Cover

Susanne Fülscher

Suche Prinz, biete Macho!

Edel Elements

Über das Buch:

Rumknutschen und das war's? Jolka ist 17, hat die Nase voll von halbherzigen Beziehungen und sehnt sich nach der großen Liebe: einem tollen Jungen, mit dem sie vielleicht auch endlich ihr erstes Mal erleben könnte! Prompt lernt sie auf einer Berliner Modenschau den süßen und sympathischen Pedro kennen. Doch ist er wirklich der Traumprinz, den Jolka sucht? 

sex ohne sex = sex?

Image„Unsinn“, beharrte Bruni. „Knutschen hat mit Sex genauso viel zu tun wie Schokolade mit sauren Gurken. Nämlich gar nichts.“

„Ach ja? Seit wann denn das?“ Jolka steckte sich ein Lebkuchenherz in den Mund, das erste in diesem Jahr – es war gerade mal September.

„Schon immer! Frag mal unsere Vorfahren. Die lieben Höhlenmenschen und Steppenbewohner.“

Jolka nahm sich ein zweites Herz, dann ruckelte sie auf ihrem alten Theatersessel hin und her, um die bequemste Position zu finden. „Du willst also ernsthaft behaupten, dass Rummachen kein Sex ist?“

„Natürlich“, sagte Bruni und warf einen andächtigen Blick auf die Modefotografien, die über Jolkas Bett hingen. „Küssen, knutschen, fummeln – das ist gerade mal eine Vorstufe davon.“

Jolka beugte sich vor und lachte so laut, dass Krümel aus ihrem Mund schossen. „Also wenn Petting kein Sex ist …“, sie verschluckte sich beinahe an der Lebkuchenmasse in ihrem Mund, „will ich auf der Stelle Frau Peschke heißen.“

Frau Peschke war eine Dame älteren Datums, die den Berliner Hinterhof, in dem sie wohnte, ständig mit dem Hildegard-Knef-Song Für mich soll’s rote Rosen regnen beschallte.

„Ja, lach du nur.“

„Okay, was ist denn deiner Ansicht nach Sex?“, fragte Jolka, nachdem sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte. „Das Kamasutra rauf- und runterturnen?“

„Also Sex …“ Bruni versank eine Weile in ihren gewichtigen Gedanken, um kurz darauf bloß lapidar festzustellen: „Richtigen Sex hatten wir noch nicht.“

Das stimmte. Jolka und ihre Freundin waren noch Jungfrauen, und je länger dieser Zustand andauerte, desto mehr beunruhigte es zumindest Jolka, dass sie trotz der Sex-Flut in Zeitschriften und Büchern nicht so recht wusste, was genau auf sie zukommen würde. Ein unvergleichlicher Spaß, netter als Pizza essen gehen, Party und Modenschau zusammen? Oder ein Desaster, das man danach jahrelang in Schrei- und Lachtherapien verarbeiten musste? Wenn sie ehrlich war, hatte sie so oder so Angst davor – Angst vor dem ersten Mal …

„Poppen, pimpern, vögeln“, fuhr Bruni jetzt auch einen Keks mümmelnd fort. „Welches Wort gefällt dir eigentlich am besten?“

„Gar keins.“

„Ficken?“

„Igitt, wie ordinär!“

„Wie prüde bist du denn!“, ereiferte sich Bruni, aber Jolka zeigte ihr nur einen Vogel. Es ärgerte sie maßlos, dass ihre Freundin so dick auftrug. Als sei sie mit allen Wassern gewaschen und zu jeder Schandtat bereit. Dabei war es eher andersherum. Immerhin hatte Jolka im letzten halben Jahr mit drei Jungen was am Laufen gehabt, Bruni bloß mit einem einzigen.

Mit gekrauster Stirn angelte sich Bruni nun drei Lebkuchenherzen auf einmal aus der Tüte. „Ich bleibe jedenfalls dabei. Alles, was kein Geschlechtsverkehr ist, ist auch kein Sex.“

„Und was ist mit Selbstbefriedigung und …“ Es kostete Jolka einige Mühe, den Ausdruck über die Lippen zu bringen, „es jemandem mit dem Mund machen?“

„Kein Sex.“ Bruni kaute angestrengt. „Na gut, sagen wir Antipasti-Vorspeisen-Sex.“ Bruni wollte sich über ihren eigenen Ausdruck schier kaputtlachen. „Das, was deine Mütter miteinander machen, sind übrigens auch nur … ähm … halbe Sachen.“

Jolka fuhr entrüstet aus dem Theatersessel hoch und riss das Fenster auf. Ein Schwall feuchtschwüler Frühherbstluft schwappte ihr entgegen. Dann drehte sie sich wieder zu Bruni um.

