Cover

Wieland Freund, geboren 1969, lebt mit seiner Familie in Berlin. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihm unter anderem die drei Bände um Törtel, die Schildkröte aus dem McGrün; Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts; Ich, Toft und der Geisterhund von Sandkas sowie Wecke niemals einen Schrat! und Träum niemals von der Wilden Jagd!

Von: Sigurdsdottir, Harpa

DRINNEN

1 Qwip.com

Das Meer rauschte. Die große LED-Kugel an der Decke tauchte den Saal in ein schwaches wasserblaues Licht. Nik kam es vor, als läge er auf dem Grund des Ozeans. Er war wie ein Fisch im Aquarium hinter dem Glas eines Touchscreens.

Er lag ganz still. Nur seine Augen wanderten. Rechts die glatte Kunststoffwand seiner Wabe. Tagsüber war sie strahlend weiß, wie eine leere Leinwand. Jetzt war sie blau vom Widerschein der Filmsequenz, die ihn in den Schlaf gelullt hatte. Auf der LED-Kugel schäumten dieselben drei, vier Wellen, wieder und wieder. Sie waren wie das weit gereiste Licht von Sternen, die es lange nicht mehr gab.

Sein Blick wanderte weiter. Am Fußende seines Betts der Schrank, dessen Tür sich nur auf seinen Daumendruck öffnete; darin die Sneakers, die Jeans, Handtücher mit Qwip.com-Logo und zu viele Qwip.com-T-Shirts. Jeder hatte ein paar Overnight-Sets hier. Nik trug kaum je etwas anderes.

Links von seinem Bett hing das unvermeidliche Quipu in langen, knotigen Schnüren von der Decke herab. Wenn die Sonne durch die Oberlichter schien, war es bunt – rein rot, rein blau, rein gelb, rein grün. Jetzt, im fahlen Licht des Loops, wirkten die Schnüre einfach grau. Bei den Inkas hatten die vielen Knoten als Schriftzeichen gedient. Qwip.com dienten die Schnüre als Logo; jeder Knoten bedeutete Qwip.com. Überall roch es nach dem antistatischen Schaum, mit dem sie die Bildschirme reinigten und wahrscheinlich auch den Fußboden.

Dieselben drei, vier Wellen rauschten wieder heran. Nik lauschte. Bestimmt hatte ihn etwas anderes geweckt.

»Levi? Levi, bist du das?«

Er flüsterte. Marten schlief auch hier, wie fast immer. Konrad hatten sie nach Mitternacht geholt. Von Leroy und Noah wusste er es nicht.

Jetzt hörte Nik ihn hinter dem Quipu atmen.

»Du sollst schlafen, Levi.« Er griff nach seinem Smartphone auf dem Nachttisch und drückte es wach. »Es ist zwei Uhr nachts«, raunte Nik. Das Hintergrundbild zeigte ihn und Levi. Levi lächelte nicht. Levi lächelte nicht für Fotos.

»Ich kann nicht.«

»Dann komm halt her!«

Das Quipu teilte sich wie ein Vorhang. Der viel zu lange blonde Pony hing Levi ins Gesicht. Mit dem blauen Schein der LED-Kugel im Rücken wirkte Levi wie ausgeschnitten. Als wäre er gar nicht hier, sondern in irgendeiner Bluebox irgendeines Fernsehstudios.

»Gehst du noch mal raus mit mir?«, fragte Levi. Er sah Nik dabei nicht an, sondern zupfte am Saum seines ausgeblichenen T-Shirts, das er gegen Niks Willen schon seit drei Tagen trug.

Nik seufzte und setzte sich auf. »Irgendwann erwischen sie uns«, sagte er leise.

»Nicht, wenn wir aufpassen.«

Die Schnüre des Quipu schwangen zurück. Levi stand jetzt an seinem Bett, eine Hand auf Niks Schulter.

»Vielleicht sehen wir die Ratte wieder«, sagte Levi. »Ich würde gern die Ratte wieder sehen.«

Die Schranktür sprang auf und Nik stieg in seine Jeans. Er griff nach den Sneakers, er schnappte sich die Taschenlampe, die er unter den T-Shirts verbarg, weil Levi keine Handys, aber Taschenlampen mochte. Es war eine dumme Idee, aber Levi würde nicht lockerlassen. Und wenn er doch lockerließ, würde er traurig sein, was noch schlimmer war.

»Komm!«

Sie tauchten unter dem Quipu durch und stahlen sich in den Gang. Die Schuhe trugen sie in der Hand. Die Gummisohlen würden auf dem glatten Boden quietschen.

Bis auf die von Marten schienen alle Waben leer. Vermutlich hatte man Leroy und Noah aus dem Schlaf gerissen und hundemüde nach Hause transportiert. Leroys Mutter arbeitete im Controlling, Noahs Mutter in der Personalabteilung, oft bis tief in die Nacht.

Vor den Duschen zweigten sie ab. Links lag die Küche mit ihren bunten Stühlen. Rechts die Mixed Zone mit den bunten Sofas, wo sich die Tablets auf den Couchtischen stapelten und es an jeder Wand riesige Bildschirme für die Konsolen gab. Qwip.com ließ keine Konsolen fertigen, es gab nur ein Browserquiz, das Qwip it! hieß. Die Cheats dafür stammten mehrheitlich von Marten.

Nik streckte einmal den Kopf durch die Tür – nur um sicherzugehen. Der Raum war leer. Unterhalb des Lichtschalters leuchtete das WLAN.

Vor dem Schlafsaal der Mädchen wandten sie sich nach rechts. Im Gang dort gab es nicht weniger als drei Abstellkammern. In der einen brummte der Academy-Server, in der zweiten stapelten sich die Getränkekisten, aber das Fenster ließ sich nur in der dritten öffnen, in deren Regalen Putzmittel und der übliche Kram aufbewahrt wurden: LEDs, Akkus, Kabel und ein paar Dutzend der weißen Kartons, in denen die Netbooks, Smartphones und Tablets angeliefert wurden. Niemand wusste, dass sich das Fenster dort öffnen ließ, nicht mal Marten, der hier von allen am meisten zu Hause war.

