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Moyshe Kulbak

MONTAG

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Ein kleiner Roman

Aus dem Jiddischen von
Sophie Lichtenstein

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Inhalt

1 Mordkhe Markus, der Mensch

2 Der Große Bär und die Revolution

3 Reb Yude*

4 Stesye und Gnesye

5 Der verdorrte Storch

6 Der Feind, der Feind!

7 Erste Mondnacht

8 Mordkhe Markus, der Künstler

9 Masse

10 Gäste, Gespräche, Geschrei usw.

11 Montag

12 Weiter! … Weiter!!!

13 Ein Heiratsvermittler

14 Zweite Mondnacht

15 Mordkhe Markus klärt auf über verschiedene Begriffe sowie über die Philosophie des Untermenschen

16 Die Gesellschaft

17 Reb Yude

18 Mishe macht seine Sache, und Mordkhe macht seine ebenfalls

19 Die kleinen Tsadikimlekhsind wieder da

20 Mordkhe Markus spricht das Vidui*

Sophie Lichtenstein Nichts an diesem Roman ist klein

Anmerkungen

1

Mordkhe Markus, der Mensch

In der Stadt, der revolutionären, lebte ein Lehrer für Hebräisch, der ein ruhiger Mensch war – Mordkhe Markus. Er wohnte allein, oben in einem Dachstübchen, und hatte oft viel Zeit, die Nächte damit zuzubringen, bis in den Tag hinein über dicken Büchern zu sitzen. Dabei dachte er in aller Ruhe über den Lauf der Dinge nach.

In seinem Zimmer stand in einem dunklen Eckchen ein Sofa, ziemlich abgetakelt und zerschlissen, auf dem er an so manchem Abend mit einem Zigarettchen im Mundwinkel zu liegen pflegte, im Halbschlaf vor sich hin träumte und sich so gründlich in etwas hineindachte, dass ihm gelegentlich der Kopf davon rauchte.

In der Stadt, so schien es, kannte ihn niemand und selbst sein Vater hatte ihn bereits vergessen, weshalb er in Ruhe auf dem Dachboden leben und sein Nachsinnen genießen konnte. Aber wie man weiß, hatte er doch eine gute Bekannte, Fräulein Gnesye, die oft zu ihm heraufkam, um einige Stunden bei ihm zu sitzen und mit ihm in der Stille eine feinsinnige Unterhaltung zu führen. Und wie man weiß, pflegte Mordkhe Markus dann, ihr gegenüber seine tiefsten Gedanken zu offenbaren.

Er vertraute sich ihr vollkommen an.

Es kam mitunter vor, dass Fräulein Gnesye gemächlich zu ihm ins Dachkämmerchen hinaufstieg, hochgewachsen und mager wie sie war, ihm mit einem Lächeln einen guten Abend wünschte, und Mordkhe Markus sofort aufsprang, um sie zum Tisch am Fenster zu geleiten – und sogleich fand in diesen Augenblicken das feinsinnige Gespräch der beiden seinen Anfang. Fräulein Gnesye saß mit ihrem Schirmchen in der Hand ans Tischchen gelehnt, ihre Füße steckten in weißen Socken und sie bog ihre Beine – deren Füße in Schuhen mit sehr hohen Absätzen steckten –, wie ein Hund seinen Schwanz, und sie lauschte, sie lauschte.

Fräulein Gnesye war wie einem Buch entsprungen.

Mordkhe Markus sprach zu ihr mit einer so großen Begeisterung über all das Erhabene; aber wenn er anschließend wieder allein war, begann er zu grübeln. Und es verdross ihn, wenn er wieder einmal zuviel geredet hatte. Dann streckte er sich auf dem Kanapee aus und dachte so lang und dachte so gründlich darüber nach, dass man seine Gedanken beinahe berühren konnte.

Und erst dann war es Mordkhe Markus zufrieden.

Er hatte eine Angewohnheit, Mordkhe Markus, die ihm schon seit seiner Jugendzeit eigen war: An einfachen Montagen setzte er sich neben das Fensterchen, stützte sich auf seine Arme und blickte hinunter auf die Straße, auf die Armenleute, die von Haus zu Haus gingen, um zu betteln, und er betrachtete sie, die bleichen Vagabunden, und spürte ein befremdendes, dumpfes Zittern in seiner Seele. So wie er betrachtete man gelegentlich die Priester im Bes-medresh*, die sich darauf vorbereiten, den priesterlichen Segen auszusprechen. Er sah dabei zu, wie Menschen schweigend einer heiligen Tätigkeit nachgingen, der er sich noch nicht gewachsen fühlte.

„Pure Armut ist erhaben“, dachte er.