„Nein, nur realistisch.“

„Was meine Mütter im Bett machen, geht dich einen Dreck an, verstanden?“ Aus dem Augenwinkel sah Jolka, wie sich Bruni die Finger ableckte und schon wieder in die Tüte griff. Es war unfair von ihr, ausgerechnet beim Thema Sex ihre Mutter und deren Lebensgefährtin Sabine ins Feld zu führen. Unfair und zudem verletzend.

Jolka hatte den Großteil ihres Lebens ohne ihren Vater verbracht. Na und? Es war eben, wie es war. Die Eltern hatten sich bereits kurz nach ihrer Geburt getrennt, sie kannte ihren Erzeuger nicht mal und wollte den Kerl, der ohne mit der Wimper zu zucken zu seiner neuen Frau nach Kanada gezogen war, sowieso nicht kennen lernen. Wozu auch? Sie hatte ja Sabine. Sechs Jahre waren sie und ihre Mutter nun schon ein Paar, ein glückliches dazu – die beiden turtelten immer noch ganz verliebt herum und liefen mit Herzchen in den Augen durch die Gegend. Manche in der Schule hatten es cool gefunden, andere bis zum Abwinken gelästert. Aber es interessierte Jolka nicht. Nicht mehr. Sie liebte ihre Mütter, so wie sie waren, und trug ihren Mir-kann-keiner-was-Panzer mit Würde.

Bloß ein einziges Thema war tabu:

SEX!

Genauso wenig, wie Bruni vermutlich die Vorgänge ihrer Eltern unter deren Bettdecke interessierten, wollte Jolka wissen, was ihre Mutter und Sabine in Sachen Liebe alles so anstellten. Sie wollte nicht mal einen Gedanken daran verschwenden, ob sie überhaupt irgendwas miteinander anstellten, das unter den Oberbegriff Sex fiel.

„Erzähl mal. Welche Praktiken bevorzugen denn deine Eltern?“, giftete Jolka in der Hoffnung, dass bei Bruni der Groschen fiel.

„Spinnst du?“ Das Blut schoss ihrer Freundin ins Gesicht.

Volltreffer.

„Nicht weniger als du“, sagte Jolka jetzt schon entspannter.

Bruni riss die Lebkuchentüte ganz an sich und knisterte damit herum. „Okay, lassen wir das Thema. Frieden?“

„Frieden.“

Jolka wollten keinen Stress mit ihrer besten Freundin. Es war schon hart genug, dass sie sich seit Brunis Wegzug aus Prenzlauer Berg nur noch so selten sehen konnten. Warum hatten sich ihre Eltern auch ausgerechnet Wildau, den südöstlichsten Zipfel Berlins, aussuchen müssen?

„Also ich hätte jetzt richtig Lust auf eine Currywurst“, erklärte Bruni.

„Haben wir nicht im Angebot. Leider.“

„Aber wir könnten zum Alexanderplatz fahren.“ Bruni bewarf Jolka, die wie regungslos am Fenster stand, mit der inzwischen leeren Tüte. „Keine Lust?“

„Nein!“, stieß Jolka wie (von zu vielen Lebkuchenherzen) berauscht hervor. „Ich will keine Currywurst, ich will mich endlich richtig verlieben!“

„Verlieben? Wie verlieben?“, fragte Bruni, als sei das etwas, das so in der Menschheitsgeschichte noch nicht vorgekommen war.

„Mit Haut und Haaren!“

„Aha.“ Bruni sah irgendwie ziemlich verwirrt aus. „Aber … wie kann man sich das vornehmen? Entweder es passiert, oder es passiert eben nicht.“

Jolka zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Ich finde nur dieses ewige Rumgemache auf Dauer öde. Noch ein Typ und noch ein Typ …“

„Ich dachte, es macht dir Spaß!“

„Ja, schon … Aber wenn du irgendwann feststellst, dass aus der Sache sowieso nichts werden kann … Wozu sich dann unnötig verausgaben …“

„Um die Vorstufe von Sex zu üben?“, witzelte Bruni, doch Jolka überging den Scherz.

