Illustration

Nicola Mitterer/Florian Marlon Auernig/Andreas Hudelist (Hrsg.)

IchErzählungen

Narrative Identitäts/De/Konstruktionen

SCHRIFTENREIHE LITERATUR

Institut für Österreichkunde
Abteilung Fachdidaktik/AECC Deutsch am Institut für GermanistikAECC

Herausgegeben von
Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy und Werner Wintersteiner
Band 29

IchErzählungen

Narrative Identitäts/De/Konstruktionen

Herausgegeben von
Nicola Mitterer, Florian Marlon Auernig und Andreas Hudelist

StudienVerlag

Innsbruck

Wien

Bozen

Inhalt

Einleitung

Nicola Mitterer, Andreas Hudelist, Florian Marlon Auernig:
Über das Erzählt-Werden und die poetische Verflüssigung des Festen

Literarischer Beitrag

Marjana Gaponenko:
Auszug aus dem Roman Annuschka Blume

HeldInnengeschichten:
Identitäts/De/Konstruktionen mit Vorbildcharakter

Eva Binder:
Von den Sowjethelden zum russischen Menschen.
Lebenserzählungen und Geschichtserfahrung in Secondhand-Zeit
von Svetlana Aleksievič

Renate Habinger:
„She is good at lots of things“. Heldinnen-Bilder.
Über die visuelle Gestaltung alter und neuer Heldinnen der Kinderliteratur

Christa Agnes Tuczay:
„Helt“ und „küener degen“. Untadelige Männlichkeit zwischen
Aggression und Angst im literarischen Diskurs

Florian Marlon Auernig:
In das Unabänderliche muss sich der Mensch ergeben.
Das Schicksal als Identitätsform in der antiken Dichtung

Kann ich (jemand) sein?
Surreale, Postkoloniale und Postmoderne Identitätsdiskurse

Anna Babka:
„Sich in der Vorläufigkeit einrichten“ oder „In-side-out“.
Postkoloniale Theorie und Queertheorie im Theorie- und
Deutungskanon der Germanistischen Literaturwissenschaft

Andreas Hudelist:
Der Leser als Produzent?
Postmoderne Identifikationen in der Literatur (am Beispiel von
jemandem, der sich unter anderem Flann O’Brien nennt)

Geschichten vom Verwandeln:
Neu-Erzählen, Um-Dichten, Weiter-Schreiben

Heidi Lexe:
Spiegelungen in Bild und Text.
Zu Neu-Inszenierungen des Märchens Sneewittchen

Gerda E. Moser:
Anything goes?
Illusion und Realität (post)moderner Identitätskonstruktionen
in Gesellschaft, Philosophie, Literatur und Konsum

Die Autorinnen und Autoren

Einleitung

Über das Erzählt-Werden und die poetische Verflüssigung des Festen

Nicola Mitterer, Andreas Hudelist, Florian Marlon Auernig

1. Von der Identität zur Literatur

Ob es sich um schriftliche oder mündliche, von Bildern begleitetet oder getragene, lang tradierte oder zeitgenössische Erzählungen handelt – sie sind immer auch Teil eines Aushandlungsprozesses von Identität und Identitätskonzepten, die in einer Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt existieren. In diesem Band widmen wir uns den Veränderungen und den spezifisch literarischen Ausformungen jener so grundlegenden Frage danach, wer wir denn eigentlich sind.

Davon, dass bereits die einfache Frage nach einer eindeutigen und verbindlichen Definition von Identität in ein überaus verworrenes Dickicht philosophischer Argumentation und Kontroversen führen kann, legen etwa die existentialistischen und postmodernen Diskurse des 20. Jahrhunderts, das von Soziologen gerne als das Zeitalter der Krise der Identität apostrophiert wird, eindrucksvoll Zeugnis ab (vgl. Abels 2010, 246). Thorsten Kubitza gibt nur einen schlaglichtartigen Überblick über das fein nuancierte Bedeutungskaleidoskop, das dieser scheinbar so unproblematische Begriff eröffnet:

Identität ist das Gefühl, „man selbst zu sein“, das Wissen, „wer man ist“. Aber sobald man sich mit dem Begriff ein wenig genauer auseinandersetzt, ergeben sich viele Schwierigkeiten: Ist Identität gleichbedeutend mit Ausdrücken wie „Persönlichkeit“, „Selbstgefühl“ oder „Charakter“? Handelt es sich um den Status, das „Ansehen“ eines Menschen in der Öffentlichkeit, oder ist Identität der Wesenskern, das „Eigentliche“ einer Persönlichkeit hinter ihren sozialen Auftritten und Rollen? Zeigt sich Identität in der Charakterfestigkeit, der Fähigkeit, sich selber in seinen Prinzipien treu zu bleiben, oder geht es um etwas, was man in unterschiedlichen Begegnungen stets nach außen „präsentiert“? (Kubitza 2005, 12)

Bereits diese grobe Skizzierung zentraler Fragestellungen illustriert deutlich die Komplexität und inhaltliche Offenheit des Identitätsbegriffs, der sowohl statisch als auch dynamisch definiert werden kann. Abels weist in diesem Zusammenhang auf den alltagssprachlichen Gebrauch hin, in dem der Begriff oft in dem Sinne positiv konnotiert ist, dass das Individuum mit ihm eine gewisse „Charakterstärke und die Überzeugung [assoziiert], dass es im Großen und Ganzen so ist, wie es ist und dass es im Kern auch immer so gewesen ist und sein wird“ (Abels 2010, 248). So verstanden ist die Identität quasi der Fels in der Brandung des Stroms der Zeit, indem sie als verlässliche Trägerin bestimmter Eigenschaften Beständigkeit verbürgt. Dieses Identitätsverständnis ist im Einklang mit der Bedeutung der lateinischen etymologischen Wurzel identitas, welche „die vollkommene Gleichheit“ bezeichnet und ursprünglich „auf die engen Bezirke der spekulativen Metaphysik und formalen Logik“ beschränkt war (Reese-Schäfer 1999, 14). Im mathematischen bzw. philosophischen Diskurs spricht man von „numerischer Identität“, wenn a und b „ein und derselbe Gegenstand sind“ und von „qualitativer Identität“, wenn zwei Gegenstände „haargenau dieselben Eigenschaften haben“ (Henning 2012, 19–20). So verstanden lässt sich der Identitätsbegriff in seinen unterschiedlichen Ausprägungen recht eindeutig und unproblematisch definieren und handhaben.