Die Academy war, die Q-Zwerge nicht mitgerechnet, für über hundert Schüler ausgelegt, aber so viele Qwip.com-Kinder gab es bei Weitem nicht. Die Deutschland-Zentrale war erst im Aufbau begriffen und die meisten Angestellten waren jung und kinderlos. Bei den Zwergen wurde ein rundes Dutzend Kleinkinder betreut. Von den Großen konnten die meisten abends nach Hause oder wurden, wie Konrad, Leroy oder Noah, irgendwann spätabends abgeholt.

Qwip.com-Angestellte machten fast immer Überstunden. Niks und Levis Mutter kam oft erst tief in der Nacht, um sie zu holen, und nicht selten hätte Nik dann lieber weitergeschlafen. So viel wert war eine halbe Nacht in der eigenen Wohnung auch nicht. Zumal sie die Räume ohnehin nur am Wochenende bei Tageslicht sahen. Dann kamen Nik die Sachen in seinem Zimmer beinahe fremd vor und er wusste nicht viel mit ihnen anzufangen.

Und Levi wollte sowieso nur raus in den Park. Sein Kinderzimmer war ihm so wurscht wie seine Wabe oder sein Smartphone, das er überall liegen ließ. Er hatte nicht mal ein Passwort und qwippte nur, wenn es gar nicht anders ging. Er qwippte nicht mal mit Ma, sodass Nik meist so etwas wie ihr Bote war. Ma hat geqwippt, sagte er dann, obwohl sie den Qwip genauso an Levi geschickt hatte. Aber Levi sah in solchen Momenten nicht mal von seinem Tablet auf, auf dem er Eulenvögel oder Spitzmaus oder Fuchsräude googelte.

Bestimmt, dachte Nik, hatte er das Internet schon wieder die halbe Nacht nach Ratten durchforstet: Hausratten, Wanderratten, Ratten in der Kanalisation, Rattennester in der Stadt. Nik war dieser Eifer manchmal unheimlich, aber andererseits war Levi nur in solchen Momenten Levi und nicht bloß dieser schmale, blasse Junge, den nichts auf der Welt etwas anzugehen schien.

Sie hatten die dritte Abstellkammer erreicht, und Nik drückte behutsam die Tür auf und ließ sich und Levi ein, um die Tür gleich wieder leise zu schließen. Er hätte gern die Taschenlampe benutzt, aber er fürchtete den Sicherheitsdienst. Wahrscheinlich war überhaupt nichts alarmierender als ein einsamer Taschenlampenstrahl in der Nähe eines Serverraums.

Sie schlüpften in die Sneakers und tasteten sich im Dunkeln bis zum Fenster vor. Es lag ziemlich weit oben, und sie mussten jedes Mal einen der vollen Kartons aus dem Regal ziehen, um sich einen Tritt zu bauen.

»Hilf mir mal!« Der Karton war schwer, aber wenn er schwer war, war er auch stabil. Nik stieg als Erster drauf und streckte den Arm nach dem Fenstergriff aus. Es beruhigte ihn jedes Mal, dass Levi nicht bis da oben reichte. Levi war zehn, drei Jahre jünger als er – das gab Nik, vorausgesetzt, dass Levi nicht schneller wuchs als er, noch drei Jahre, in denen Levi nicht allein aus dem Fenster stieg.

Man hatte besser ein Auge auf ihn. Levi war unberechenbar. Es war schlimm genug, dass Nik ihn während des Unterrichts aus den Augen lassen musste. Levi brachte es fertig und schwänzte Webpublishing, um nach einer Ameisenstraße zu sehen, von deren Existenz auf dem Gelände er allein wusste.

»Du zuerst!« Das Fenster war offen. Unklimatisierte Nachtluft drang ein wie ein neugieriges Tier.

Nik stieg vom Karton, um Levi auf das Fensterbrett zu hieven.

»Räuberleiter«, sagte Levi, und weil jetzt das Licht von draußen ins Fenster fiel, konnte Nik ihn lächeln sehen.

Es war eine milde Nacht, vermutlich ohne Sterne, aber die Sterne konnte man hier sowieso nicht sehen. Hinter der Mauer glomm Berlin und über ihnen leuchtete das Space Dock aus tausend Fenstern.

Sie kauerten im Schatten der Academy. Der Bau war flach, halb in die Erde eingegraben und lief wie der Strich eines Q auf das Rund des Space Dock zu, das so hieß, weil es einer Raumstation aus Star Trek nachempfunden war. Ihr Vater konnte begeisterte Vorträge darüber halten, und Marten schaute die alte Serie auch manchmal, aber für Nik sah das Space Dock bloß wie ein riesiger, schimmernder Pilz aus Stahl und Glas aus. Selbst wenn man auf der Academy war, kam man nur in Begleitung seiner Eltern hinein. Und wenn man mal drinnen war, sahen sie einen immer so an, als müsse man ununterbrochen über die Turbolifts und die einer Kommandobrücke nachempfundenen Konferenzräume staunen. Dabei standen ringsum Gebäude, die kaum weniger irre waren. Nur wurden darin keine Apps fabriziert, sondern Roboter oder neue Gen-Sequenzen.

