Umschalg-klein.jpg

Wenn der Mensch nicht über das nachdenkt, was in ferner Zukunft liegt,
wird er das schon in naher Zukunft bereuen. (Konfuzius)

Dieses Buch wurde möglich gemacht durch die freundliche Unterstützung der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung.

© Querverlag GmbH, Berlin 2016

Lektorat: Dennis Lorenz

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von Fotolia.

ISBN 978-3-89656-638-6

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Peter Hedenström

Mitgründer der Buchhandlung Prinz Eisenherz sowie der HAW in Berlin

Peter Hedenström, Jahrgang 1948, gehört zu den Pionieren der schwulen Emanzipationsbewegung. Er arbeitete von Anfang an in der HAW (Homosexuelle Aktion Westberlin) mit und gehörte später zu den Gründern der Berliner schwulen Buchhandlung Prinz Eisenherz. Heute steht er vor der Pensionierung – die aber bei Hedenström nicht mit einem Ruhestand verwechselt werden darf. Schließlich gibt es für Schwule (und Lesben) noch immer genug zu tun.

In erster Linie bist du als Mitgründer der schwulen Buchhandlung Prinz Eisenherz in Berlin bekannt. Aber was war vorher, wie bist du überhaupt nach Berlin gekommen?

Fangen wir doch ganz von vorn an. Geboren bin ich am 20.4.1948 in Lübeck. Meine Eltern stammen aus dem Baltikum. Ich war Jüngster von vier Geschwistern, mein Vater war Architekt. Er hat beim Amt für Flüchtlingsfragen gearbeitet und Aussiedlerhöfe entworfen. Meine Mutter war Hausfrau. In Lüneburg, wo ich mein Abitur gemacht habe, hatte ich eine etwas ältere, politisch sehr engagierte Freundin, die eigentlich die Freundin meiner älteren Schwester war. Durch diese Freundin und ihren Mann, die wegen ihrer politischen Ansichten im ansonsten eher biederen Lüneburg überall aneckten, wurde auch mein politisches Interesse geweckt. Wir hatten einen Lesekreis, in dem heftigst diskutiert wurde, oft bis in die Nacht hinein. Wir waren immer Außenseiter in Lüneburg.

Fiel dein Coming-out auch schon in diese Zeit?

Nein, das hatte ich in Göttingen, wo ich nach dem Abi mit dem Studium der Germanistik und Publizistik begann, ohne meinen alten Freundeskreis aufzugeben. Mein Vater wollte, dass ich traditionsgemäß in eine schlagende Verbindung eintreten sollte, aber da habe ich mich geweigert. Dort, in Göttingen, habe ich jemanden dabei beobachtet, der mir auf dem Fahrrad hinterherguckte, das war das erste Mal, dass ich bewusst so was wie Homosexualität am Rande registrierte. Und irgendwann sind nichtschwule Freunde aus Göttingen mit mir nach Hamburg gefahren, in eine Schwulenkneipe. Da wusste ich dann: „Das ist es.“ Anschließend habe ich in Hamburg tatsächlich jemanden kennen gelernt, zu dem ich auch heute noch Kontakt habe. Wir schreiben uns ab und zu und laden uns zu großen Festen ein.

1969 bin ich, weil Freunde nach Berlin gegangen sind, auch dorthin gewechselt zum Studieren. Ich war in der Roten Zelle Germanistik, das war eine streng linke Organisation. Wir haben Flugblätter verteilt, Diskussionsrunden abgehalten und so. In einer Partei aber bin ich nie gewesen. Und sonst habe ich das Schwulsein studiert, nicht die Uni.

Das waren ja aufregende Zeiten …

Stimmt. Ziemlich schnell kam der Film von Rosa von Praunheim und Martin Dannecker Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt. In Berlin gehörte ich schnell zum Freundeskreis um Manfred Salzgeber, der damals Mitbetreiber des Arsenal-Kinos war. Nach dem Praunheim-Film gab es sofort Treffen, wir wollten etwas machen. Ich gehörte dann zu den Gründern der HAW (Homosexuelle Aktion Westberlin). Da waren viele Studenten, alle links. Und so konnte ich alles, was ich an Ideen und Weltveränderung im Kopf hatte, auch auf meine Sexualität beziehen.