Im psychologischen, soziologischen und literaturwissenschaftlichen Diskurs stellt sich die Sachlage allerdings weit weniger eindeutig dar. Wurde das Modell einer variablen Identität in der Vergangenheit häufig als psychopathologisches Symptom stigmatisiert, ist sie in Zeiten einer dynamisierten Gesellschaft im Zeichen zunehmender Mobilität im weitesten Sinn zu etwas Selbstverständlichem geworden. Wolfgang Welsch attestiert in seinem Aufsatz „Identität im Übergang“ das Ende einer homogenen, monolithisch verstandenen Identität (vgl. Welsch 1990), Joachim Renn und Jürgen Straub stellen einem „übervereinfachten Identitätsbegriff“ den Begriff einer „transitorischen Identität“ entgegen, „um auf die Momente der Beweglichkeit, der Zeit, des Handelns und der sozialen Prägung jener notorisch vorläufigen, immer noch ausstehenden, aufgegebenen Identität hinzuweisen“ (Renn/Straub 2002, 13) und Gertrud Nunner-Winkler definiert unsere gesellschaftliche Situation, „in der personale Identität nicht länger mehr durch sozialstrukturelle Arrangements gestiftet und stabilisiert wird, sondern von den Individuen selbst gewählt und erhalten werden muss“ (Nunner-Winkler 2002, 58), als wesentliche Ursache für die Hochkonjunktur eines dynamischen Identitätsbegriffs im sozialwissenschaftlichen Diskurs. Stefan Neuhaus erklärt gesellschaftliche Veränderungen im Laufe des 20. Jahrhunderts zu wesentlichen Parametern eines Identitätsbegriffs, der sich einer endgültigen Definition entzieht: „[N]ach dem Zusammenbruch der großen Ideologien und der Entwicklung einer pluralistischen, marktorientierten Gesellschaft fehlen verbindliche Sinnstiftungssysteme.“ (Neuhaus 2009, 82) Identität ist in diesem Sinne in einer Formulierung von Wolfgang Kraus „Zeichen unserer Zeit, in der es nicht mehr möglich ist, sie dauerhaft zu sichern“ (Kraus 2002, 160). Dementsprechend wurden auch im soziologischen Diskurs „die finalen Perspektiven teleologischer Entwürfe abgelöst […] durch kausale Analysen der Faktoren und Impulse des Wandels“, wodurch allerdings „lediglich eine Einseitigkeit gegen eine neue eingetauscht [wurde]“ (Röttgers 2016, 159). Mit Kurt Röttgers lässt sich also die Frage stellen, ob es der Vielschichtigkeit des Gegenstands nicht angemessener wäre, die simplifizierenden Erklärungsmuster im Zeichen teleologischer bzw. kausaler Argumentation zu ersetzen durch „Modelle der Emergenz, der Selbstreferenz und Autopoiesis gesellschaftlicher Systembildung gegenüber den in ihrer Komplexität unabsehbaren Umwelten einer prinzipiell offenen Zukunft“ (ebd.). Stuart Hall sieht in dieser prozessorientieren Identitätsidee eine schöpferische Kraft. Während er zeigt, dass im Narrativ der Nation unterschiedliche, vielleicht sogar widerspenstige, Identitäten entstehen (können), macht er deutlich, dass die Globalisierung nicht ein Subjekt als zentrales Fundament vor sich hat, sondern eine Vielzahl von Identitätsalternativen schafft. Hall fordert auf, Identität als einen diskursiven Entwurf zu denken, der nie losgelöst von seiner Umwelt, also Raum und Zeit zu denken ist, jedoch laufend einem Prozess unterliegt (vgl. Hall 1999, 422). Für John Tomlinson ist insbesondere die (kulturelle) Identität ein Produkt der Globalisierung. Es existieren parallel multiple und komplexe Räume zur Identitätsfindung, die nationale Identitätsnarrative unterlaufen oder erweitern (vgl. Tomlinson 1999, 269).

Neuhaus attestiert der Literatur in diesem Zusammenhang einen besonderen Stellenwert: „[L]iterarische Texte leisten einen zentralen Beitrag zur Identitätsbildung, weil sie permanent Identitätsbildungsprozesse durchspielen.“ (Neuhaus 2009, 90) Konstitutiv für diese Prozesse ist eine wechselseitige Dynamik, welche die Rezipienten und Rezipientinnen zu aktiven Beteiligten werden lässt: „[M]an könnte sogar sagen, dass es ihre [der Literatur] zentrale Aufgabe ist, beispielhaft (am Beispiel von Figuren) Angebote zur Identitätskonstruktionen zu machen oder zu verwerfen. Je komplexer die entsprechenden Verfahren eines Textes sind, desto größer ist seine potenzielle Leistung für die Identitätsbildung der Leserin oder des Lesers.“ (Ebd.) Leerstellen nennt Wolfgang Iser jene desorientierenden oder auch irritierenden Momente, die beim Lesen auftreten und die Lesenden zum kreativen Prozess anregen (können) (vgl. Iser 1974, 235). Es ist diese Beziehung zwischen Autorinnen sowie Autoren und Leserinnen sowie Lesern, die das Wechselspiel zwischen geschriebenem Text und der eigenen Erfahrungswelt möglich macht und Bedeutungen entstehen lässt. In diesem Zusammenhang gibt es keine Position, die die andere überragt, sondern einen Dialog, der zwischen den Positionen ausgehandelt wird, und erst durch die Aushandlung entsteht ein Narrativ (vgl. Wetzel 2015, 258).