»Ich glaube, die Ratte wohnt hier«, sagte Levi unvermittelt. »Jedenfalls glaube ich nicht, dass sie sich einfach nur mal auf das Gelände geschlichen hat. Die Mauer ist doch ziemlich neu. Die Ratte kommt hier gar nicht raus. Und zu essen findet sie auch genug. Wenn sie in die Mülleimer steigt und so. Oder, Nik?«

Nik dachte nicht gern an die Ratte. Die bloße Erinnerung daran, wie sie nur ein paar Zentimeter von Levis Füßen entfernt davongehuscht war, jagte ihm einen Ekelschauer über den Rücken. Aber für Levi war es ein Höhepunkt ihrer nächtlichen Expeditionen gewesen, zu schlagen wahrscheinlich nur von einem Fuchs, aber wie sollte ein Fuchs auf das Gelände kommen? Die Mauer war fast drei Meter hoch und umschloss das Qwip.com-Gelände komplett. Sie war die eigentliche Außenlinie des Q – auf den Luftaufnahmen, von denen gleich mehrere postergroß in der Academy hingen, konnte man das am besten sehen. Und einen Fuchs ließ der Sicherheitsdienst bestimmt nicht durchs Tor. Man ließ ja nicht mal Autos auf das Gelände. Wer hier herumfahren wollte, musste per App eines der Qwipmobs rufen und warten, bis es heranschnurrte.

Warum konnte sich Levi eigentlich nicht für Qwipmobs begeistern? Marten bestellte sich manchmal ein Qwipmob, obwohl man das eigentlich erst ab sechzehn durfte.

»Gut möglich, dass sie hier wohnt«, sagte Nik im Versuch, das Wort »Ratte« zu vermeiden. »Aber es ist nicht gerade wahrscheinlich, dass wir sie heute sehen, okay?« Er wollte Niks Erwartungen dämpfen, aber zugleich machte er sich selbst auch ein bisschen Mut.

»Ich weiß schon.« Levi stand auf und zog sich die ewig rutschende Hose hoch. Er war der dünnste Junge, den Nik kannte. Andererseits: Er kannte ja kaum jemanden, der nicht auf die Academy ging.

Sie liefen geduckt auf die Brache zu, ein Wort, das Levi fast lustvoll benutzte, fast immer im Flüsterton, wie ein Geheimnis, das nur ihn und Nik verband. Mit der Brache meinten sie den Teil des Geländes, der bislang nicht vollständig geräumt und neu gestaltet worden war. Nur rund um das Space Dock war schon alles fertig. Dort gab es eine Sonnenterrasse mit einem kleinen Café. Von dort zweigten die Bohlenwege aus Tropenholz ab, über die die Qwipper in der Mittagspause joggten. Dort fuhren auch die Qwipmobs vor, um ihre Batterien aufzuladen.

Abseits des Q-Strichs der Academy sah das Gelände noch so aus wie zu der Zeit, bevor das Space Dock gebaut worden war und hier eine Kleingartenanlage gestanden hatte, ein Sammelsurium aus Schrebergärten, verzogenen Maschendrahtzäunen und feuchten Hütten mit Teerpappendach. Ein paar dieser Hütten gab es immer noch, hässliche Dinger aus Span- oder Asbestplatten, in denen es ungesund nach Schimmel und Schlimmerem roch. Dort waren sie der Ratte begegnet. Dort lag Levis Paradies.

Die größte der Hütten trug eine Art Wellblechmütze tief in der Stirn. Die Schiebetür darunter war seit einer Ewigkeit verkantet. Nik hatte erst neulich versucht, sie zuzuschieben, um drinnen nicht wieder von der Ratte überrascht zu werden, aber das hatte nicht funktioniert. Also trat er auch diesmal mit einem mulmigen Gefühl und hochgezogenen Schultern ein, gewappnet für den nächsten Schrecken.

Levi kniete schon auf dem alten Linoleum, das vor lauter Feuchtigkeit Wellen schlug. Er war auf seine Art bescheiden. Er war auch glücklich mit Insekten. Er ließ Ohrenkneifer und Wanzen über seine Hände laufen, was Nik weniger eklig als die Ratte fand, und er liebte die kleinen Feuerkäfer, die manchmal von der Linde hinter der Mauer fielen.

»Können wir die Taschenlampe benutzen?« Levi konnte rührend sein. Wenn er Nik erst breitgeschlagen hatte, herzukommen, ließ er Nik über fast alles andere bestimmen.

Nik sah zum Space Dock hinüber. So viele Lichter brannten noch. So viele Qwipper arbeiteten wieder mal die ganze Nacht durch. Wenn sein Vater es tat, klang er am Morgen danach, als wäre er der Überlebende einer epischen Schlacht.

»Mach sie halt an. Hier!« Nik reichte ihm die Taschenlampe. Levi setzte sie wie eine Lupe ein. Zentimeter für Zentimeter leuchtete er die Ritze zwischen der dünnen Wand und dem Fußboden ab.

»Na, wo steckt ihr denn heute?«, hörte Nik ihn murmeln. Der blonde Schopf hing ihm tief ins Gesicht.

Niks Smartphone vibrierte. Nur kurz. Ein Qwip. Er überlegte, es stecken zu lassen und die Nachricht erst am Morgen zu lesen, aber dann zog er es doch hervor.

»Schau mal, Nik. Schau mal!«

Levi stand an der modernden Wand, eine Fahne aus Spinnweben im Haar, die rechte Hand mit der Taschenlampe auf die linke gerichtet, über die eine pechschwarze, langbeinige Spinne lief.

»Oh.« Nik sah auf sein Smartphone. Einer der Q-förmigen knatschgelben Köpfe schaute ihn an, mit lustig verdrehten Kulleraugen. Wo der Q-Strich hätte sein sollen, klemmte eine rosarote Zunge zwischen schmalen Lippen. Dann ging der Mund auf und spuckte die Nachricht aus:

»Verdammt groß, diese Spinne«, sagte Nik zu Levi.

2 Duch Gór

Emma blieb beinahe gegen ihren Willen stehen. Sonst mied sie die von Touristen umlagerten Stände mit ihrem Tand. Den Kaffeebechern und Schlüsselanhängern, dem Fensterbrettnippes und den Holztafeln für die Wohnzimmerwand, in die immer dasselbe bärtige Gesicht geschnitzt war: Duch Gór, der Berggeist.