„Ich rede ja nicht mal von der großen Liebe. Eine kleine oder sagen wir mittelgroße Liebe würde mir schon reichen.“

„Die große Liebe …“ Bruni pumpte ihre Backen auf und ließ die Luft zischend wieder raus. „Die trifft man sowieso nicht öfter als ein- bis zweimal im Leben.“

„Wer sagt das?“

„Steht das nicht in deinen gehirnlosen Modezeitschriften?“

Jolka tippte sich gegen ihre Stirn. Zugegeben, sie interessierte sich für Mode und las auch entsprechende Zeitschriften – Beweis dafür war der hüfthohe Stapel neben ihrem Bett –, dennoch waren die Artikel darin nicht das Evangelium.

„Okay, wenn deine These stimmt“, sagte sie, „könnte der Erste ja langsam mal kommen. Der Zweite taucht dann im nächsten Lebensjahrzehnt auf, und ab dreißig ist sowieso alles vorbei.“

Die Freundinnen gackerten wie die Hühner, doch dann wurde Bruni schlagartig ernst und rieb sich angestrengt die Schläfen. Als sie gar nicht mehr damit aufhören wollte, fragte Jolka, ob sie eventuell den Notarzt rufen solle.

„Karl“, sagte sie wie weggetreten. Und noch einmal: „Karl.“

„Was ist mit Karl?“

„Du könntest dich in Karl verlieben. Nur mal zum Beispiel.“

„Und du dich in den Weihnachtsmann!“, schoss Jolka zurück.

Aber Bruni blieb ganz ruhig und lächelte bloß wie eine Madonna. Selig, himmlisch, einfach ätzend. „Ich verstehe dich nicht“, sagte sie. „Karl ist nett.“

„Ja, nett und alt und ein Neutrum! Ein Kumpel-Typ eben – mehr nicht!“

„Alt? Er ist gerade mal zwei Jahre älter als du! Und wenn du bedenkst, dass Männer in ihrer Entwicklung sowieso um Jahre hinterherhinken, ist er fast noch zu jung!“

„Hast du nicht zugehört?“, schimpfte Jolka. „Er ist ein Neutrum! Allein die Vorstellung, ihn zu küssen … Himmel!“

„Probier es aus. Vielleicht haut es dich ja um.“ Bruni leckte sich albern über ihre Lippen. „Als er uns neulich die Salate an den Tisch gebracht hat, hat er wahnsinnig lecker gerochen.“

„Ja, nach Schweiß.“

„Nein, nach Zitrone.“

„Dann probier du ihn doch aus! … und sag mir später, ob Fisch- und Kartoffelsalat-Aroma auch noch mit in seiner Duftnote vertreten sind!“

Jolka reichte es langsam. Sosehr sie ihre Freundin mochte und es zu schätzen wusste, dass sie extra ihretwegen mit der S-Bahn durch die halbe Stadt gegondelt war, ihre Art, sich ständig einzumischen, nervte. Also beendete Jolka das spätsommerliche Lebkuchenessen recht uncharmant, indem sie vorgab, noch einen Batzen Hausaufgaben erledigen zu müssen. Und Bruni ging (wenn auch nur, um nicht zu spät zu ihrer Fußballgruppe zu kommen).

Karl.

Er war nett, charmant und witzig, konnte zuhören und las einem jeden Wunsch von den Lippen ab – kurzum, er war ein Traum. Ein neutraler Traum. Ein Traum von Kumpel und Koch. Er war Ersatzfreundin, Beichtschwester und Ratschlaggeber. (Soweit sie ihn überhaupt kannte. Denn schließlich waren sie keine Busenfreunde. Karl kochte zwar schon seit ein paar Monaten in dem Café ihrer Mutter, aber ihr Kontakt beschränkte sich auf Smalltalk zwischen Tür und Angel und hin und wieder mal einen Witz reißen.) Auf jeden Fall erfüllte Karl sowieso schon mehr Funktionen, als man von einem männlichen Wesen in der Regel erwarten konnte. Aber küssen wollte Jolka ihn nicht, und das gehörte ja schließlich dazu, wenn man darauf aus war, sich zu verlieben. Dann schon eher Antonio, Karls Kollege im Café kitchen, das gleich, wenn man den Hinterhof verließ, auf der linken Seite lag … Aber Moment … immer hübsch der Reihe nach …

ein paar wichtige (hinterhof-)fakten

Image Jolka liebte ihren Hinterhof.