Im Kontext narrativer Formen von Identitätskonstruktion sei auch auf die wechselseitige Dynamik des Mediums Sprache verwiesen: „Sprache transportiert nicht das Innenleben des Menschen nach außen, sondern sie produziert es.“ (Kraus 2002, 161) Narrative Identitätskonstruktion bedeutet somit einen unabschließbaren Vorgang reziproker Dynamik:

Erzählend organisiert das Subjekt die Vielgestaltigkeit seines Erlebens in einen Verweisungszusammenhang. Die narrativen Strukturen sind keine Eigenschöpfung des Individuums, sondern im sozialen Kontext verankert und von ihm beeinflusst, so dass ihre Genese und ihre Veränderung in einem komplexen Prozess der Konstruktion sozialer Wirklichkeit stattfinden. (Kraus 2002, 161)

Identität im Kontext von Narration bedeutet somit sowohl eine Reflexion kulturhistorisch gegebener sozialer Parameter als auch Aspekte der Autopoiesis im Sinne einer Neustrukturierung und Neuakzentuierung von Ereigniszusammenhängen, oder in einer Formulierung von Gabriele Lucius-Hoene: „[N]arrative Identität [ist] die Art und Weise, wie ein Mensch in konkreten Interaktionen Identitätsarbeit als narrative Darstellung und Herstellung von jeweils situativ relevanten Aspekten seiner Identität leistet“ (Lucius-Hoene 2002, 55). Diese Identitätsarbeit kann sich sowohl auf einzelne Personen als auch auf ganze Gruppen beziehen und hat weitreichende Implikationen:

Das Geschichtenerzählen hat Funktionen, die in sozialen Zusammenhängen kaum ersetzbar sind. Die Texte, die Vergangenes präsentieren (temporale Reflexion), präsentieren in diesen Geschichten auch die Anderen (soziale Reflexion) und das Wissen und die Moral (diskursive Reflexion), und zwar die gebrochene, entferntere Vergangenheit, den gesellschaftlichen Anderen und die distanzieteren Formen von Wissen und Ethischem. (Röttgers 2016, 15)

In diesem Sinne verstanden, bedeutet also das Erzählen von Geschichten weit mehr, als belletristische Unterhaltung und Kurzweil. Vielmehr wird dadurch ein breites Spektrum unterschiedlichster historischer, politischer, soziologischer und reflexiver Parameter eröffnet, deren komplexes Zusammenspiel Ansätze einer wie auch immer gearteten Identitätskonstruktion ermöglicht. Bei einer genaueren Untersuchung zeigt sich, dass die scheinbar recht eindeutigen Antworten, welche die antike bzw. mittelalterliche Literatur auf die Identitätsfrage gibt, ambivalenter und komplexer sind, als es zunächst den Anschein haben mag.

Im Zuge populärkultureller Entwicklungen hat sich die Rolle literarischer Erzählungen bis zum heutigen Zeitpunkt stark gewandelt. Die Grenzen zwischen vormals als weiblich und männlich deklarierten „Charakteristika“, nationalen und religiösen Zugehörigkeiten und anderen identitätsstiftenden Parametern sind opak geworden. Der geplante Sammelband möchte die Entwicklungsverläufe von der Identitätskonstruktion zur Identitätsdekonstruktion in der Literatur nachvollziehen und fragt auch nach den damit einhergehenden gesellschaftlichen Konsequenzen. Zahlreiche AutorInnen aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen machen diesen Band zu einem interdisziplinären und bislang noch nicht vorhandenen Beitrag zur literarischen Identitätsforschung.

2. Eine Annäherung an die Beiträge

In diesem Band sind Beiträge gesammelt, die sich mittels der Literatur verschiedenen Identitätskonzepten und Identitäten nähern. Im Zentrum stehen dabei ihre Erzählungen und die konsequente Frage nach dem identitätsstiftenden Aushandlungsprozess. In seiner Mitte begegnen wir der menschlichen Existenz, der Selbstwahrnehmung und der Sprache. Es ist zum Beispiel gerade die literarische Sprache, in der die Fremdheit der eigenen Muttersprache Ausdruck findet (vgl. Mitterer 2016, 82). Es ist aber nicht nur das Ich und das Verhältnis zu sich selbst, sondern auch das Ich in der Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt (vgl. Spinner 2013, 30). Die Dynamik des Identitätsbegriffs zeigt sich in diesem prozesshaften Charakter mindestens zweier Positionen. Literatur wird hier als etwas Fremd(artig)es verstanden, das das Eigene herausfordert und zum Dialog einlädt. Wie dieser Dialog aussieht oder welche Komplexität dieser aufweisen kann und wie viele Positionen daran teilnehmen (können), zeigen die folgenden Beiträge.

Der Band ist in drei Teile gegliedert, denen ein literarischer Auszug aus Marjana Gaponenkos Buch Annuschka Blume vorangestellt ist. Ihr Text thematisiert die Beziehung(en) des vermeintlich selbstbestimmten Subjekts mit der unmittelbaren Umwelt und Sprache. Wenn die Erzählerin über ihre im Brief geschriebenen Sätze schreibt, „kaum habe ich diese Worte in meinem Kopf gehört, ja, jemand sagte sie mir vor, jemand ließ sie mich hören und denken“ (S. 21 im Band), verweist sie darauf, dass die Vorstellung einer creatio ex nihilo aufgegeben wurde und das Subjekt von nicht näher bestimmbaren Einflüssen geprägt wird. Während in ihrem Text stets diesen Einflüssen nachgegangen wird, bestimmen die nachfolgenden Aufsätze verschiedene Subjektkonstellationen und spüren deren Identitätskontexen nach, indem sie sie sowohl konstruieren als auch dekonstruieren.

Im Abschnitt „HeldInnengeschichten: Identitäts/De/Konstruktionen mit Vorbildcharakter“ steht eine besonders beliebte Identifikationsfigur im Mittelpunkt: die Heldenfigur. Für Niklas Luhmann existiert der Held „innerhalb des Schemas von Konformität und Abweichung“ (Luhmann 1985, 431). Die Heldenfigur regt zur Nachahmung an und entspricht dadurch der Konformität, wobei sie gleichzeitig von Verhaltensnormen abweicht. Während die Eigenschaften von Heldinnen eher in der jüngeren Literatur zu finden sind, ist es bei dem geschlechtlichen Pendant umgekehrt. Denn wenn man sich an die Wurzeln der Heldenidentität nähern möchte, ist es unvermeidlich, heldenhaften Männlichkeitsbildern in frühen Texten nachzuspüren. Die Paradoxie der Figur, egal ob Heldin oder Held, wird dabei in ihren Handlungen sichtbar.

