müller hießen nur Deppen, Hirnis und norddeutsche Fischköpfe – neben seinem lieben Opa Manfred natürlich, der immer noch heimlich Mofas in der Garage frisierte.

„Mille grazie“, entgegnete eines der Mädchen, indem sie perfekt das R rollte. Anscheinend kam sie aus dem Land der Herzensbrecher. „Italiano?“

„Ja, äh, irgendwie schon.“ Antonio verkniff es sich diesmal, auf Italienisch zu antworten. Wenn er sich nicht bereits verraten hatte, würde dem Mädchen spätestens jetzt sein norddeutscher Dialekt auffallen.

„Irgendwie?“ Sie beugte sich runter, um den fiependen Amore zu tätscheln.

„Ja! Halb, halb ... Nicht Fisch, nicht Fleisch“, wich Antonio aus und lächelte automatisch sein Aufreißer-Lächeln. „Komm, Amore!“ Er machte, dass er schnell wieder ins Lokal kam. Das Mädchen war süß/sexy/zum Anknabbern, und vielleicht hätte er sogar als stinknormaler norddeutscher Manfred Chancen bei ihr gehabt, aber im Moment stand Tran Hang ganz oben auf seiner Liste. Tran Hangs Eltern waren Vietnamesen, sie selbst hatte im Ostteils Berlin das Licht der Welt erblickt, studierte inzwischen in Würzburg Physik und war bloß in den Semesterferien in der Hauptstadt, um sich im Imbiss ihres Vater ein paar Euro dazuzuverdienen. Seit einer Woche gingen sie miteinander aus. Bisher war zwar nichts weiter passiert außer ein bisschen flirten und Händchen halten, aber Tran Hangs aktuellem Augenaufschlag zufolge war sie so heiß wie ein Buschbrand in der Trockensavanne. Als Frauenexperte schlechthin verwettete Antonio sein letztes (Polo-)Hemd darauf, dass er sie schon bald im Bett haben würde.

Im Indoorbereich des kitchen saß bloß ein Mann über seinen Laptop gebeugt und nippte ab und zu an seinem Tee, ansonsten war es ruhig, und da sich auch Chefin Anka nicht blicken ließ, um ihn mit Sonderaufgaben zu behelligen, gesellte sich Antonio zu Karl in die Küche. Karl war alles andere als sein engster Freund, sie kabbelten sich häufig wegen der lächerlichsten Kleinigkeiten, aber im Grunde mochte Antonio ihn schon. Zumindest als Kollegen, der einem ein bisschen die Langeweile vertrieb.

„Dann erzähl mal“, sagte Antonio. „Was hat deine Herzallerliebste in ihrer Handtasche?“

„Kondome. Und riesige Vibratoren.“ Karl war gerade damit beschäftigt, Feldsalat zu waschen, was ihm sichtlich Mühe bereitete.

„Veräppeln kann ich mich selbst.“

„Oh, super! Ich guck dir gerne dabei zu.“

Antonio hüpfte rittlings auf die chromblitzende Arbeitsfläche, aber Karl scheuchte ihn sofort wieder runter.

„Abwischen!“, fauchte er. „Oder soll ich etwa da Schnitzel klopfen, wo gerade eben noch dein Hinterteil war?“

„Warum nicht?“ Antonio grinste frech. „Mein Hinterteil ist immer blitzblank, um nicht zu sagen antiseptisch.“

„Trotzdem hat dein antiseptischer Arsch nichts auf meiner Arbeitsplatte zu suchen! Stell dir nur vor, Anka kriegt das mit!“

„Schon gut ... Reg dich ab.“ Nur widerstrebend holte Antonio den Lappen und wischte ein bisschen larifari über die Platte. „Also ... Was hat Jolka nun in ihrer Tasche?“

Karl zeigte Antonio zwar einen Vogel, leierte aber sogleich wie auswendig gelernt runter: „Taschentücher, Bürste, Portemonnaie, Schlüssel, Notfallschokoriegel.“

„Keine dreckigen Taschentücher? Bonbonpapier? Ausrangierte Zettel?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Zigaretten?“

Karl schüttelte den Kopf.