Wie war damals das Verhältnis zu den Lesben?

Es gab auch eine HAW-Frauengruppe. Das ist aus heutiger Sicht vollkommen absurd. Die Frauen sagten irgendwann, es reicht, und dann wurde das LAZ (Lesbisches Aktionszentrum) gegründet. Die Frauen fühlten sich als Anhängsel, und das stimmte irgendwie auch, denn die HAW war männerdominiert.

Wie sahen denn die Strukturen aus?

Wir waren etwa 50 Aktive, es gab verschiedene Arbeitsgruppen: Aktionen, Selbsterfahrung etc., und ein wöchentliches Plenum. Die HAW war zeitintensiv und für viele eine Art Familienersatz. Wenn wir aus dem Urlaub zurückkamen, sind wir zuerst in die HAW gefahren statt in die eigene Wohnung.

Und welche Themen habt ihr beackert?

Thematisch ging es viel um § 175. Ich kann mich an eine Aktion erinnern, bei der wir am Kudamm eine Situation auf dem Arbeitsamt nachgestellt haben. An dem bekannten TUNIX-Kongress 19781 in der Freien Universität hat sich auch eine HAW-Gruppe beteiligt. Es gab verschiedene Gruppen, die sich teils auch nach politischer Zugehörigkeit ausrichteten, beispielsweise Leute in der SED-nahen SEW (Sozialistische Einheitspartei Westberlin), bei den Maoisten oder anderswo. Bei einer anderen Gelegenheit wurde der Praunheim-Film wieder aufgeführt. Und es gab Mitte der 70er in der TU-Mensa den ersten großen öffentlichen Ball von HAW und HAW-Frauengruppe. Da wurde versucht, nicht nur junges Publikum anzusprechen. Der erste Tanz war ein Walzer. Wunderbar!

Wie hat sich das alles mit deinem Studium vertragen?

Gar nicht. Ich habe das Studium abgebrochen, weil nun die Zeit der Projekte begann. Zunächst entstand Das andere Ufer, das erste schwule Lokal ohne Klingel mit offenen Schaufenstern in der Hauptstraße. Heute heißt dieses Lokal Neues Ufer. Außerdem gab es noch das Café Lila. Später gab es das Schwarze Café, wo ab und zu ein schwuler Abend gemacht wurde. Dann gründeten sich die ersten schwulen Medien: Die Schwuchtel, die Berliner Schwulenzeitung, der Verlag Rosa Winkel. Ich habe bei der Schwulenzeitung mitgemacht. Bei Rosa Winkel arbeitete ich mit Elmar Kraushaar und Volker Bruns zusammen.

Wie eng war der Kontakt zwischen Linken und Schwulen?

Rosa Winkel hat sich immer als linker Verlag verstanden. Bis in die 90er war klar, dass alle Bücher, die wir gemacht haben, in den linken Buchläden verkauft wurden. Es gab ein informelles linkes Kooperationsnetz, in das sich die einzelnen Projekte einfügten.

1978 gründeten wir dann den Buchladen Prinz Eisenherz. Der Name war eine Spontanentscheidung: Prinz Eisenherz war für uns wie das ideale Bild eines Traumprinzen. Anfangs arbeiteten dort sechs Leute halbtags, aber es zeigte sich, dass man eine Person braucht, die kontinuierlich zuständig ist. Weil ich schon relativ viel Verlags- und Medienerfahrung hatte, da Manfred Salzgeber in seinem Kino einen kleinen Buchladen hatte und ich außerdem die Büchertische der HAW gemacht habe, war ich prädestiniert und entschied ich mich dafür.

Wie liefen die Geschäfte damals? Gab es einen Markt für schwule Literatur, von dem ein Buchladen leben konnte?