Aber nach vier Wochen alleine da oben, mit nichts als dem pulsierenden Signal auf dem Schirm, war das hier besser als nichts. Besser als die Steine und der erstarrte Granit. Besser als das ewige Schweigen darunter. Nachts träumte sie manchmal, dass das Signal verschwand. Dann schrak sie auf, sprang von der Pritsche, stürzte in die kleine, hinter der Küche verborgene Kammer und sah seine Lebenslinie flimmern. Duch Gór, der Berggeist. Er war noch da und war es nicht.

Emma sah sich um, als wollte sie keine Zeugen. Dann griff sie nach dem Bild. Es sollte aussehen, als wäre es aus einem Stück Holz geschnitzt, komplett mit Rahmen, Figur und Hintergrund. Der Berggeist war in Felle gehüllt wie ein Neandertaler oder der Yeti. Der unvermeidliche Bart wallte ihm bis auf den Bauch. Die linke Hand hatte er schützend über die Augen gelegt, als schaute er in die Ferne. Mit der Rechten hielt er den langen Stock, der so unvermeidlich war wie der Bart. Im Hintergrund Steine, Fichten und der kahle Bergkamm. Wenn Emma aufsah, sah sie dasselbe in echt.

In Wahrheit war das Ding aus Gips, einer von hunderttausend Abgüssen. Es klang seltsam hohl, wenn man dagegenklopfte, und an ein paar Stellen platzte schon die Farbe ab. Es war ein elendes Souvenir, das man hier so schnell kaufte, wie man es zu Hause wieder vergaß.

Emma gab zehn Zloty dafür. Sie zahlte mit einem schmutzigen Schein, der weich wie ein Lappen war. Dann ließ sie den Berggeist in der Seitentasche ihrer Cargohose verschwinden und schulterte den Rucksack mit den Einkäufen: Käse, Milch, Brot, Joghurt, Tütensuppen und eine neue Packung Tee. Das Wasser nahm sie aus dem Bach, der ihr da oben vom Grat entgegenkam. Natürlich musste sie es abkochen.

Ein polnischer Reiseleiter rief einem Rentnertrupp routiniert ein paar deutsche Sätze zu. Emma ließ die Gruppe mit ihren sandfarbenen Blousons und zurechtgelegten weißen Haaren passieren. Die Rentner hielten auf die Gaststätte ein paar Hundert Meter tiefer zu, auf Sauermehlsuppe und Wildschweinbraten mit schlesischen Klößen. Danach eine Kirche oder eine Seilbahn. Dann in eine Baude auf dem Berg und wieder Klöße.

Das erste Wegstück bergan musste sich Emma mit den Touristen teilen. Sie überholte eine polnische Familie und ein tschechisches Paar in grellbunten Funktionsjacken. Sie wandte sich um, als hinter ihr Englisch gesprochen wurde: drei bleiche junge Männer in T-Shirts, die den Berg viel zu schnell angingen. Sie widerstand der Versuchung, ein bisschen in ihrer Muttersprache zu reden, und ließ sie ziehen. Solange sie sich hinter ihrem schlechten Polnisch versteckte, war es leichter, ihre Tarnung aufrechtzuerhalten.

Offiziell war sie hier, um den Kupferfarbenen Buntgrabläufer zu beobachten, einen metallisch glänzenden Laufkäfer, der in hohen Lagen äußerst selten war. Sie wusste nicht mehr über ihn, als in Tomasz Wrobels Dossier gestanden hatte. Als sie zu Hause in Irland Leprechauns beobachtet hatte, hatte sie offiziell Waldeidechsen gezählt. Wann immer Mythobiologen über ihre Arbeit sprachen, logen sie wie gedruckt. Das galt für Professoren genauso wie für Studenten wie Emma.

Mit einem Gefühl der Erleichterung verließ sie die gelb markierte Route und lief querfeldein über eine schmatzend feuchte Wiese. Das Gras war wie ausgebleicht, die bunten Jacken der Wanderer bald nur noch ferne Punkte auf dem sich bergan schlängelnden Weg.

Emma klemmte die Finger unter die Schultergurte ihres Rucksacks und setzte über einen schnellen, rostroten Bach. Sie tauchte ins Halbdunkel unter den Fichten und nahm im Hang die Hände zu Hilfe. Manchmal kamen ihr Sturzbäche aus Fichtennadeln entgegen, die entblößte Erde darunter fast rot. Überall der Geruch von Harz und ausgewaschenen Felsen.

Als das steilste Stück hinter ihr lag, atmete sie für ein paar Minuten durch und schaute den Hang hinab, dahin, wo sie hergekommen war. Sie wünschte sich ein Reh oder einen schnürenden Fuchs herbei, aber sie war mit den Fichten und den Steinen allein.

Bald darauf lichtete sich der Wald und sie trat in den hellen Sonnenschein. Links von ihr ragte die Schneekoppe auf, die höchste Erhebung des Kamms, kahl und glatt geschliffen von der Zeit. Die Baude für die Ausflügler dort oben sah wie eines der Fähnchen aus, die man in Landkarten bohrte.

An den unzugänglichen Hängen des Grats, wo nicht einmal die Sonne hinkam, lag noch Schnee. Weiße Flecken, in die nie jemand ein Fähnchen steckte. Da oben wuchs nichts mehr außer Gras. Die Baumgrenze lag bei etwa zwölfhundert Metern.

Es war jetzt nicht mehr weit. In seinem Exil war der Berggeist bescheiden geworden. Die fünfhundert Jahre alte Karte des Simon Hüttel verzeichnete sein Nest über zweihundert Meter höher am Mittagsstein. Emma hatte eine schlechte Kopie davon, aber am liebsten war ihr die noch ältere Zeichnung eines Kartografen namens Martin Helwig. Er hatte den Berggeist nicht als bärtigen Einsiedler, sondern als schwarzen Dämon gemalt. Mit geflügeltem Schwanz und spitzem Geweih, bockshufig, scharfschnabelig und mit Schlangenzunge. Als wäre er alle Tiere und keins.