„Deo?“

„Hat sie nicht nötig.“

„Bücher? Notizheft?“

„Antonio, du nervst! Gib mir bitte mal die Salatschleuder rüber ...“

Karl deutete auf den Holztisch am Fenster, wo sich Küchengeräte stapelten, die häufig benutzt wurden.

Voller Neid registrierte Antonio, wie muskulös die Arme seines Kollegen waren. Unverschämt. Denn zu allem Überfluss hatte er auch noch einen eins a Sixpack-Bauch. Angeblich trieb Karl, der zugegebenermaßen keine Schönheit war, nicht mal Sport. Seine Muskeln – so behauptete er zumindest immer – waren ein Überbleibsel aus früheren Leistungsschwimmer-Tagen. Antonio hätte einiges drum gegeben, auch ein bisschen athletischer auszusehen, allerdings war er bisher immer zu träge gewesen, sich im Fitnessstudio anzumelden. Und Sport zu Hause war schon gar nicht sein Ding.

Er reichte Karl die Plastikschleuder und sagte: „Verstehe. Jolka ist also Puristin.“

„Wieso? Wie meinst du das?“

„Kein Schnickschnack in der Tasche, sie hat nur das Notwendigste dabei. Allerdings deutet das auch auf ein kleines Problem hin ...“ Er stockte und überlegte, ob er es wirklich aussprechen sollte; Karl war manchmal die reinste Mimose.

„Was für ein Problem?“, hakte Karl nach, das Gesicht schon mal vorsichtshalber zur Gewitterwolke verzogen.

„Na ja ...“ Ein Gluckser kam über seine Lippen. „Dass sie im Bett eben doch nicht so das feurige Modell ist. Frei nach dem Motto Was die Bäuerin nicht kennt ... Stimmt’s, oder hab ich recht?“

„Weißt du was?“ Karl knallte die Salatschleuder auf die Spüle. „Es geht dich überhaupt nichts an, wie Jolka im Bett ist. Kümmere dich mal besser um deine eigenen Sexgeschichten – falls du denn überhaupt welche am Laufen hast.“

„Hab ich. Und zwar mehr als ein Mann allein verkraften kann“, trumpfte Antonio auf.

„Na großartig! Da bin ich aber beruhigt! Ein Kollege mit Notstand wäre auch nur schwer zu ertragen.“ Karl stopfte den Salat in die Schleuder, als wäre es dreckige Wäsche. „Übrigens sind gerade neue Gäste reingekommen.“

„Bin schon unterwegs“, stöhnte Antonio und folgte Amore, der mit wackelndem Hinterteil ins Café lief. Von einer Sekunde zur nächsten war seine Laune so ziemlich im Keller.

Ja, bei ihm herrschte Notstand. Tran Hang war zwar in greifbare Nähe gerückt, aber sie lag eben noch nicht in seinem Bett. Und solange sie das nicht tat, konnte er nicht mit ihr schlafen. Und solange er nicht mit ihr schlafen konnte, schossen nun mal seine Hormone kreuz und quer und verlangten nach ihrem Recht.

Noch zwei Stunden bis Schichtende. Eine Gruppe Schulmädchen schneite ins Café, Flirtmaterial ohne Ende, doch Antonio fieberte einfach nur dem Moment entgegen, in dem er die Kellnerschürze abbinden und Feierabend machen konnte. Er hatte keine neue Verabredung mit Tran Hang getroffen, das hätte seiner Taktik widersprochen, die Mädchen ein wenig zappeln zu lassen, aber vielleicht würde sie sich ja zu einem Spontan-Rendezvous überreden lassen.

Kurz vor sechs löste ihn die neue Aushilfe Ben ab, fünf nach sechs stieß Antonio mit frisch gegelten Haaren die Tür zum Saigon auf und erschnupperte einen Moment lang die Geruchsmischung aus Sojasoße und Fisch. Ein paar Gäste warteten auf Barhockern an der Fensterfront des Imbisses; Tran Hangs Vater stand in der Kochnische am Herd und warf geraspeltes Gemüse in brutzelndes Öl. Von seiner Tochter keine Spur.

„Ja, bitte?“ Der Vietnamese griff nach der Sojasoße und würzte das Gemüse mit weit ausholenden Gesten.