So geht in diesem Abschnitt Eva Binder dem Heldenkult am Beispiel des Dokumentarromans Secondhand-Zeit von Svetlana Aleksievič nach. Dabei interessiert sich Binder für die Frage, wie im Text Aleksievičs mit dem Zerfall der Sowjetunion umgegangen und die damit einhergehende Veränderung der Vorbilder thematisiert wird. In der Sowjetunion wurden Heldenfiguren gefördert, indem Titel wie „Held der Sowjetunion“ oder „Heldenstadt“ verliehen wurden. Binder verfolgt dabei im Text, wie die Entwertung der Heldenfiguren ab dem Zerfall des Landes im Jahr 1991 erfahren wurde. Den dokumentarische Stil des Textes arbeitet sie für die affektiven Identifikationsmöglichkeiten als zentral heraus, da dieser der „Logik der zeitgenössischen Medienwelt entspricht“ (S. 50 im Band). Geschichte wird in diesem Text ästhetisch erfahrbar gemacht und für die LeserInnenschaft aufbereitet. Dabei entfaltet sich ein Spannungsfeld zwischen Fakt und Fiktion, individuellen und kollektiven Erinnerungen sowie Mythisierung und Entmythisierung.

Mit Beispielen aus der Welt der Kinderliteratur spürt Renate Habinger „Heldinnen der etwas anderen Art“ nach (S. 55 im Band). Im Fokus ihres Interesses stehen eigenständige weibliche Figuren, die positiv besetzt sind. Sie zeigt nicht nur, dass in der Kinderliteratur gesuchte Beispiele dünn gesät sind, sondern die Figur des Helden darüber hinaus immer mit männlich zugeschriebenen Eigenschaften konnotiert ist. Daraus resultiert, dass Heldinnen zwangsläufig anderen Merkmalen entsprechen müssen. In ihrer Darstellung einer Genese der Heldin zeichnet Habinger an Hand von sowohl bekannten als auch weniger diskutierten Beispielen nach, welche Motive und Typen sich bei Heldinnen in der Literatur seit 1945 herausgebildet haben. Die hier entdeckten Heldinnen erfreuen sich neuer Charakteristika und heben sich stark von den typisch männlichen Heldenfiguren ab.

Ausgehend von der Gegenwart zeigt Christa Agnes Tuczay, dass aktuelle Eigenschaften von Helden in der Literatur und unsere Vorstellung von ihnen in der Alltagswelt weit zurückreichen und auf mittelalterliche Männlichkeitsbilder zurückzuführen sind. Die durchaus widersprüchliche Heldenfigur oszilliert zwischen Aggression und Furcht und somit zwischen einem bestimmten Idealbild und Figurenbildern, die der Abschreckung dienen soll(t)en. Tuczay verfolgt die Genese des ritterlichen Helden in einer Gegenüberstellung von exemplarischen Texten, in denen Helden standesgemäß dazu erzogen wurden, und Protagonisten, bei denen aufgrund ihrer Sozialisation dies nicht möglich war. Die Identität des Helden ist demnach komplex und seine Figur ist im Ausleben seiner Männlichkeit nicht zuletzt auch durch die widersprüchliche Zusammensetzung immer (auch) tragisch.

Florian Marlon Auernig führt die Untersuchung der komplexen Dimension von Identität fort, indem er in der antiken Dichtung das Schicksal als Identitätsform ausmacht. Anhand von Texten von Homer, Aischylos, Euripides und Sophokles untersucht er die fatalistischen Narrationen und zeigt auf, dass nicht die Abwendbarkeit des Schicksals, sondern das heroische Ertragen desselben für die Erzählungen bezeichnend ist. Die tragische Dimension dieser Heldenidentität unterscheidet sich klar von neuzeitlichen Konzeptionen von Helden und ihrer Identitäten, wobei die antike Identitätskonzeption keinesfalls eindimensional gelesen werden darf. Sie macht deutlich, dass eine Dekonstruktion des heldenhaften Erscheinungsbildes stattgefunden hat, das uns gegenwärtig den Helden inklusive seinen Eigenschaften vorführt.

Im zweiten Abschnitt „Kann ich (jemand) sein? Surreale, Postkoloniale und Postmoderne Identitätsdiskurse“ werden einerseits Theorien auf ihre Anwendbarkeit und Aktualität durchleuchtet, andererseits literarische Texte auf ihre theoretische Funktionalität geprüft. Wichtig ist dabei die Akzeptanz des Verunsichernden oder Fremden. Denn das Fremde, also das, worüber wir nicht oder nur wenig Bescheid wissen, konfrontiert uns mit neuen Möglichkeiten, die unser Wissen als temporär und somit veränderbar erkennen lassen.

Anna Babka zeigt uns im Kontext der postkolonialen Theorie sowie Queertheorie, dass Texte immer performativ sind und etwas hervorbringen, also Identitäten entstehen lassen. Diese können sich aber nicht in einem machtfreien Raum entfalten, obwohl die Lektüre sich in einem kreativ-aktiven Prozess entfaltet. Dies gilt selbstverständlich sowohl für literarische als auch theoretische Texte, die bei jeder Lektüre neu gelesen werden müssen, um ein kanonisiertes (also ein vorgegebenes) Verständnis zu vermeiden. Durch jede erneute Lektüre kommt ein neues Subjekt zustande, auch wenn sich nicht jeder Text in gleicher Qualität für eine Re-Lektüre anbietet. Babka spricht sich gegen ein fixiertes System aus und fordert nach der Akzeptanz von Vorläufigkeit: Denn „nur eine vorläufige Perspektive, die sich aus einer theoriegeleiteten Lektüre ergibt“ (S. 112 im Band) verspricht uns, auch bei bereits kanonisierten Texten neue Be/deutungen zu finden.