Und Mordkhe Markus, der von seinem Dachkämmerchen aus auf die Straße, die revolutionäre, blickte, gewann zwei Greisinnen lieb, die in Kopftücher gehüllt waren, die Haare im Nacken zu einem Knoten gebunden trugen und die jeden Montag und Donnerstag auf der Schwelle der Häuser erschienen, die so niedrig waren, wie kurze, aus der Erde emporgewachsene Steinpilze. Er blickte ihnen nach und verstand dabei etwas nicht.

Er verstand nicht, was allen anderen eigentlich ganz klar zu sein schien.

Und Mordkhe Markus dachte unterdessen weiter nach.

Eines Tages, als es außerhalb der Stadt unruhig war, lag er dort im Dachkämmerchen in seine alten Kleider gehüllt, träumte in den Tag hinein und hörte plötzlich eine Schießerei.

Es knallte dort draußen, ganz lebendig und regelmäßig.

Er ging zum Fensterchen, beugte sich hinaus, um über die Straße blicken zu können – und sah niemanden, aber aus einem der Mauervorsprünge kam allmählich ein Kopf, ein vorsichtiger, zum Vorschein und blickte die Straße entlang. Mordkhe Markus fragte ihn, den Kopf:

„Pani*, warum wird denn geschossen?“

„Ich weiß nur, dass jemand angefangen hat zu schießen – also schießt man zurück.“

Daraufhin beschloss er, das Fenster zu schließen und für eine längere Zeit nicht mehr hinauszugehen – im Dachkämmerchen würde es schon ruhig bleiben.

Und von diesem Zeitpunkt an also saß er, Mordkhe Markus, im Haus. Er kochte sich Tee, aß Brot dazu und vertiefte sich in seine Bücher. Immer lag dabei vor ihm auf dem Tisch das Buch Hiob, in das er mit seinen riesigen Augen hineinlas und das ihn über alle Maßen vergnügte:

„Sie erhoben ihre Augen, sahen in die Ferne und erkannten ihn nicht, da erhoben sie ihre Stimmen. Und ein jeder zerriss seinen Mantel, und sie warfen Asche über ihre Köpfe in Richtung Himmel und saßen bei ihm auf der Erde …“*

Genauso lebte er dort im Dachkämmerchen, Mordkhe Markus, in Ruhe und in stillen Freuden.

2

Der Große Bär und die Revolution

Der Große Bär hing in jener Nacht wie absichtlich am Himmel.

Die Stadt, die revolutionäre, schoss in die Höhe und stieg hinunter in die Tiefe. Die Masse, die den Markt- und den Paradeplatz füllte, bewegte sich geduckt in die Seitenstraßen hinab – als würden sich Hände und Füße aus der Finsternis in die Straßen hineinstrecken.

Es war still.

Das schwache Sternenlicht beleuchtete in der Masse einzelne Schultern, zerzauste Bärte bei den Mitglieder der Lastenträgervereinigung, dicke Schnurrbärte bei den Metallarbeitern und irgendwo, weiter hinten, zwischen den Steinhäusern, die mageren Schneider.

Fahnen wehten in der reinen Stille.

Und sie stand verborgen, die Masse, beinahe wie von den Straßen der Stadt verschluckt, und sie lauschte.

Ein früher Frost zog heran, leer und erschöpft, wie der kalte Gedanke der Masse, die, hohl und dahingegossen, nachdachte. Aus ihren tiefen Augenhöhlen blickten Schafsaugen in die Nacht hinein, mit verborgenem Erstaunen, und ein Mensch war dem andern gleich, ein Puls folgte still dem anderen, und war von innen hohl, wie eine verschüttete Höhle.

Ein Bundist* schwirrte umher, er rannte umher, weil er sich verspätet hatte, rannte hierhin und dorthin:

„Wo steht der Bund, Genossen? Wo steht der Bund?“

Und seine Spur verlor sich in der Dunkelheit. Und darüber hing der Bär, und aus einem kühlen, silbernen Faden webte er reine Stille über der Finsternis.

Mordkhe Markus stand dort zitternd in seinem Sommermäntelchen, aber mit erhobenem Kopf blickte er dem edlen Lauf der Sterne nach und dachte, dass es auf der Welt ruhig und unruhig zugleich zugehe.

Am anderen Ende des Marktplatzes, weit entfernt, ertönte eine Stimme …

Die Masse rührte sich kaum, und auf einmal erscholl ein Schrei, wie aus einem Grab, sodass sich einem das Herz zusammenzog und niemand, niemand wusste, dass es so etwas gibt:

REVOLUTION!

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In die Stadt kam zunächst ein gepanzertes Automobil gekrochen, kalt und finster schleppte es sich hinein, wie ein Ungeheuer, und schwang dabei eine kleine rote Fahne.