Er befand sich im Ostteil Berlins, genauer gesagt in Prenzlauer Berg. Vor einigen Jahren war hier noch alles grau und marode gewesen (kein Ort, an dem man freiwillig leben wollte), aber nach und nach hatten die Besitzer das Vorderhaus und die beiden Seitenflügel renoviert und hellgelb getüncht. Nur das Gartenhaus moderte noch vor sich hin.

Ein bunt gemischter Haufen bevölkerte den Hof: Studentinnen und Studenten, ältere Damen und Familien, Ehepaare mit viel Schotter, Ehepaare mit wenig Schotter, allein erziehende Mütter mit meistens gar keinem Schotter – daneben gab es ein paar wenige skurrile Lokale und Läden, die Anwohner und Touristen gleichermaßen anlockten. Gleich im Vorderhaus befand sich der Vietnamese Saigon, bloß ein paar Schritte davon entfernt das Café kitchen, bestückt mit Küchenmobiliar aus den 50er Jahren, das Jolkas Mutter Anka bewirtschaftete.

Im Innenhof, im linken Seitenflügel direkt unter ihrer Wohnung, hatte Jolkas Zweitmutter Sabine – Designerin von Beruf – einen T-Shirtladen mit dem Namen chic-y-micki eröffnet. Dies war ihr kreatives Reich. Hier entwarf, nähte und verkaufte sie die T-Shirt-Linie Bine-x. Das alles genau gegenüber von der Kondomerie rosarot, einem quietschbunten und ein wenig schlüpfrigen Geschäft, an dessen Schaufensterscheibe sich oft ganze Schulklassen kichernd die Nase platt drückten.

Aber zurück zum kitchen, dem Ort des Lasters, der Orgien und der wüstesten Schönlinge weit und breit …

Na ja, nicht ganz.

Neutrum Karl war hier der Chefkoch und fiel mit seinem blässlichen Aussehen nicht unbedingt in die Kategorie Schönling. Dafür umso mehr Antonio, der seit einigen Monaten als Ankas Kellner den weiblichen Gästen scharenweise den Kopf verdrehte.

Antonio, hach! Er sah einfach umwerfend aus, die perfekte Mischung aus Don Juan und Gigolo. Wahrscheinlich küsste er auch so. Und noch wahrscheinlicher war, dass es sich bei ihm um den Typen handelte, in den sich Jolka endlich verlieben sollte. Mit Haut und Haaren und allem Drum und Dran. Egal, was ihre Mutter Negatives über ihn zu vermelden hatte (Antonio? Ach, der verschleißt doch ein Mädchen nach dem anderen!). Wahrscheinlich wollte sie sowieso nur verhindern, dass wieder mal ein neuer Junge in das Leben ihrer Tochter trat.

okay, okay …

Image … so viele Kerle waren es nun auch wieder nicht gewesen. Eigentlich bloß drei, nacheinander im Februar, Mai und August, aber bei keinem von ihnen hatte sich letztlich das besondere Prickeln eingestellt.

Weder bei

– Piet aus ihrer Klasse (Engtanz, Zungenküsse, Busen anfassen),

– noch bei Johann aus Brunis Fußballverein (Tanzen, Zungenküsse, ein bisschen den Bereich jenseits der Unterhose des jeweils anderen ausloten)

– und schon gar nicht bei Alex aus der Parallelklasse (sabberige, abturnende Küsse).