„Ich möchte zu Tran Hang.“

„Nicht da.“

Jetzt hob der schon ergraute Mann endlich den Kopf, allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde (Stirnrunzeln; noch größeres Stirnrunzeln, als er Antonio erkannte), schon widmete er sich wieder seiner Gemüsepfanne und nuschelte: „Hof. Laden für T-Shirts.“

Ende der Durchsage.

Antonio bedankte sich höflich – der Mann schien aus unerfindlichen Gründen nicht besonders gut auf ihn zu sprechen zu sein –, dann verließ er das Saigon und tauchte bloß zwei Sekunden später in den Hinterhof ein.

 

 

 

modell versager

Antonio liebte seinen Kiez, den Prenzlauer Berg, und inzwischen mochte er auch den Hinterhof, auf den man durch den Torbogen zwischen dem kitchen und dem Saigon gelangte.

Vor einigen Jahren war hier noch alles grau und marode gewesen (allein aus diesem Grund war Antonio ein paar Straßen weiter in eine hübsch renovierte und dennoch bezahlbare Wohnung gezogen), doch nach und nach hatten die Besitzer das Vorderhaus und die beiden Seitenflügel renoviert und hellgelb getüncht. Nur das Gartenhaus, in dem sich Karl mit Antonios Exaffären Ebbi und Helen WG-technisch eingenistet hatte, moderte immer noch im alten Stil vor sich hin.

Ein bunt gemischter Haufen bevölkerte den Hof: Studentinnen und Studenten, ältere Damen und Familien, Ehepaare mit viel Schotter, Ehepaare mit wenig Schotter, alleinerziehende Mütter mit meistens gar keinem Schotter – daneben gab es einige wenige skurrile Lokale und Läden, die Anwohner und Touristen gleichermaßen anlockten. Dazu gehörten natürlich der Vietnamese, das Saigon, und das Café kitchen im Vorderhaus. Im Innenhof befand sich im linken Seitenflügel die Boutique chic-y-micki, direkt gegenüber im rechten Seitenflügel die Kondomerie rosarot, um die Antonio bisher jedoch immer einen großen Bogen gemacht hatte. Wenn er Kondome brauchte, kaufte er sie in irgendeiner anonymen Drogerie, möglichst in einem anderen Kiez. Sein bester Freund Jupp nannte das verklemmt, er selbst fand es bloß diskret. Schließlich ging sein Kondomverbrauch niemanden (und schon gar nicht die Nachbarn) etwas an.

Noch vor ein paar Wochen hatte Antonio den Wohnungsmarkt geprüft – vielleicht sollte er doch in diesen quirligen Hinterhof umsiedeln? –, aber die renovierten Wohnungen in den Seitenflügeln waren ohnehin nicht frei und hätten überdies sein Budget gesprengt. Die erschwinglichen Wohnungen im Gartenhaus – zwei standen sogar leer – schieden mangels Komfort aus. Kohlen schleppen? Nein, danke. Antonio liebte es modern, warm und sauber, und er war auch kein Fan von skurrilen Tapeten und Kacheln aus längst vergangenen DDR-Zeiten.

Wie ein Kater auf Beutezug pirschte er sich an die Boutique chic-y-micki ran und bezog unauffällig/pfeifend/ab und zu den Kopf in den Himmel reckend Stellung vorm Schaufenster. In der Vitrine schwebten schwarze T-Shirts, bloß mit einer Wäscheklammer an einem Draht befestigt. Auf jedem stand ein anderes Zitat von Dichtern und Denkern aus früheren Jahrhunderten. Am besten gefiel Antonio der Schriftzug: Erfüllung ist der Feind der Sehnsucht. Das kannte er: Hatte er ein Mädchen erst mal im Bett gehabt, war der Zauber des ersten Mals dahin, und er fühlte sich rasch eingeengt. Sehnsucht gab es zwar immer noch, aber nicht mehr nach ihr. Eher nach etwas, das größer, höher, eben bedeutsamer war als eine Bettgeschichte – nur was das sein sollte und wo es zu finden war, wussten allenfalls die Götter. Antonio hatte jedenfalls nicht die leiseste Ahnung. Ihm war nur klar, dass er Tran Hang endlich rumkriegen musste, bevor er richtig heftigen Notstand bekam und alle Welt ihm das womöglich noch an der Nasenspitze ansah.

Im Innern der Boutique bewegten sich schemenhafte Gestalten. Eine von ihnen war klein und zierlich wie Tran Hang.