Reiter in Bastschuhen kamen auf ausgemergelten Schindmähren angeritten.

Chinesen.

Hirten fanden sich mit ihren Gewehren ein.

Und oben auf der Tribüne, wo Fackeln brannten, stand bereits ein hagerer Typ mit einem schwarzen Bärtchen, dessen Haut in der Nacht fahl schien, und schnell erklärte er seine revolutionäre Haltung.

Der Morgen graute.

Die mit Stimmung aufgeladene Masse erstarrte im Frost des frühen Morgens. Sie stierte stur geradeaus zur Tribüne, wo mittlerweile ein winziger, glattrasierter Redner mit einer großen, gerahmten Brille auf der Nase Stellung bezogen hatte. Dieser Redner stand da wie angewurzelt, war vollkommen regungslos, und seine schneidende Stimme befahl etwas in harschem Ton, woraufhin sie, die Masse, sofort beschloss, zu gehorchen.

Ein stilles Windchen ließ die großen, am Platz aufgehängten Fahnen flattern, Häuser, die an ihren Wänden Plakate trugen, auf denen brennende Städte zu sehen waren, stachen ins Auge. Haus um Haus. Und im Morgengrauen hatte das viereckige Rot von überall her die Ruhe und die Welt durcheinandergebracht und in einen tiefen Schrecken versetzt, wie mit vergossenem Blut:

REVOLUTION!

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Mordkhe Markus, der Revolutionär, wurde im Gedränge von seiner Partei fortgezogen. Er ging die Straße langsam hinab, blieb stehen, blickte gedankenverloren umher und saugte das kalte Grau dieses seltsamen Tagesanbruchs auf. In ihm entstand ein wichtiger Gedanke, aber er konnte nicht sagen, welcher.

In der Ferne war im Nebel der Berghang zu sehen, der hinter der Stadt liegt. Einzelne Arbeiter mit hochgestellten Kräglein überquerten die Straße eilig auf dem Heimweg. Und dort unten, neben der Tür des jüdischen Arztes Bitshkovski, sprang ein Reiter übermütig von seinem Pferd – vermutlich Mishe, Bitshkovskis Sohn, der mit der Roten Armee zurückgekehrt war. Vom Marktplatz hallten Fetzen laut gesungener Lieder: Auch dort geschah etwas Wichtiges, und doch war es seltsam unheimlich auf dieser abseits gelegenen Straße.

Er eilte zügigen Schritts bergab. Er überquerte das kleine Brückchen, das seine Schritte fahl widerhallen ließ, und bog in Richtung der Felder ab, zum Hang des Bergs hin. Die dicken Schnurrbärte der Metallarbeiter erschienen vor seinem Auge wie eine Momentaufnahme fast erfrorener Spatzen, die behäbig aus ihren Nestern fliegen.

Und dicht über seinem Kopf schimmerten riesige, polierte Sterne.

Er saß allein oben auf dem Berg, stützte sich mit seinen roten Händen auf einen Stein und blickte still und gedankenverloren umher. Er war sehr nachdenklich. Es schien, als würde er einen langen Weg zurücklegen, ohne dabei einen Gedanken im Kopf zu haben. Eine unbestimmte Dunkelheit lastete auf ihm, die sich langsam auflösen wollte. Er erhob sich, und mit einem Mal erschien es ihm, als sei dieser gekrümmte Berg weit in eine reine Welt hineingerückt, in der es keine Menschen mehr gab. Dort schwebte sein Gedanke umher, der sich vom Körper gelöst hatte; er saugte das gesamte um ihn liegende All ein und sah, sah nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem schimmernden Kristall der Seele. Er sah den Großen Bären am Himmel.

Und während Mordkhe Markus schließlich den Berg hinabging, begriff er diese Dunkelheit, die sich wie Haare in seine Seele hineingewebt hatte.

Er hatte etwas, etwas verstanden.

Mit leichtem, federndem Schritt ging er durch die Straßen und bog zum Hof der Synagoge ab, dorthin, wo der Hekdesh* für die Armenleute steht. Er ging hinein, um seine neue Botschaft zu überbringen, die niemand, so schien es, verstand, aber im Hekdesh empfing man ihn trotzdem wie einen der ihren.

So jedenfalls erzählte man sich danach.

Er hielt sich dort einige Tage zwischen den Armenleuten auf und sprach mit ihnen, mit einem nach dem anderen, wie in einem Fieberwahn, und die Armenleute versammelten sich in Grüppchen um ihn herum; man hörte ihm bis zum Ende zu, und niemand antwortete ihm. Das war ein wunderlicher Umstand, aber man erfuhr, dass Mordkhe Markus damals nichts mit dem Menschen zu tun haben wollte, die Gesellschaft lästerte und bitter den Shabbes* verhöhnte, den gewöhnlichen Montag hingegen über alle Maßen lobte, den Tag, an dem die Armenleute betteln gingen.