Am Ende war es wie mit den Leprechauns, über die Emma ihre Arbeit schrieb: Je länger man sich von ihnen erzählte, desto eindeutiger wurde ihre Gestalt – bis man sie jederzeit erkannte und auf Kaffeebecher drucken oder in Trickfilme stecken konnte, mit keckem Hut, grünem Anzug und Gürtelschnalle.

Menschen, dachte Emma, stellten sich letztlich nie etwas anderes als Menschen vor. Sie war plötzlich ganz froh, allein zu sein. Dann erinnerte sie der ferne Ruf eines Birkhahns daran, dass sie gar nicht alleine war.

Sie erreichte den Zaun am späten Nachmittag. Das Gelände war perfekt, weil unauffällig getarnt. In den Anfangsjahren der Mythobiologie hatte man es mit militärischen Sperrgebieten versucht, aber seit es im Internet die Luftbildsuche gab, war das zu gefährlich geworden. Truppenübungsplätze ohne erkennbare Truppenübungen machten sich verdächtig; Verschwörungstheorien verbreiteten sich rasch. Also hatte man die Forschungsstation für vorbeikommende Touristen als Wiederaufforstungsprojekt getarnt. Für die Behörden unterhalb der Geheimdienstebene galt die Geschichte vom Buntgrabläufer. Tomasz, der für die Station zuständig war, erzählte sie sehr überzeugend. Alle guten Mythobiologen konnten gut lügen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig.

Emma holte die kleine Fernbedienung aus ihrem Rucksack und schaltete den Bewegungsmelder ab. Dann schloss sie das Tor auf und betrat das Gelände. Es stieg steil nach oben an, und hinter dem Sichtschutz aus jungen Fichten wuchs nur noch hartes, störrisches Gras, den ganzen Hang hinauf bis zum Stein, der ihr immer wie die Gruft eines Riesen vorkam, das vergessene Grab eines vergessenen Giganten.

»Bin wieder da«, sagte sie mit einem krummen Lächeln, wie um sich zu erinnern, dass der Fels keine Grabstätte war. Er war ein Versteck. Ein Exil. Er war die Höhle eines Bären, der ein ganzes Zeitalter verschlief.

»Du wirst jede Menge Zeit zum Arbeiten haben«, hatte Tomasz gesagt, als er sie zum ersten Mal herumgeführt hatte. »Er wird dich jedenfalls nicht stören.«

Er. Unter seinen vielen Namen war ihr der tschechische der liebste: Krakonos. Wenn sie an ihn dachte, dachte sie Krakonos.

Sie ging zur Baude hinüber, die nicht viel mehr als eine kleine, dunkle Hütte war, mit ein paar Sonnenkollektoren auf dem Dach. Drinnen roch es nach sonnenwarmem Holz. Im gelben Licht vor den Fenstern tanzte der Staub.

Auf dem Schirm war alles okay. Emma hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, als Erstes nach ihm zu sehen, und mehr als das Signal auf dem Schirm gab er nicht preis.

Danach räumte sie die Lebensmittel in den kleinen Kühlschrank neben der Spüle, holte das Gipsbild hervor, das sie unten im Tal gekauft hatte, und trug es in den Hauptraum, den sie zu ihrem Arbeitszimmer erklärt hatte. Dort legte sie es auf den Tisch, neben ihren Laptop, die Kopien der Karten von Hüttel und Helwig und die paar Bücher, die sie mitgebracht hatte: die Daemonologia von Praetorius und die Legenden von Musäus, die sie nicht leiden konnte, weil sie zweihundert Seiten lang eigentlich nur Spott über den Berggeist gossen.

»Du hast dir viel gefallen lassen«, sagte Emma, aber sie sagte es bloß zu dem Yeti aus Gips, der auf seine Art auch eine Unverschämtheit war.

Sie hätte sich an ihre Arbeit machen sollen. Sie hatte ohnehin schon drei Viertel des Tages verloren. Aber als ihr Laptop zum Leben erwachte, öffnete sie nicht den Ordner mit ihrer Examensarbeit, sondern den, der Krakonos Literatur hieß und alle mythobiologischen Schriften zum Thema enthielt, vor allem das Buch, das Tomasz geschrieben hatte, und den Bericht der Horak/Arsenjew-Expedition, ohne die Emma jetzt nicht hier wäre. Wie alle mythobiologischen Dokumente war er passwortgeschützt und nicht druckbar.

Emma gab das Passwort ein und scrollte durch den Text. Es war nur eine Übersetzung, Arsenjew hatte ihn 1971 auf Russisch geschrieben. Horak war da schon fast ein Jahr tot gewesen. Beim Versuch, im Altai-Gebirge einen Qan zu markieren, war er mit dem Hubschrauber abgestürzt. Für Arsenjews Schilderung der Ereignisse des Jahres 1969 gab es außer Arsenjew selbst keine Zeugen.

Doch Emma wollte die Geschichte glauben, in ihren Augen machte sie vollkommen Sinn. Als Horak sich über den am Boden liegenden Berggeist beugte, um ihm den Sender zu verpassen, hatte Krakonos sich nicht gewehrt. Er hatte kein Unwetter heraufbeschworen und sich nicht in einen Vogel verwandelt, um davonzufliegen. Er hatte stattdessen dem Täter den Täter gezeigt. Horak, so stand es bei Arsenjew, habe plötzlich sich selbst unter sich liegen sehen. Es sei allein seiner Kaltblütigkeit zu verdanken gewesen, dass er den Berggeist trotzdem markierte und den Sender in einen menschlichen Arm jagte, der genau wie sein eigener aussah.