„Amore, du wartest hier!“, befahl er, drückte die Klinke runter und hatte im selben Moment die zündende Idee. Die Vitrine war originell dekoriert, das musste Antonio der Ladenbesitzerin lassen, trotz allem fehlte der gewisse Kick. Ein paar seiner Schuhobjekte, die er – begnadeter Freizeitkünstler – an verregneten Abenden herstellte, und das Schaufenster wäre wirklich perfekt.

Ein siegesgewisses Lächeln umspielte Antonios Lippen, als er die Boutique betrat. Jepp! Er befand sich auf der Zielgeraden! Nicht nur, dass er endlich einen Ausstellungsraum für seine Kunst gefunden hatte, Tran Hang würde unter Garantie mächtig beeindruckt sein und sich bestimmt noch am selben Abend freiwillig die Kleider vom Leib reißen.

„Hallo, Herr Nachbar!“ Die Ladeninhaberin – sie war auch gleichzeitig die Designerin der T-Shirts und zudem Jolkas Stiefmutter – stand wie hergezaubert vor ihm. Tran Hang war nirgends zu sehen. „Möchten Sie sich bloß umsehen, oder kann ich Ihnen etwas zeigen?“

„Um es kurz zu machen.“ Antonio räusperte sich. „Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten.“ Himmel, wieso redete er nur so hölzern?

„Einen Vorschlag?“ Die Frau wirkte auf einmal so kühl wie ein Eisspender in der Mittagshitze eines italienischen Dorfes im Hochsommer.

Ratsch – wurde der Vorhang der Kabine zur Seite gezogen, und Tran Hang trat in einem schwarzen T-Shirt heraus. Auf ihren Brüsten stand in goldenen Lettern: Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung.

„Hi, Antonio“, sagte sie, wobei die zwei Wörter mit einem Fragezeichen ausklangen.

„Hi!“ Antonio reckte den Daumen seiner rechten Hand in die Luft. „Steht dir super!“ Wie gut, dass der Spruch auf ihrer Brust exakt zu dem Vorhaben passte, das er noch heute in die Tat umzusetzen gedachte.

Tran Hang lächelte geschmeichelt und fragte: „Auch auf der Suche nach einem T-Shirt?“

„Nein“, schaltete sich die Designerin ein. „Er möchte mir einen Vorschlag unterbreiten. Da bin ich jetzt aber mal sehr gespannt.“

„Also, ähm, es geht um Folgendes“, stotterte Antonio. Die Boutiquebesitzerin und Tran Hang brachten ihn mit ihren Röntgenblicken aus dem Konzept. „Ich bin Künstler.“

„Aha? Ich dachte, Sie sind Kellner im kitchen. Oder haben Sie dort einen Doppelgänger?“

„Nein, das bin schon ich. Nur meine Hauptbeschäftigung“, log er, „sind Schuhobjekte. Frauenschuhe. Als Material verwende ich Kork.“

„Oh, wie interessant!“, rief die Designerin aus, und Tran Hang fügte hinzu: „Das hast du mir ja nie erzählt!“

„Man geht schließlich nicht mit seinen Talenten hausieren.“ Antonio hüstelte bescheiden, eine Verlegenheitsgeste, die er sich bei der Hauptdarstellerin einer Telenovela abgeguckt hatte. Dann wandte er sich wieder an die Ladenbesitzerin. „Ich habe gerade Ihr Schaufenster ein bisschen genauer unter die Lupe genommen, und da ist mir aufgefallen ... Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Die Idee mit dem Draht und den Wäscheklammern ist grandios.“

„Aber –?“

„Meine Kunstobjekte würden sich in Ihrer Vitrine hervorragend machen.“

Stille. Antonio hörte nur sein eigenes Herz pochen. War Tran Hang beeindruckt? Riss sie sich im Geiste schon ihre Klamotten vom Leib?