Am Anfang war das was ganz Neues. Niemand hat geglaubt, dass man einen Laden nur mit Büchern für Schwule füllen konnte, aber das ging. Das Projekt war allerdings immer Selbstausbeutung, das merke ich an der Rente, die ich ab nächsten Monat bekomme, aber darüber hat man sich damals keine Gedanken gemacht. Heute würde man das nicht mehr so machen. Jeder zahlte etwas Geld in die dafür gegründete GmbH ein, und es ging irgendwie. Die Idee war, einen Ort zur Verfügung zu stellen, wo verschiedene Positionen sich darstellen konnten, also nicht nur eine Sicht zu zeigen. Wir waren dann vier Vollzeitleute.

Wie lief die Arbeit im Buchladen damals ab?

Wir haben viele Lesungen und Veranstaltungen organisiert. Es sind Initiativen vom Laden ausgegangen. Während der Filmfestspiele gab es das Nachtcafé bei Eisenherz, wo die Filme gezeigt wurden, für die auf dem Filmfest kein Platz war. Daraus ist dann die erste Verleihung des Teddy geworden, der heute ganz offiziell im Rahmen der Berlinale verliehen wird. So wurde zum Beispiel die Siegessäule bei Prinz Eisenherz gegründet und der erste Anstoß für Mann-o-Meter, das Infobüro, erfolgte ebenfalls bei uns. Außerdem wurden wir zu einer Art Informationsdrehscheibe in Sachen Aids. Das lag daran, dass ich genau zu der Zeit, 1983, als Aids ausbrach, in New York war.

Wir haben vieles in Gang gebracht. Auch über Pädophilie wurde diskutiert, aber naiver als heute. Damals ging die Diskussion zum Beispiel um die Altersgrenze. Die Indianerkommune war ein- oder zweimal im Laden, aber diese Leute wurden von allen gehasst, weil sie alle niederschrien. Es gab auch eine große Pornodebatte. Da stand Eisenherz von Anfang an auf der Seite: Wir stehen zur Pornographie. Diese Diskussion ist heute gegessen.

Wie habt ihr euch mit anderen Projekten vernetzt?

Wohin man sich persönlich vernetzt hat, lag an den eigenen Präferenzen. Ich fühlte mich damals und fühle mich noch immer der Linken zugehörig und habe heute noch zu zwei Frauen Kontakt, die bei Brot und Rosen2 waren. Der Buchladen hat mich voll absorbiert. Ich habe noch ein paar kleine Artikel in der Siegessäule geschrieben.

Der Prinz Eisenherz war ja damals rein schwul.

Wir hatten auch Lesbenliteratur. Es gab aber ab und zu Diskussionen, ob wir nicht ein schwul-lesbisches Projekt werden sollten, aber ich habe immer gesagt, ein schwul-lesbisches Projekt mache ich nur dann, wenn es wirklich paritätisch ist, auch hinsichtlich der Besitzverhältnisse, auch wenn sich einige Frauen nicht daran gestört hätten, ihre Literatur von einem Schwulen zu erstehen. Für mich wäre das nicht akzeptabel gewesen. Mein Vorbild war immer Giovannis Room3 in Philadelphia, der Laden gehörte einem Mann und einer Frau. Und das wäre so bei uns nichts geworden, also war ich dafür, es zu lassen, und dabei blieb es damals. In dieser Hinsicht war die Gründung des Querverlages das erste wirklich gemeinsame Projekt.

Inzwischen ist das anders.

Ja, und deshalb heißt der Laden auch nicht mehr Prinz Eisenherz, sondern Eisenherz. Ich bin 2003/2004 ausgestiegen, weil der Laden einen neuen Standort brauchte und es unterschiedliche Auffassungen darüber gab, wie es weitergehen sollte, und da beschloss ich, einen Schlussstrich zu ziehen, statt mich zu streiten. Heute habe ich ein gutes Verhältnis zu allen, die im Eisenherz arbeiten. Ich habe meine letzten Jahre in einer konventionellen Buchhandlung verbracht.