Durch das irische Labyrinth Flann O’Briens führt Andreas Hudelist, ohne jedoch einen Ausgang finden zu wollen. Auch bei ihm spielt der Bruch mit bereits bekannten Narrationen eine bedeutende Rolle. Er untersucht intertextuelle Narrationen in den Texten von Flann O’Brien, der nicht nur seine Geschichten neu- und umschreibt, sondern auch seine Autorenfunktion als Schreibender zum Thema macht. Durch die konstant vorzufindende De-Zentrierung der schreibenden Person und der beschriebenen Figuren wird eine Textlektüre ermöglicht, die nicht nur zu neuen Re-Lektüren einlädt, sondern die Möglichkeiten des Textes im Wechselspiel der Bedeutungsproduktion zwischen Autorschaft und Lesepublikum als zentrales Moment der Literatur ausmacht. So entstehen Identifikationsprozesse, nämlich in der eigenen Beziehung zur fremden Welt, die immer mit einer gesunden Portion Eigensinn Möglichkeiten für Handlungsräume bzw. Subjektwerdung nachspürt.

Im dritten Teil des Bandes „Geschichten vom Verwandeln: Neu-Erzählen, Um-Dichten, Weiter-Schreiben“ steht der Umgang mit Altbekanntem im Zentrum.

Das Märchen Schneewittchen nimmt Heidi Lexe zum Anlass, seine Neubearbeitungen und die damit verbundenen Interpretationen auf ihre Vielschichtigkeit zu untersuchen. Dabei zeigt sie auf, dass jeder neue Kontext und jede erneute Interpretation nicht nur die Rezeption des Märchens in der Gegenwart verändert, sondern auch alle bisherigen Bearbeitungen in ein neues Licht stellen.

Mit ihrem essayistischen Beitrag geht Gerda E. Moser an ihrer eigenen Person der postmodernen Diffusion nach. Das Adjektiv postmodern beschreibt für sie eine Intensivierung von Merkmalen der Moderne und ist somit oftmals fehl am Platze, wenn vom Unbestimmbaren die Rede ist. Von Michel Foucault ausgehend zeichnet sie die Komplexität der Moderne nach und zeigt an Hand seiner „Ästhetik der Existenz“ (vgl. Foucault 2007), dass das verortbare Subjekt nicht nur maßgeregelt wird und somit eine eingeschränkte Handlungsmacht besitzt, sondern sehr wohl auch seine Freiheiten ausleben und handeln kann.

Literatur

ABELS, HEINZ (2010): Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

FOUCAULT, MICHEL (2007): Ästhetik der Existenz. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

HALL, STUART (1999): Kulturelle Identität und Globalisierung. In: Hörning, Karl H.; Winter, Rainer (Hrsg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 393–441.

HENNING, TIM (2012): Personale Identität und personale Identitäten – ein Problemfeld der Philosophie. In: Petzold, Hilarion G. (Hrsg.): Identität: Ein Kernthema moderner Psychotherapie –Interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden: Springer.

ISER, WOLFGANG (1974): Die Appelstruktur der Texte. In: Warning, Rainer: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: W. Fink, 228–252.

KRAUS, WOLFGANG (2002): Falsche Freunde. Radikale Pluralisierung und der Ansatz einer narrativen Identität. In: Renn, Joachim; Straub, Jürgen (Hrsg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst. Frankfurt/M.: Campus, 159–187.

KUBITZA, THORSTEN (2005): Identität Verkörperung Bildung. Pädagogische Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners. Bielefeld: transcript.

LUCIUS-HOENE, GABRIELE (2002): Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Wiesbaden: Springer.

LUHMANN, NIKLAS (1985): Die Autopoiesis des Bewußtseins. In: Soziale Welt 4, 402–446.

MITTERER, NICOLA (2016): Das Fremde in der Literatur. Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik. Bielefeld: transcript.

NEUHAUS, STEFAN (2009): Literatur und Identität. Zur Relevanz der Literaturwissenschaft. In: Magerski, Christine; Vidulić, Svjetlan Lacko (Hrsg.): Literaturwissenschaft im Wandel. Aspeke theoretischer und fachlicher Neuorganisation. Wiesbaden: VS Research, 81–97.

NUNNER-WINKLER, GERTRUD (2002) Identität und Moral. In: Renn, Joachim; Straub, Jürgen (Hrsg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst. Frankfurt/M.: Campus, 56–85.

REESE-SCHÄFER, WALTER (1999): Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Identität und Interesse. Der Diskurs der Identitätsforschung. Wiesbaden: Springer, 7–45.

RENN, JOACHIM; STRAUB, JÜRGEN (2002): Transitorische Identität. In: Dies. (Hrsg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst. Frankfurt/M.: Campus, 10–32.

RÖTTGERS, KURT (2016): Identität als Ereignis. Zur Neufindung eines Begriffs. Bielefeld: transcript.

SPINNER, KASPAR H. (2013): Identitätsorientierter Deutschunterricht heute. In: ide. informationen zur deutschdidaktik 3, 29–37.

TOMLINSON, JOHN (1999): Globalization and Culture. Cambridge: Polity Press.

WELSCH, WOLFGANG (1990) Identität im Übergang. Philosophische Überlegungen zur aktuellen Affinität von Kunst, Psychiatrie und Gesellschaft. In: Benkert, Otto; Gorsen, Peter (Hrsg.): Von Chaos und Ordnung der Seele: Ein interdisziplinärer Dialog über Psychiatrie und moderne Kunst. Heidelberg: Springer, 91–106.

WETZEL, MICHAEL (2015): Der Autor als Rezipient – Der Rezipient als Autor. Oder. Wie man (sich) das „Große Glas“ anschaut. In: Caduff, Marc; Heine, Stefanie; Steiner, Michael (Hrsg.): Die Kunst der Rezeption. Bielefeld: Aisthesis, 257–268.