Im Grunde war das das Ende der Geschichte, auch wenn Emma es sich nicht eingestehen mochte. Der Berggeist hatte sich in diesen Stein dort oben zurückgezogen und war nie wiederaufgetaucht. Horak und Arsenjew hatten die Baude bauen lassen, aber insbesondere Horak hatte bald die Geduld verloren. Und vielleicht spielte der Berggeist ja wirklich nur auf Zeit. Der Sender, den ihm Horak verpasst hatte, war jedenfalls seit Jahrzehnten veraltet. Er zeigte nichts an, außer dass Krakonos immer noch da war. Es war ein zermürbendes Spiel.

Emma schob das Gipsbild zur Seite und klappte den Laptop zu. Sie kochte sich eine Tütensuppe, aber während sie das fade Zeug löffelte, wurde sie immer wütender. Sie wusste selbst nicht genau, wieso. Hier oben war es genauso still und ereignislos, wie sie erwartet hatte, aber heute machte diese Stille sie zornig. Krakonos’ verdammte Untätigkeit machte sie zornig. Sie war wütend, weil er aufgegeben hatte.

Sie versenkte den Löffel im Suppenrest und trat aus der Tür. Es war Abend geworden. Die Sonne war schon untergegangen und schickte aus ihrem Versteck im Westen ein letztes milchig rotes Licht.

Emma ging über die Wiese auf den Stein zu, der eigentlich eine Gruppe dicht gedrängter Felsnadeln war – das, was das launische Wetter hier von einem Granitmassiv hatte stehen lassen. Schließlich baute sie sich am Fuß der vordersten Feldnadel auf und legte den Kopf in den Nacken. Über dem Stein war der Himmel dunkelblau. Von der böhmischen Seite stiegen dunkle Wolken auf den Riesenkamm.

Ihr fiel der Vers ein, den sie in den Jugenderinnerungen eines Schriftstellers gelesen hatte. Die Kinder der Gegend hatten ihn gerufen, wenn sie heraufkamen – früher, als man die Bücher von Praetorius und Musäus noch wie Märchen las, lange bevor es Mythobiologen gab. Aber irgendwie hatte sie den Vers nicht vergessen. Irgendwie passte er zu ihrer Stimmung.

Spätabends kam Wind auf. Aus dem Fenster der Baude sah Emma, wie er die schwarzen Fichten schüttelte. Sie klappte ihren Laptop zu und ließ damit die Nacht ins Haus. Draußen schienen weder Mond noch Sterne. Die schweren Wolken hatten sich über den Kamm gewälzt und sackten nun ins Tal.

Als Emma den Kopf aus der Tür streckte, spürte sie den feinen Regen, den sie brachten. Der Wind sprühte ihr die Feuchtigkeit ins Gesicht und dann fielen auch schon die ersten dicken Tropfen.

Zurück in der Baude, kam sich Emma vor wie unter Beschuss. Sie stand am Küchenfenster und sah zum kaum mehr erkennbaren Stein hinauf. Dann brach ein leuchtender, schartiger Blitz aus den Wolken und tauchte den Fels in ein grellweißes Licht. Gleich darauf das Getöse des Donners.

Emma huschte in die Kammer nebenan, um nachzusehen, ob sie vielleicht das Notstromaggregat brauchen würde. Aber der Schirm flimmerte nicht einmal. Es war etwas anderes. Das Signal wirkte stärker. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie gesagt, dass er näher kam. Aber das war undenkbar. Er saß seit Jahrzehnten im Fels.

Plötzlich war ihr heiß. Der Hals wurde ihr eng und ihr Puls raste. Sie musste einen klaren Kopf bewahren. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit einem Sender zu tun hatte. In Tara in Irland hatte Professor Hartnett eine Banshee markiert und Emma hatte die Daten eingesehen – allerdings war das ein wesentlich modernerer Sender gewesen.

Einen Augenblick lang war sie fest entschlossen, Tomasz anzurufen. Aber dann fiel ihr ein, dass sie ja auch einfach den Ton anstellen könnte – Tomasz hatte das monotone Piepen wahrscheinlich schon vor Jahren stumm gestellt. Die optischen Signale konnten trügen, insbesondere bei diesem Gewitter. Aber wenn die akustischen Signale auch verstärkt waren …

Ihre Hand zitterte, als sie nach der Maus griff und in der Menüleiste nach den Einstellungen suchte. Sie stellte den Ton auf maximale Lautstärke und erschrak dann fast zu Tode. Es war kein Piepen mehr, sondern ein beinahe schon durchgängiger Laut.

Er war da draußen!

Sie stürzte aus der Tür, in den prasselnden Regen. Die Nacht war eine schwarze Wand.

»Hallo?« Zuerst rief sie zaghaft. »Hallo?« Dann wurde sie lauter. Schließlich schrie sie so laut sie konnte. »Bist du da irgendwo?«

Der nächste Blitz fingerte nach dem Stein. Wie ein Traumbild schien die Wiese vor ihr auf. Dann krachte der Donner und alles fiel in Finsternis zurück.

Hatte sie ihn gesehen? War da nicht etwas auf der Wiese gewesen? Es gab einen Alarmknopf neben dem Rechner. Wieso dachte sie jetzt erst daran? Es gab einen Alarmknopf. Tomasz hatte ihn ihr gezeigt. »Und hier ist noch etwas, das du bestimmt nicht brauchst«, hatte er gesagt. Mit genau diesen Worten.

Sie war pitschnass. Das Wasser lief ihr in Strömen über das Gesicht. Sie stand immer noch da, unfähig, sich für irgendetwas zu entscheiden, als der Bewegungsmelder reagierte und der seitlich an der Hütte versteckte Scheinwerfer ansprang.

Er war am Zaun!

Sie taumelte zurück. Dann riss sie schützend die Hände vors Gesicht und duckte sich.

Federn! Ein dunkler Flügel.

Sie spürte den Luftzug. Der Regen prasselte und doch hörte sie die Schwingen. Der Scheinwerfer ging aus, als wäre bloß irgendein Tier an den Zaun geraten und hätte, vom Licht erschreckt, gleich wieder das Weite gesucht.