Und jetzt, kaum zwei Wochen nachdem es mit Alex aus war, fuhr Jolka nach einem kritisch-intensiven Beobachtungsnachmittag im kitchen voll und ganz auf Antonio ab. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er sie in seine Arme schließen, küssen würde und … Moment, Stopp. So sicher war sie sich nun auch wieder nicht, dass sie tatsächlich ihr erstes Mal mit ihm hinter sich bringen wollte. Antonio sah verdammt gut aus, keine Frage, er machte auch den Eindruck, als ob er es draufhätte, aber … er war tatsächlich alt. Vermutlich schon weit über 20, und sicher würde er sich totlachen, wenn er erfuhr, wen er vor sich hatte: eine Jungfrau!

Obwohl Jolkas aktuelle Gefühlslage es verlangte, dass sie jeden Tag nach der Schule das kitchen belagerte, den Ort, an dem Antonio ganz sicher anzutreffen war, tat sie es nicht. Das hatte einen ganz bestimmten Grund: ihre Mutter. Bestimmt hätte sie den Braten gerochen und mit den abschreckendsten Geschichten über Antonio aufgewartet (die Jolka aber keinesfalls hören wollte). Also sah sie sich gezwungen, auf andere Weise an ihn ranzukommen, sprich, eine überaus raffinierte Anbaggerstrategie zu entwickeln, die als solche jedoch nicht zu erkennen war.

Bruni musste helfen. Bruni mit ihren Geistesblitzen. Die war zwar nicht gerade erbaut, dass es unbedingt dieser Möchtegern-Casanova sein musste, half aber trotzdem beim Nachdenken und hatte schließlich sogar die zündende Idee …

Jolka sollte einfach nur heimlich den Dienstplan des Cafés kopieren. Schritt eins. Wenn sie erst einmal über Antonios Schichten Bescheid wusste, war der Rest ein Kinderspiel. Glaubte zumindest Bruni. Doch leider war die ganze Angelegenheit nur fast ein Kinderspiel. Denn alles in allem blieben bloß drei Tage in der Woche, um dem Objekt der Begierde aufzulauern: dienstags, wenn Antonio Spätschicht hatte, und am Wochenende, wenn schulfrei war.

Gleich am ersten möglichen Dienstag ging Jolka das Projekt Antonio angraben an. Nach der Schule raste sie nach Hause, um sich zunächst exzessiven Schönheitsvorbereitungen hinzugeben: Haare mit dem Lockenstab aufpeppen und anschließend mit Haarspray fixieren, Schminke auftragen, und als krönenden Abschluss schlüpfte sie in ihren Aufreißerlook (wie Bruni ihre neue besonders hüftige Hüfthose nannte). So huschte Jolka eine halbe Stunde später in der Hoffnung aus dem Haus, dass niemand ihren Abflug bemerken würde.

Antonio wohnte bloß zwei bis drei Minuten vom kitchen entfernt. Der strategisch günstigste Punkt, ihn abzupassen, war gleich die nächste Ecke, wenn man die Straße rechts runterlief. Dort gab es a) einen Zigarettenautomaten, b) einen Laden mit Modellbauschiffen und c) ein Beerdigungsinstitut. Da Jolka weder rauchte noch ein besonderes Interesse für Sargmodelle hegte, blieb ihr nichts weiter übrig, als minutenlang die Auslagen des Geschäfts mit den Modellbauschiffen zu mustern. Modellbauschiffe fand sie zwar noch unspannender als einen Furz, aber das bisschen Einsatz musste sein.

Wie vorausberechnet bog Antonio sieben Minuten vor drei um die Ecke. Jolka sah ihn aus dem Augenwinkel auf sich zukommen und drehte sich exakt in dem Moment um, als er auf ihrer Höhe war.

„Ach, hi!“, rief sie in gekünstelter Überraschung aus und fuhr sich durch ihre Haare, die sich dank des vielen Haarsprays wie der Panzer eines exotischen Tiers anfühlten.

„Ciao Bella!“ Antonio berührte ihre Schulter, was ihr augenblicklich einen Stromstoß versetzte. Er sah umwerfend aus. „Na, auf wen wartest du denn?“

„Ähm, auf niemanden. Ich guck mir hier nur so das Schaufenster an.“

Antonio warf einen flüchtigen Blick in die Auslagen und bemerkte grinsend: „E la nave va, esatto?“ Es war allgemein bekannt, dass er (von Geburt Norddeutscher) bisweilen gern den Halbitaliener mimte.

„Ja, so ist es“, sagte Jolka, ohne auch nur ansatzweise verstanden zu haben, was er meinte.