Literarischer Beitrag

Auszug aus dem Roman
Annuschka Blume

Marjana Gaponenko

Mein lieber Piotr,

kaum habe ich angefangen, diese Zeilen zu schreiben, kaum habe ich diese Worte in meinem Kopf gehört, ja, jemand sagte sie mir vor, jemand ließ sie mich hören und denken, wurde es bitter in meinem Hals, und jetzt kämpfe ich mit den Tränen. Mein lieber Piotr, irgendetwas lässt mich denken, irgendetwas erfüllt mich mit Gedanken, füllt mich wie einen Luftballon. Ich schwebe nicht hier, nicht sichtbar, nicht einmal für mich selbst, ich schwebe in einer Sphäre, von der Menschen nichts wissen. Nichts ist meines, lieber Piotr. Diese Worte sind nicht die meinen, die Gedanken, die so geheim, so verborgen sind, sie gehören nicht mir. Sie ziehen wir Züge durch mich hindurch. Aus der Leere durch die Leere ins Leere, und es wird heiß. Es wird heiß, lieber Piotr. Ich kämpfe mit den Tränen. Wenn ich mich fragen würde, warum, woher diese Bitterkeit im Hals kommt, würde der Zauber vergehen. Ich hätte eine Antwort und eine Lösung, aber ich will nichts wissen, und ich weiß alles sehr wohl. Der Schlüssel für das Glück baumelt an meiner Hand und ich will ihn nicht ergreifen, denn das wäre zu einfach. Das Glück ist einfach, es ist wie das Ende der Reise, aber ich will noch ein bisschen weiterfahren. Ich lasse mich weiterfahren, und ich weiß, es ist nicht mein Wille. Es ist der Wille dessen, der mich denken lässt, der mich schreiben lässt: Lieber Piotr…

Ob ich unglücklich bin? Auch ein unglücklicher Mensch ist doch ein glücklicher, allein weil es ihm gegeben ist zu empfinden. Ob Freude, Schmerz, Furcht oder Scham – man ist glücklich, weil man fühlt und weil man ist. Aber man ist nicht undankbar, wenn man sich mitunter unglücklich fühlt. Undankbar ist, wenn man vergisst, wie kostbar dieses und jenes Gefühl ist. Dankbarkeit ist nichts als das bloße Wissen um seinen Platz im All, sich in das Bild des Universums zu fügen. Wir denken mit der Seele. Unserer Seele wird gedacht.

Mein lieber Piotr Michailowitsch, ich zweifle, dass es Sie gibt. Ich bekomme Briefe von Ihnen, kostbare, herrliche Briefe mit Stempel, mit Briefmarke, Briefe aus deinem fernen Land. Es muss Sie also geben. Heute ist mir jedoch, als wäre ich Sie. Heute komme ich mir einsam vor und doch so erfüllt, als wären wir zu Tausenden da, ein Schmetterlingsschwarm. Ich möchte Ihnen danken für Ihre Zeilen.

Es ist Sonntag. Ich wachte auf und tat, was ich immer tue, jeden Morgen, Morgen für Morgen: Ich trat zu meinem Spiegel. In meinem Spiegel ist immer dasselbe zu sehen: eine alternde Dorflehrerin, ihre Augen, meine Augen. Ich nenne sie meine Augen. Ich kann sie öffnen und schließen. Ich scheine ihnen zu befehlen. Manchmal stehe ich so und halte meine Augen eine Weile geschlossen, und dann fange ich an, ihnen zu befehlen: Öffnet euch! Dabei lasse ich es nicht zu. Ich höre dann die zwei Stimmen in mir und viele andere dahinter, unzählige zur gleichen Zeit. Das macht mich schwindelig. Piotr Michailowitsch, lieber Freund, wie einfach ist alles, schauen Sie: Man kämpft mit sich selbst, und die Notwendigkeit gewinnt letztlich die Oberhand. Diesmal war es die Wanduhr. In unserem Alter darf man die Zeit nicht aus den Augen lassen, nicht wahr! Also machte ich sie auf, nahm mein Bad rauchte meine Morgenpfeife (Im Gedenken an Sie, weil ich Sie mir so vorstelle, mit einer Pfeife im Mund) und sang das Lied des Harfenmädchens:

Heute, nur heute

bin ich so schön;

morgen, ach morgen

muss alles vergeh’n!

Nur diese Stunde

bist du noch mein;

sterben, ach sterben

soll ich allein.

Fragen Sie mich nicht, warum mir dieses Lied so sehr zu Herzen geht. Schön war ich nie. Von der Liebe weiß ich kaum etwas, und dass ich allein sterben muss, war mir schon immer klar. Seltsam, dass man Dinge tut und sagt, die gar nicht zu einem passen. Je älter man wird, umso verzweifelter spielt man den anderen, wenn man sich selbst nie gewesen ist, wenigstens nicht eindeutig. Meine selige Mutter pflegte mich mit allen möglichen Namen zu rufen, nur nicht mit meinem richtigen. Ich hörte auf Rosa, Mimosa, Wolke, Tröpfchen, Fischlein, Holzfuß, Holzkopf, Schandfleck, Motte und Biber, und ich muss zugeben, ich habe mich an jeden der Namen angepasst. Je öfter und je andächtiger meine Mutter mich Motte nannte; umso mottenhafter wollte ich sein; umso mottenhafter wurde ich. Ich dachte, meine Mutter nennt mich nicht umsonst so, nicht umsonst drückt sie dabei ein Auge zu, nicht umsonst reißt sie ihre Augen auf, sodass sie wie kalte Steine funkeln, nicht umsonst bläht sie ihre Nüstern. Hinter jeder Geste wie hinter jedem Wort liegt eine leise Beschwörung, die Hoffnung auf eine Tat. Also tat ich, was von mir erhofft wurde. Ich wusste nicht, was ich tat. Mal spürte ich die Motte in mir wie in einer Laterne. Mal hinkte ich und zog meinen Fuß hinter mir her, um der Mutter zu imponieren. Mal war ich blumig, weinerlich, leicht, flink wie eine Forelle, dumm wie eine Nuss. Mal blamierte ich mich mit Absicht, sodass im Dorf noch wochenlang von mir die Rede war, mal fletschte ich die Zähne, ohne zu wissen, warum. Ich dachte auch nicht darüber nach. Ich war ein Biber, und der Biber fragt nicht, warum er Biber ist und kein Baum. Es gelang mir, alles zu sein, meinen vielen Namen immer alle Ehre zu machen. Nur schön war ich nicht. Weil ich niemals so genannt wurde. Ich war alles, und ich spielte mich selbst in den mannigfaltigsten Namen, die mir Menschen gaben, die ich gar nicht mehr kenne, die mein Leben nur flüchtig berührten: Passanten, Marktfrauen, Wahrsagerinnen auf der Straße, meine Schüler, deren Fantasie keine Grenzen zu kennen scheint.