Emma rannte in die Hütte. Im Dunkeln stieß sie sich an der Spüle, dann hatte sie die Kammer erreicht. Der Schirm war leer. Nicht die Spur eines Signals. Er war schon zu weit weg. Er war … was auch immer.

Emmas Hand schwebte über dem Alarmknopf, aber sie konnte sich nicht entschließen. Minutenlang konnte sie sich nicht aus ihrer Starre lösen. Klatschnass stand sie da und tropfte den Fußboden voll. Dann klingelte nebenan ihr Handy und sie zog ihre Hand zurück und ging im Dunkeln zu dem großen Tisch.

»Ja?«

»Emma?«

»Ja.«

Es war Tomasz, unten in Karpacz. »Emma, ich hab mich gerade eingeloggt. Nur so. Ich weiß, ich hab frei. Aber ich konnte nicht schlafen und … ich hab kein Signal auf dem Schirm. Hast du eins? Ist da oben alles in Ordnung?«

»Ja.« Mit der freien Hand wischte sich Emma über das nasse Gesicht. »Nein, meine ich.«

»Ist nicht alles in Ordnung?«

»Doch. Aber ich habe auch kein Signal, Tomasz.«

»Wie, du hast kein Signal?« Tomasz schnappte hörbar nach Luft.

»Er ist fort«, sagte Emma. »Krakonos. Er ist aufgebrochen.«

3 Feldlerchen

Marten, fand Nik, schickte die besten Qwips. Keine langweiligen, smileyartigen Gebilde wie ihr Vater, sondern sprechende Coladeckel, rot geäderte Zombieaugen, haarige Kiwis, Rotweinringe auf weißen Tischdecken, zwinkernde Leopardenflecken, neonbunte Beachvolleybälle und Frisbeescheiben, Blechtrommeln, die schepperten, wenn man das Handy nicht stumm gestellt hatte, oder grüne Blätter, durch die eine vollgefressene Raupe brach, um im nächsten Moment die Nachricht auszukotzen.

Meistens machten Martens Qwips sogar Sinn. Wenn er verschlafen hatte, schickte er dem ganzen Kurs eine seltsam angeschmolzene Uhr, und wenn man genau hinsah, erkannte man in ihrer Mitte einen winzigen Marten, der mit wehenden Dreadlocks wie ein Sekundenzeiger rund und rund über das Zifferblatt flitzte. Dann verwandelten sich die zwölf Zahlen auf dem Zifferblatt in Buchstaben: Martyholtauf, stand da plötzlich, und ein paar Minuten später erschien er verwuschelt im Seminarraum und zuckte grinsend mit den Schultern.

Wenn ihm Marken für den Colaautomaten im Mixed Room fehlten, schickte er eine Goldmünze, die flehentlich ihre weiß behandschuhten Comichände reckte, und wenn er jemanden zum Daddeln suchte, poppte das fragende Gesicht eines Controllers auf. Oder Marten schickte die kugelrunde Erde inmitten eines schwarzen Alls und dazu die Frage: Sind wir allein?

Nik gefiel Martens Witz, aber er mochte ihn noch aus vielen anderen Gründen, zum Beispiel, weil er kein Streber war. Marten war mit Abstand der beste Coder und Webdesigner der Academy, er hatte fast alle Qwip.com-Nachwuchspreise gewonnen, aber groß beeindruckt hatte ihn das nicht. Stattdessen hatte er nach einer der feierlichen Preisverleihungen im Space Dock ein schlichtes schwarzes Q auf weißem Grund verschickt, dessen Q-Strich sich plötzlich in einen vibrierenden Presslufthammer verwandelt und das übrig gebliebene, verblüffte O einfach in der Mitte gespalten hatte.

Vor allem aber mochte Nik Marten, weil Marten Levi mochte, der mit Abstand der schlechteste Schüler der Academy war. Marten hatte Levi sogar in sein Tutorial eingeladen und als Einziger Levis Gamer-Channel abonniert – was schon insofern ein Witz war, als Levi seit einer Ewigkeit nicht gespielt hatte und es gar nichts zum Zusehen gab. Es war Nik nicht ganz klar, was Levi in Martens Tutorial eigentlich machte – denn richtige Spiele programmieren konnte Levi nicht –, aber er war froh um jede Stunde, die Levi nicht mit sich allein verbrachte.

Umso beunruhigender war Martens Qwip, der ihn nach Unterrichtsschluss in seiner Wabe erreichte, wo Nik, auf seinem Bett ausgestreckt, an einer Geschichtspräsentation über Alan Turing arbeitete. Der Qwip zeigte ein stilisiertes Levi-Gesicht, fast weiß und zur Hälfte hinter einem gelbblonden Scheitel versteckt. Dann verwandelte sich Levis halber Strichmund in einen halben Kreis und die Worte Wo bin ich? schienen auf.

Nik drückte auf KAPERN, womit er das Levi-Bild für seine Antwort übernahm, und tippte den Text ein: Ich bin in Martens Tutorial. Oder nicht?

Zurück kam ein Dreadlock-Pirat hinter dem kreisrunden Auge eines Fernrohrs: Kein Levi in Sicht.

Nik legte das Tablet zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett. Manchmal war er es leid, seines Bruders Hüter zu sein. Manchmal wollte er in solchen Momenten einfach seinen Eltern qwippen: Levi ist weg. Wie wär’s, wenn zur Abwechslung mal nicht ich euren Job mache? Und dazu einen Rettungsring, wie sie an den Geländern der Berliner Brücken klebten.

Aber ihre Eltern hatten nun mal andere Vorstellungen von ihrem Job. Außerdem war es in Kalifornien früher Morgen, ganz abgesehen davon, dass Kalifornien in Kalifornien lag. Ihre Eltern konnten sich schlecht herbeamen.