Quasi im gleichen Moment hob Antonio seine Hand zum Gruß, dann war er weg.

Mist, verdammter. Warum hatte sie ihn nicht einfach in ein Gespräch verwickelt? Die Themen lagen doch auf der Hand! Schiffsmodelle, Sargmodelle, Zigarettenmarken … Jetzt hieß es wieder von vorne anfangen! Allerdings konnte sie am kommenden Samstag unmöglich erneut vorm Schiffsladen Stellung beziehen. Das wäre einfach nur lächerlich gewesen.

Image

Zu Hause kämmte Jolka als Erstes das Haarspray (und damit die Locken) aus, wischte sich die Schminke ab und zog einen gammeligen Jogginganzug an. Dann rief sie vom unbequemsten Stützpunkt der ganzen Wohnung aus (ihrem heiß geliebten Theatersessel) Bruni an, Ausheulstelle Nummer eins. Ihre Freundin hatte zwar jede Menge interessanter Ratschläge zur Hand (Kommt Zeit, kommt Rat. Liebe muss wachsen. Aufgestylte Tussen sind eh blöd und turnen jeden Mann ab.), schaffte es jedoch nicht, Jolka damit auch nur ansatzweise aus ihrer düsteren Stimmung zu reißen. Ihr Leben war ein Desaster. Und zwar eines, das sie sich auch noch selbst eingebrockt hatte.

Zirka eine Stunde später – ihr war schlecht von der ganzen Tüte Erdnussflips, die sie bis auf den letzten Flip hatte ausmerzen müssen – klingelte es. Wahrscheinlich der Postbote, der Stromableser oder auch ihre Mutter, die zu faul war, den Schlüssel aus ihrer Tasche zu kramen, aber dann stand Antonio vor ihr. Es gab nur zwei Möglichkeiten: sterben oder sich in Luft auflösen. Da beides auf die Schnelle nicht möglich war, hoffte sie zumindest, dass sie bloß halluzinierte.

Fehlanzeige. Antonio war ganz real und ließ seinen Blick amüsiert an ihr rauf- und runtergleiten. Dann erst sagte er:

„Hi! Na?“

„Hi. Na?“, echote Jolka.

„Das soll ich dir von deiner Mutter geben.“

„Was?“ Jolkas Herz hämmerte. Ihre Wangen fühlten sich so heiß an wie bei einem Fieberschub.

„Ach so, ja …“ Antonio kramte ewig lang in seiner Hosentasche herum, bevor er Jolka den Kellerschlüssel reichte. „Sie meinte, wenn die Waschmaschine durch ist … wäre es nett …“

„Wäsche aufhängen, klar, mach ich“, nuschelte Jolka und wedelte mit dem Schlüssel. „Danke!“

„Niente.“ Antonio ging ein paar Schritte rückwärts, dann sagte er wie aus heiterem Himmel: „Forse … Also vielleicht hast du ja mal Lust … mit mir eine Schiffsfahrt zu machen? Auf der Spree.“ Er zog seine Augenbrauen hoch, und zwischen seinen Lippen blitzten schneeweiße Zähne hervor.

Eine Schiffsfahrt auf der Spree, eine Schiffsfahrt auf der Spree, eine Schiffsfahrt auf der Spree … Wie ein kaputter CD-Spieler spulte Jolkas Gehirn immer wieder denselben Satz ab. Erst nach einer längeren Schweigepause stieß sie hervor: „Eine Schiffsfahrt auf der Spree … Klar, warum nicht? Wann?“

„ Sonntagnachmittag? “

„Sonntagnachmittag“, wiederholte sie schon wieder wie ein Papagei und hoffte, dabei nicht allzu verräterisch zu grinsen. „Ja, das ginge. Da habe ich zufällig Zeit.“

So kam es, dass Jolka bloß wenige Tage später eine Schiffsfahrt antrat. Mit dabei waren eine Gruppe aus dem Altersheim, ein Mann mit zwei Zwergpinschern und drei mittelalte Damen in Faltenröcken und Rombenpullovern.