Jetzt möchte ich das schöne Harfenmädchen sein, lieber Piotr Michailowitsch. Ich traue mich mit verzweifelter Anstrengung, Harfenmädchen zu sein, so sehr, wie Sie sich nicht trauen, mich so zu nennen. Das bin ich aber, Piotr, das bin ich immer gewesen.

In den Spiegel zu schauen, oh, das ist eine Kunst. Wie der Betrachter so das Bild, wie der Baum so die Frucht. Jahrelang warf ich meinen schwarzen Blick in den Spiegel und dachte, er würde zerbrechen und eine schwarze, samtige Leere entblößen, die man betreten, in der man verschwinden könnte, wenn man wollte – ein Ausgang. Ich habe nicht stark genug geschaut. Heute wachte ich auf, und ich spürte neben dem Gedanken an den Ausgang, dass da noch ein anderer, unbestimmter, geheimnisvoller Gedanke war. Ich hörte sein Summen, seinen Pulsschlag, sein junges Herz. Na gut, dachte ich mir, mal schauen. Und ich warf meinen Blick in den Spiegel hinein. Möge der Blitz mich treffen, wenn ich jetzt lüge, aber so war das wirklich: Der Spiegel zerschmolz! Ja, und es wurde mir sofort klar: Mit Lässigkeit erreichen wir unser Ziel. Lässig werden Sterne geboren. Lässig steigen Blumen aus ihrem Erdengrab. Lässig entstehen Wolken aus Wassertropfen und winzigen Eiskristallen. Für ein Wunder ist die leiseste Regung des Willens ein Todesurteil. Das wurde mir klar. Und ich freute mich, dass ich niemals stark genug geschaut hatte. Ich freute mich, dass der schwarze, samtige Ausgang mir versperrt geblieben war. Ich staunte, wie lässig der Spiegel schmolz, wie selbstverständlich, und ich staunte, dass ich darüber staunte. So wie Blumen sprießen, war es nichts als ein gewöhnliches Wunder. Ich kniff meine Augen zu, und eine köstliche Kindergeschichte von einem italienischen Schriftsteller kam mir in den Sinn – die Geschichte vom Eiscreme-Palast. Einmal in Bologna …

Einmal erschien in Bologna ein Eiscreme-Palast, direkt auf der Piazza Maggiore, und von weitem kamen Kinder herbei, um an ihm zu lecken. Die Dachspitze war aus geschlagener Sahne, der Rauch aus dem Kamin war aus Zuckerwatte und das Kaminrohr aus kandierten Früchten. Alles andere war aus lauter Eiscreme: Türen aus Eiscreme, Wände aus Eiscreme und alle Möbel auch. Ein Kleinkind blieb an einem Tisch kleben und leckte ihn ab, Bein für Bein. Schließlich brach der Tisch zusammen, samt den Tellern, die aus feinstem Schokoladen-Eis waren. Von irgendwoher kamen Wächter angerannt, sodass ein Fenster sich auflöste von der hereinströmenden Wärme. Die Fensterscheiben waren aus Erdbeer-Eis, und sie zerflossen in rosafarbenen Bächen. „Schnell!“, riefen die Wächter: „Schneller!“ Und sie alle begannen, schneller zu lecken, damit nicht der kleinste Tropfen dieses Meisterwerks verloren ging …

Das kam mir in den Sinn, während ich vor dem schmelzenden Spiegel stand und – der Blitz möge mich ein zweites Mal treffen, wenn ich lüge – als mir ein kühles Lüftchen entgegenwehte. Ich kniff die Augen noch fester zu. Je fester ich die Lider zusammenpresste, umso wundersamer roch es aus dem verschwindenden Spiegel. Es roch unerträglich wahr – nach Herbst. Nach dem Herbst, als der 17-jährige Dichter Eugène Émile Paul Grindel, später genannt Paul Éluard, im Schweizer Sanatorium Clavadel auf die 17-jährige Russin Jelena Dmitrijewna Djakonowa, später genannt Gala, traf und sich verliebte. Es roch nach Neruda-Herbst, als Neruda seine Rosa sah. Es roch nach rostigem, revolutionärem, kahlköpfigem Herbst, als Majakowski seine Lilja Jurjewna Brik kennenlernte. Mein Gott! Ich wäre gerne erblindet, um es nicht zu riechen. Mit beiden Händen bedeckte ich mein Gesicht. Es nützte nichts. Der Duft kroch zwischen meinen Fingern hindurch, durch meine Haut und durch Knochen. Efeu. Ich war dem Ersticken nah, ich lächelte. Durch die Zähne zischte ich mein Harfenmädchenlied. Ich schritt auf den Spiegel zu, lässig, willenlos. Ich ließ mich schreiten von meinen Schritten, die sich von ihrem eigenen Echo schreiten ließen und so bis in Unendlichkeit. Piotr Michailowitsch, ich habe den Spiegel betreten. Wie? Wissen Sie, wie ich es tat? Ich weiß es nicht. Aber ich tat es. Willenlos und lässig, wie ich mich ihm näherte, so betrat ich ihn. Muss ich ihn betreten haben. Und ich sah eine Waldlichtung. Sie war so plötzlich in meinem Blickfeld wie ein Staubkörnchen. Der Boden war mit bunten Blättern bedeckt. In der Mitte der Waldlichtung saßen Sie an Ihrem Schreibtisch, der farblich vorzüglich zum Laub passte. Blätter rieselten auf Sie herunter, auf den Tisch, auf Ihre Hände. Ich sah Sie schreiben, schreiben, schreiben. Ich sah mich selbst, wie ich da stand und auf Sie schaute.