„Ich würde natürlich kostenlos ausstellen“, fuhr er mit gepresster Stimme fort. „Die Konditionen bei eventuellem Verkauf wären noch auszuhandeln.“

Doch irgendetwas schien verquer zu laufen, denn die Designerin machte plötzlich ein Gesicht, als hätte Antonio ihr angeboten, ihre Vitrine mit Kuhfladen zu dekorieren. Es zuckte ein paar Mal um ihre Mundwinkel, und sie erklärte: „Tut mir leid, aber wenn Sie ausstellen wollen, müssen Sie sich schon eine Galerie suchen. Außerdem mein Fenster bereits perfekt dekoriert.“ Sie lächelte eisig, dann wandte sie sich wieder Tran Hang zu: „Ein bisschen zu groß, oder? S dürfte reichen. Soll ich Ihnen eins aus dem Lager holen?“

„Sehr gern.“

Die Designerin verschwand hinter einer rosa verputzten Tür, und Antonio kam sich wie der größte Schwachkopf Berlins vor.

„Hm“, machte Tran Hang bloß und zog ihre Schultern ruckartig hoch. Dabei rutschten auch alle Wörter (ausgenommen der Versuchung) hoch und saßen nun oberhalb ihrer Brustwarzen.

Blamiert, dachte Antonio. Ganz bestimmt war er für Tran Hang jetzt nicht mehr die Versuchung, der sie nicht widerstehen konnte, sondern bloß ein durchs Universum irrender Vollidiot.

Also steuerte er, seine Sonnenbrille geschäftig auf- und wieder absetzend, auf den Ausgang der Boutique zu. Dann würde er sich eben etwas anderes einfallen lassen müssen, um Tran Hang in sein Bett zu locken.

Amore kratzte und jaulte inzwischen an der Tür; immerhin einer, der ihn bedingungslos liebte.

„Du gehst schon?“

Antonio fuhr herum und sah, dass Tran Hang Kummerfalten auf der Stirn hatte. Seinetwegen? Weil er das Modell Versager war und jedes weibliche Wesen gar nicht anders konnte, als in seiner Gegenwart in tiefe Trauer zu verfallen? Oder weil sie einfach noch gern einen Kaffee mit ihm getrunken hätte?

„Si, chiara, hier will ja keiner meine Kunst.“

„Aber ich will. Ich spreche mit Papa. Der stellt deine Schuhe ganz bestimmt in seinem Imbiss aus.“

Kaum hatte sie ihren Satz mit einem heftigen Kopfnicken beendet, machten sich bei Antonio gewisse Körperteile unterhalb des Bauchnabels selbstständig. Papa ..., Schuhe ..., Imbiss ... Nicht dass ihn solche Wörter anturnten, es war vielmehr die Art, wie Tran Hangs Zunge beim Sprechen zwischen ihren leuchtend rot geschminkten Lippen hervorblitzte.

„Hey, super“, sagte Antonio wie chloroformiert, wobei ein Areal seines Gehirns mit einem mittelschweren Panikschub reagierte. Seine Kunstwerke in einem Imbiss – mit Bratenfett bespritzt und besudelt! Andererseits war dies eine hervorragende Gelegenheit, Tran Hang in seine Wohnung zu locken, ihr seine Kunstwerke zu zeigen und danach ...

„Vorschlag“, sagte er, einer inneren Eingebung folgend. „Sieh dir meine Schuhobjekte erst mal an, bevor du deinen Vater fragst.“

„Gerne.“ Tran Hang lächelte so zuckersüß wie ein glasiertes Törtchen. „Wann?“

„Heute Abend? Ich könnte uns eine bella Pasta kochen. Ti piacerebbe burro e salvia?“

„Pasta ist immer gut, aber heute geht es leider nicht.“

„Morgen?“

Tran Hang machte eine bedauernde Geste. „Ich kann erst am Wochenende.“

Da Geräusche hinter der rosafarbenen Tür zu hören waren, beeilte sich Antonio, die Verabredung festzuklopfen. „Also Samstag um sieben?“

„Abgemacht.“ Tran Hang deutete auf das Wort Versuchung, das sich in diesem Moment bloß einen Zentimeter oberhalb ihrer Brustwarzen befand. „Ich ziehe dann auch mein neues T-Shirt an.“

„Darum möchte ich doch sehr bitten.“ Besser noch, du ziehst es gleich aus, fügte er in Gedanken hinzu.

Okay, er war vielleicht ein Macho-Arsch.

Aber er war es gerne.

 

 

 

frauenversteher trifft männermordendes mädchen

Es wurden vier zähe, freudlose Tage.