Aber wen störte das schon? Denn was auf der Spree neben den Ah- und Oh-Rufen der älteren Herrschaften so alles abging … hüllen wir lieber einen (blickdichten) Mantel des Schweigens darüber …

eine schiffsfahrt, die ist lustig …

Image „Er hat dir mitten auf der Spree an den Busen gegrabscht?“ Bruni schrie förmlich ins Telefon. „Und du hast es auch noch zugelassen? Gleich beim ersten Treffen?“ Sie japste nach Luft. „Und dann noch, wo die ganzen alten Leute um euch rum waren?“

„Aber Antonio war so süß!“, sagte Jolka wie zu ihrer Verteidigung. „So unglaublich süß! Er hat mir 100 000 Komplimente ins Ohr gesäuselt, und außerdem … Seine Hand war ja nicht mal unter meinem T-Shirt.“

„Trotzdem. Irgendwie ganz schön respektlos.“

„Nun komm mal wieder runter, Frau Nonne Bruni aus Wildau. Ist doch gar nicht groß was passiert!“

Dass ausgerechnet Bruni sich so aufplusterte! Die Frau, die Rummachen nicht mal für Sex hielt …

Als plötzlich Jolkas Mutter ins Zimmer platzte und beinahe über einen Stapel herumliegender Zeitungen stolperte, bot Jolka ihrer Freundin an, sich später nochmal zu melden, und legte auf.

„Du schon hier?“, fragte Jolka. „Überlässt du deinen Jungs ganz allein den Laden?“

„Die schaffen das schon. Wegen einem von beiden wollte ich übrigens sowieso gerade mit dir reden.“

„Aha?“, machte Jolka und hoffte inständig, dass das Attentat nichts mit Antonio zu tun haben würde. Sie konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn sich Erwachsene in die Auswahl ihrer Liebeskandidaten einmischten.

„Ich hab Yogi-Tee gekocht.“

Ihre Mutter ging einfach voraus in die Küche, und Jolka humpelte wie ein lahmender Hund hinterher. „Falls es um die Personalplanung geht … da kann ich dir auch nicht weiterhelfen.“

„Frau Peschke hat dich mit Antonio gesehen.“ Der Blick, den ihre Mutter ihr jetzt zuwarf, war eine einzige Anklage. Als hätte Jolka ihr Lieblingsgeschirr absichtlich zerdeppert. Oder einen Doppelmord begangen. Ausgerechnet die alte Peschke! Konnte die Frau nicht ein Mal ihre Klappe halten?

„Ja und?“ Jolka gab sich betont gelassen und hoffte nur, dass die Hexe nicht zufällig mit auf dem Schiff dabei gewesen war und womöglich mehr mitgekriegt hatte, als allen Beteiligten (Jolka/Antonio/der Rentnergang) lieb gewesen wäre.

„Ich hab’s dir schon mal gesagt, Jolka. Antonio ist zwar ein guter Kellner, aber kein Umgang für dich. Mädchen behandelt er wie den letzten Dreck. Ständig hocken irgendwelche unglücklichen Herzen bei uns im Café, schmachten ihn an und warten auf ein Zeichen von ihm.“ Sie reichte Jolka einen Becher mit Tee. „In diesem Punkt ist er wirklich ein Idiot.“

„Ist nicht jeder Mann ein Idiot für dich?“, provozierte Jolka.

„Ganz und gar nicht.“ Obwohl ihre Mutter allen Grund gehabt hätte, sauer zu sein, lächelte sie zuckersüß wie ein Sahnetörtchen. „Es ist allgemein bekannt, dass Antonio nichts anbrennen lässt.“

„Allgemein bekannt! Seit wann gibst du denn bitte was darauf, was andere Leute sagen?“

„Ich will nur nicht, dass du dein Herz an ihn verlierst und später …“, sie fuchtelte wild mit den Händen in der Luft rum, „abserviert wirst.“

Ihre Mutter nervte. Sie nervte so sehr, dass Jolka grunzend ihren Teebecher auf dem Tisch abstellte und mit den Worten „Ich geh nochmal zu Bine runter“ aus der Wohnung flüchtete. Warum sollte ausgerechnet ihre Mutter über Antonios (angeblich verlottertes) Intimleben Bescheid wissen? Ganz zu schweigen von der alten Peschke, deren letzte Liebeserfahrungen sicherlich auch mehr als zwei Weltkriege zurücklagen.

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chic-y-micki