Wie Sie in Ihrem Brief so schön sagten: Es ist unmöglich, an nichts zu denken. Gedanken seien die Luft der Zeit, die uns erfüllt. Das finde ich sehr richtig. Manchmal werden wir mit dieser Luft im ungünstigsten Augenblick aufgepumpt, und nur einem Wunder haben wir es dann zu verdanken, dass wir nicht platzen. So wurde ich von einem Gedanken überfallen: Mein Pünktchenkleid, das zum Trocknen auf der Wäscheleine hing, fiel mir ein. Warum, um Gottes willen? Warum gerade jetzt, wo alles endlich schön und gut war? Da lag ich plötzlich auf dem Boden meines Zimmers, die Waldlichtung war weg, Ihr Tisch, Sie, Piotr, und wo ich so dalag, fiel mir ein, dass ich gar kein Pünktchenkleid habe. Ich ging aber trotzdem hinaus, um zu schauen, ob etwas auf der Wäscheleine hing. Ein Blumenstrauß vielleicht, eine Zeitung, ein Pelzkragen? Gedanken fielen über mich her. Ich dachte an meine selige Mutter, an die Wäscheleine um ihren Hals, an einen Schuh, der verlegen dalag, unter ihrem Körper, der im Wind schaukelte. Ich dachte, wie ich damals gedacht hatte: wie in der Wiege, wie in der Wiege, Mutter in der Wiege. Ich dachte an eine Kuh, die einmal mein Blumentuch von der Wäscheleine gefressen hatte und kurz darauf gestorben war. Ich dachte, wie ich damals gedacht hatte: Blumen sind giftig. Mehrmals habe ich danach versucht, Blumen zu essen, um diesen Gedanken zu bestätigen. Kleine Waldblumen mit zarten Blüten schmecken erträglicher als robuste Feldblumen. Feldblumen sind die Pest, wenn Sie mich fragen, lieber Piotr Michailowitsch. Ich dachte noch an viele andere Dinge, während ich so vor der leeren Wäscheleine stand. Vor allem dachte ich an Ihren Brief und den Satz vom Nichtdenken, dass es auch ein Gedanke sei. Dass es etwas oder jemanden geben müsse, der uns damit füllt, das wollte ich denken. Ich wollte schweben. Schweben wie ein Luftballon, in einer Sphäre unsichtbar für Menschen. Aber diesmal fehlte mir der Glaube dazu. Also ging ich zurück auf mein Zimmer und tat, was ich sonntags immer tue: Ich korrigierte die Hausarbeiten meiner Schüler. Achtzehn Aufsätze zum Thema „Sterne“ lagen auf meinem Schreibtisch.

Ich wähle nun schon seit fast dreißig Jahren solche Aufsatzthemen, um den Kindern eine Gelegenheit zu geben, ein bisschen zu träumen. Je unglaubwürdiger die Tatsachen, je absurder der Inhalt, umso besser die Note. Da wird auch auf Grammatik keine Rücksicht genommen. Wen kümmert Grammatik in der Ukraine? Kühe haben nichts dagegen, wenn man Milch mit ie schreibt. Außerdem sind unsere Staatsbürger auf die mündliche Rede angewiesen, und das Wichtigste an der mündlichen Rede ist, dass man redet. Und reden kann das Kind, wenn es träumen kann. Zu einem schüchternen Kind sage ich immer: „Sieh zu, dass du Fehler machst, Kleines“, und streichle seine Wange. Einem kleinen Intellektuellen mit dicken Brillengläsern sage ich: „Bloß keine harten Tatsachen, Freundchen, sonst bleibst du sitzen!“

Der erste Aufsatz, der auf dem Stapel lag, war von einem Mädchen namens Katja. Ihr Vater war letztes Jahr in der Grube verunglückt, er wurde niemals ausgegraben. Sie sagte aber immerzu, ihr Vater wäre Seemann und auf hoher See. Die Kinder lachten und nannten ihren Vater einen Säufer. Katja weinte und trocknete sich die Wangen mit ihren dicken Zöpfen. Neulich war es dann so weit, dass ich mich einmischte: An einem Morgen betrat ich den Klassenraum mit einem Brief, der angeblich von Katjas Vater stammte. Ich las ihn feierlich vor:

Sehr verehrte Anna Konstantinowna,

da ich mich im Moment in einer wichtigen Mission auf hoher See befinde, die mich die nächsten 50 Jahre in Anspruch nehmen wird, und es mir nicht möglich sein wird, mich um meine geliebte Tochter Katja zu kümmern, möchte ich Sie bitten, ein bisschen auf sie aufzupassen und sie zu unterstützen. Einmal im Jahr werde ich ihr zu ihrem Geburtstag schreiben und von meinen wichtigen Entdeckungen berichten.

Mit Kapitänsgrüßen

Iwan Kusnetsow

Katja strahlte und weinte zugleich. Die Klasse schwieg. Danach wurde sie von allen mit Neid und Bewunderung angeschaut. Ich nahm ihren Aufsatz zur Hand.

Katja Kusnetsowa

5 A

Aufsatz

Sterne und wir

Ich weiß nicht so recht, woraus Sterne gemacht sind. Wenn ich spät am Abend im Gras vor unserem Haus liege und Grillen und verschiedene andere Käfer höre, scheint es mir, dass Sterne weiße Käfer sind, die am Himmel kleben. Sie sind immer da, man sieht sie nur besser, wenn es dunkel wird, weil sie weiß sind. Wenn die Sterne keine Käfer sind, sondern tatsächlich Riesensteine ganz weit weg im Kosmos, so würde ich wirklich gerne wissen, warum sie leuchten. Vielleicht, damit die Menschen sie sehen und vielleicht eines Tages zu ihnen reisen können. Vielen Dank übrigens, Anna Konstantinowna, für Ihre Güte. Mein Vater konnte nicht schreiben, aber wenn Sie mir zum Geburtstag einen Brief von ihm schicken möchten, wäre ich sehr froh. Grüßen Sie ihn von mir.

Ich schrieb darauf nicht zurück, ich dachte nur: Mein liebes Kind, ja …