Da die Aushilfe Ben krank geworden war, blieb Antonio nichts anderes übrig, als Doppelschichten zu schieben; seine Chefin Anka blaffte ihn an, weil er Karl angeblich vom Arbeiten abhielt, und seine sonstige Lieblingsbeschäftigung, Mädchen anzuflirten, verkniff er sich besser vor dem Tag X. Die Vergangenheit hatte ihn gelehrt, dass man lieber nicht auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzte. Das stiftete nur Chaos, schlimmstenfalls ging es komplett nach hinten los. Wie damals, als er mit Karls Mitbewohnerinnen Ebbi und Helen gleichzeitig etwas angefangen hatte ... oje, und dann war da auch noch die blonde Karina mit im (Liebes-)Spiel gewesen ... Nicht ganz die feine Art, das wusste er ja selbst, aber er war ja auch gebührend dafür bestraft worden. Sein lieber Kollege Karl hatte in seiner Mutter-Teresa-Art nämlich dafür gesorgt, dass die Viererkiste aufgeflogen war, und er ... Ach, Schwamm drüber. Besser, er dachte einfach nicht mehr daran, dass ihm irgendjemand (insgeheim tippte er auf die alte Peschke aus dem Gartenhaus) lauter alte Weiber auf den Hals gehetzt hatte ... Gleichwohl war es ihm eine Lehre gewesen, und er hatte in den letzten Monaten – wenn überhaupt – jeweils bloß ein Mädchen beglückt.

Dann war endlich Samstag, und Antonio sprintete sofort nach der Arbeit in den Supermarkt, um für den Abend einzukaufen. Fertigravioli, Salat aus der Tüte, Wein und Sekt; außerdem besorgte er beim thailändischen Blumenstand eine Straße weiter Tulpen. Aus Erfahrung wusste er, dass sich die Investition lohnen würde. Mädchen liebten Blumen. Sie liebten sie besonders in Jungs-Behausungen. Vielleicht, weil sie Lotterhöhlen erwarteten – versifft/verdreckt/verkommen – und dann umso überraschter waren, dass da jemand in ihr Leben getreten war, der nicht nur wohnte, sondern lebte. Männliche Wesen, die Wert auf die Gestaltung ihrer Wohnung legten (so dachten sie bestimmt), konnten nur sensibel und einfühlsam sein, bestenfalls waren sie Frauenversteher und überdies die besseren Liebhaber. Also hatte Antonio meistens Blumen in der Wohnung, wenn er Mädchenbesuch (mit Option auf ein Schäferstündchen) erwartete.

Wenig später zu Hause brach Hektik aus. Er hatte gerade noch eine Dreiviertelstunde bis zu seiner Verabredung, eigentlich viel zu wenig Zeit, um die Wohnung aufzuräumen, Amore zu füttern, die Fertigravioli aufzuwärmen und die Verpackung verschwinden zu lassen, den Tisch zu decken und zu duschen. Also gab er ordentlich Gas: Er hastete, tat und machte und sah sich schon im Endspurt, als er Viertel vor sieben eingeseift in der Dusche stand – das Aufwärmen der Ravioli würde ratzfatz gehen –; doch dann klingelte es plötzlich an der Tür. Das konnte nur Tran Hang sein!

„Vengo subito!“, rief Antonio und wusste doch, dass das Mädchen ihn unmöglich hören konnte. Fluchend stolperte er aus der Wanne, stieß sich dabei das Schienbein, und als er es endlich geschafft hatte, sich das Handtuch umzuwickeln, klingelte es erneut. Diesmal Sturm.

„Ja, ich komm ja schon!“ Unter dem andauernden Gebimmel der Türglocke hastete er über den Flur, wobei sich sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde in dem goldumrandeten Spiegel neben der Eingangstür verfing. Das, was er sah, fand er gar nicht mal so übel. Die Haare hingen ihm nass und wirr ins Gesicht, Wassertropfen perlten in seinen Wimpern, und seine Brustbehaarung – hey –, die war sowieso der Knüller.

Schwungvoll riss er die Tür auf. „Hi! Hallo!“

„Hi, hallo“, echote Tran Hang. Wie sonst auch waren ihre Lippen leuchtend rot geschminkt, doch statt ihm entflammt in die Arme zu sinken, taumelte sie rückwärts. „Bin ich zu früh?“