3

Reb Yude*

Die Stadt hielt an wie eine Uhr, die man übersehen hatte und die deshalb stehengeblieben war. Es triefte ein krummer, langanhaltender Nieselregen herunter, und die dicken Wolken, knäuelig aufgeblasen, hingen so dicht über den Steinhäusern, dass der Himmel nicht mehr zu sehen war.

Ein Jude stand wie an eine Wand geklebt, sodass einen Mitleid überkam, denn es schien, als würde er sein gesamtes restliches Leben dort so stehen müssen.

Ganz gebrochen ging der Kleinbürger umher. Er ging mit aufgekrempelter Hose, mit verrutschtem Hütchen umher und wedelte mit einem Stöckchen, mit einem Stöckchen … Und das Auge des Revkoms* blickte ihn vorsichtig und böse an.

An diesen kühlen Tagen erstarrten die Kreuze und die hohen Türme der Stadt in einer merkwürdig nackten Gleichgültigkeit, und sie behaupteten, dass es ihnen einerlei sei und was auch immer geschehen möge – für sie würde es nicht unerwartet eintreffen.

Gegenüber der Reihe von Läden hing von den Telegraphendrähten kopfüber eine tote Katze, deren Fell sich vom Regen abgelöst hatte, und unter den Bürgern auf dem Marktplatz fand sich niemand, der den toten Körper herabgeholt hätte.

Kleine Einheiten von Soldaten, grauen, gingen von Zeit zu Zeit mit revolutionärem Schritt vorbei, hinab zu ihren Kasernen.

Einer der Läden stand offen. Reb Yude, das magere Krämerlein für Gemischtwaren, saß schlummernd vor seinem Laden mitten auf der Veranda. Innen, im hohen, mehlbestäubten Geschäft, bog sich ein schwerer Sack Hafer auf einer Erhebung, und auf dem Regal stand ein Einmachglas, ein von Fliegen umflirrtes, mit Konfekt aus der Vorkriegszeit.

In der letzten Zeit waren die Einnahmen in Reb Yudes Geschäft gering, aber er, Yude, war kein Mensch, der dem Verdienst hinterherjagte, und es kümmerte ihn auch nicht.

Ein kleines Mädchen kam gelaufen, lief barfuß über den Marktplatz, und mit ihrem Zöpfchen, einem fisseligen, lief sie direkt zu ihm in den Laden und bat ihn, mit einem ebenfalls fisseligen Stimmchen:

„Geben Sie mir für eine Kranke etwas Süßes, aber nichts Verdorbenes.“

Nicht einmal jetzt erhob sich Reb Yude.

Während er dabei war, sich auszuruhen, wollte er einfach nicht. Er betrachtete das Mädchen von der Seite. Er kratzte sich und schlug ihr vor, wiederzukommen, vielleicht, vielleicht ein anderes Mal.

Als das Mädchen aber stehenblieb, wurde er doch ärgerlich:

„Ein Mädchen sollte kein Konfekt essen! … Wie schade wäre das ums Geld! … Pah, Mädchen, das ist unanständig …“ Und er blieb fast schlummernd auf seinem Klötzchen sitzen, einen Ärmel in den anderen gesteckt, dachte über seine schlechte Angewohnheit nach, immer nur im Laden zu sitzen, und ihm fiel ein, als er schon im Halbschlaf war, dass der Laden seine verstorbene Frau ersetzte, die die Welt bereits vor dreißig Jahren verlassen hatte.

Der langanhaltende Nieselregen, der sich auf seinem zerknautschten Mützchen gesammelt hatte, tropfte nun über sein schmales Näschen in sein verschmutztes Bärtchen hinab, das aus einigen blonden Haaren bestand.

Er saß da und blickte verschlafen auf die Stadt, die mit vollgestopften Wolken bedeckt und wie ein viereckiges Kästchen ohne Ausgang war, um das stille Menschen auf langen, abgemagerten Beinen herumstaksten.

Er saß da, saß, Reb Yude, und schlief kurz darauf tief ein. Auch der Tag schlief ein.

Die Stadt ging melancholisch in die Nacht über, und Reb Yude schlief noch immer. Ein stinkender Soldat, der nur noch ein Ohr hatte, ging vorbei, wie ein geschlagener Hund. Er blieb stehen, betrachtete das Lädchen und spuckte ihm in den Kragen hinein.

Reb Yude erwachte davon, kratzte sich und schlief wieder ein.