Nik zog sich die Sneakers an und probierte es mit dem Naheliegenden. Im Mixed Room ging es hoch her. Auf allen Schirmen lief dasselbe Adventure, sieben Controller waren im Spiel. Nik erkannte Sara, Konrad, Noah, Leroy, Sina, Emily und Pim. Levi war natürlich nicht dabei. Das Fenster in der Abstellkammer war auch geschlossen, aber das musste nichts heißen. Seit er zehn war, kam Levi tagsüber auch alleine raus – was es nicht gerade leichter machte, ihn im Auge zu behalten.

Nik zog sein Handy aus der Tasche und scrollte durch die Qwip-List. Natürlich war Levi nicht online. Nik fand Levis Smartphone auf dem Nachttisch seiner Wabe, neben einem der Tablets aus dem Mixed Room, das sich Levi nach dem Unterricht geschnappt haben musste.

Er öffnete den Browser und scrollte durch den Verlauf. Er hatte mit Levis üblichen Google-Suchen gerechnet – Giftspinnen oder Wie groß werden Spinnennetze? –, aber diesmal waren die Treffer noch seltsamer als sonst:

Nik hatte mit Levi in der Cafeteria gefrühstückt und Levi hatte nichts von einem Traum erzählt. Alles war wie immer gewesen: Levi hatte keinen Hunger, war ungewaschen, verschlafen und zu spät.

»Hey, das macht man nicht! Infosphäre ist Privatsphäre! Außer du bist Admin bei Qwip.com.«

Marten.

Nik ließ das Tablet sinken. Er fühlte sich ertappt.

»Ich denke, dein Tutorial läuft.« Er versuchte, sich sein schlechtes Gewissen nicht anmerken zu lassen. Zugleich spulte er im Kopf lauter Rechtfertigungen ab. Über Levi Bescheid zu wissen, war sein Job, und der war schwer genug. Außerdem hatte Martens Qwip ihn doch erst auf die Reise geschickt. Eigentlich sollte er an seiner Turing-Präsentation arbeiten! Er warf das Tablet auf Levis Matratze.

»Früher Schluss gemacht.« Marten zuckte Marten-mäßig mit den Achseln. »Keine Inspiration. Zu schönes Wetter vielleicht. Da draußen.« Er strich sich die verfilzte Matte aus dem Gesicht, dicke, fette, schmutzig blonde Dreadlocks. »Hast ihn noch nicht gefunden, ja? In die Teilnehmerliste eingetragen hab ich ihn.«

»Danke.«

Marten war fünfzehn und einen Kopf größer als Nik. Und was für ein Kopf das war!

»Dann sollten wir wohl mal draußen nachsehen, was?«

»Kommst du mit?«

»Klar.« Marten grinste. »Sonne tanken. Hast du denn was gefunden?« Mit seinem Zehnkämpfer-Kinn deutete er auf das Tablet auf dem Bett.

»Eigentlich nicht.« Niks Offenheit hatte Grenzen. Er wollte Levi nicht verraten. Nicht jeder sollte wissen, wie seltsam er oft war. Es war auch ohne Mitwisser schwer genug mit Levi.

»Schon gut.« Marten wandte sich zum Gehen. »Wenigstens ist er nicht internetsüchtig.«

Die Haupttür öffnete sich auf Daumendruck. Über eine breite, strahlend weiße Treppe stiegen sie aus den Katakomben der Academy nach oben. Auf dieser Seite des Flachbaus war alles schon fertig. Eine Hundertschaft Landschaftsgestalter hatte ihre Arbeit gemacht: Hohes gelbes Gras neigte sich in einer schwachen, angenehmen Brise.

Im satten Blau über ihnen wanderten ein paar Schäfchenwolken. Der Himmel sah wie ein Bildschirmschoner aus. Das stählerne Space Dock funkelte im Sonnenlicht. Ein paar Qwipmobs schnurrten über die hellen Betonplatten. Ein paar Jogger federten über die Stege aus Tropenholz.

Marten streckte sich, als wäre er gerade erst aufgestanden. »Macht wohl keinen Sinn, ihn anzuqwippen, oder?«

Nik schüttelte den Kopf. Er blinzelte, weil es so hell war. Vielleicht sah es in Kalifornien gerade genauso aus.

»Wollen wir uns ein Mob nehmen?« Von irgendwo hatte Marten eine Sonnenbrille hergezaubert. Er schob sie sich auf die Nase.

Nik sah sich selbst in den schwarzen Gläsern: seinen schmalen Kopf mit den raspelkurzen, dunkelblonden Haaren. »Und wie?«, sagte er.

Man startete ein Qwipmob, wie man eine Tür öffnete: per Daumendruck. Danach konnte man dem Bordcomputer sagen, wo auf dem Gelände man hinwollte: Space Dock Nord, Space Dock Süd, Academy, Café oder Tor. Brache war mit Sicherheit keine Option. Qwipmobs fuhren nicht ins Unbekannte.

»Ich hab da so eine Methode.« Marten fischte sein Handy aus der Jeans und öffnete die Qwipmob-App, ein weißes Hühnerei auf Rädern.

Nik konnte sehen, wie sich im Schatten des Space Dock ein Qwipmob in Gang setzte und auf sie zuzuschnurren begann. Das alles war wahrscheinlich Zeitverschwendung, weil sich Levi sowieso in einer der alten, stinkenden Datschen auf der Brache versteckte, aber Nik war neugierig geworden.

Qwipmobs sahen wirklich wie auf der Seite liegende Hühnereier aus. Weiß, von den bläulich schimmernden Scheiben abgesehen, mit schwarzen Rädern, die wirkten, als wären sie aus Hartplastik. Vorn, am schmalen Ende des Eis, saß man so tief wie in einem Sportwagen. Hinten war nach oben hin ein bisschen mehr Platz, auch wenn man nicht gerade viel Beinfreiheit hatte.

Das Qwipmob, das Marten gerufen hatte, kam vor ihnen zum Stehen. Nur der Sand unter den Rädern knirschte, sonst war es vollkommen lautlos. Sogar die Türen fielen ziemlich lautlos wieder zu.