Wie siehst du den schwulen Buchhandel in Zukunft?

Für den Buchhandel bedeuten die Möglichkeiten des Internets – besonders Amazon – eine riesige Gefahr. Das ist ein Konzern, der alles platt macht, als erstes kleine Läden. Dazu kommen die E-Books und andere digitale Medien. Außerdem gibt es die strenge Trennung zwischen Mainstream- und lesbisch-schwuler Literatur nicht mehr in dem Maße. Das führt zu der Frage: Brauchen wir schwul-lesbische Verlage oder Literatur überhaupt noch? Diese Frage wird längst nicht mehr so eindeutig beantwortet. Das gefährdet die Verlage und die Läden, nicht nur schwul-lesbische, sondern aus dem gesamten linken oder fortschrittlichen Spektrum. Allerdings sehe ich, gerade weil ich nun jahrelang in einer großen Sortimentsbuchhandlung gearbeitet habe, wie wichtig es ist, kleine Buchhandlungen zu haben, die Dinge in Gang setzen.

Inwieweit hat sich in deinen Augen die Rolle von Schwulen und Lesben in den letzten vierzig Jahren verändert?

Natürlich hat sich was geändert. So gab es damals, in den 70er und 80er Jahren, nur als Beispiel, keinen schwulen Bürgermeister. Auch dass ein Bürgermeister ein Grußwort zum Folsom-Treffen der Lederschwulen hält, wäre früher vollkommen undenkbar gewesen. Andererseits hat sich vieles auch nicht verändert: Die gesetzliche Gleichstellung ist zwar für bestimmte Bereiche ein Fortschritt, aber das sagt noch nichts darüber, was die Bevölkerung denkt. Das beste Beispiel ist Frankreich, wo gerade erst ein Mann wegen seines Schwulseins umgebracht wurde. Deshalb meine ich: Wir müssen im Kopf haben, dass unsere relativ gute Situation nicht ewig so bleiben muss. Der Wunsch kann noch so groß sein – eines Tages wird wieder von außen auf uns gezeigt werden. Also heißt das: weiterhin zu sich zu stehen, sich einbringen und offen sein. Das ist unsere einzige Chance, dass die Menschen uns als gleichberechtigte Lebewesen wahrnehmen.

Wir sollten auch nichts schönreden: Mein Vater ist schon sehr früh gestorben, meine Mutter hat meinen Partner akzeptiert und uns immer als Paar gesehen. Aber ich bin überzeugt, dass sie nicht wissen wollte, was genau zwischen uns abläuft. Was ich damit sagen will, ist: Die gesamte „perverse“ Sexualität wird wieder aus dem Diskurs ausgeklammert, akzeptiert werden nur Beziehungen, die so aussehen wie eine Ehe. Die Schwulenehe als den Hauptpunkt der Agenda zu sehen, ist deshalb falsch. Und deshalb finde ich auch das Grußwort von Wowereit zum Ledertreffen so gut. Die Situation von Homosexuellen als Minderheit würde sich erst dann grundlegend ändern, wenn alle ihre Sexualität grundsätzlich in Frage stellen würden, und das wird nie passieren. Deshalb brauchen wir auch jetzt und in Zukunft Gruppen, Bücher und Vorbilder, Aufklärung und Unterstützung. Es wird auch weiter Kneipen und andere Treffpunkte geben.

Glaubst du, dass die Gesellschaft als Ganzes etwas von Lesben und Schwulen lernen kann?

Im Prinzip sind Lesben und Schwule genau so blöd oder klug wie andere Menschen. Aber wir haben aufgrund unserer Position als Minderheit eine Chance, zu zeigen, wie die Situation von Minderheiten, auch anderen Minderheiten, aussieht. Außerdem können Heteros von uns lernen, Beziehungen zu haben, die nicht dem Ehemodell und/oder eingefahrenen Rollenmustern ähneln. Z. B. die Frage, wer ist der Mann, wer die Frau: Wenn ich beim Chinesen mit Stäbchen esse, frage ich auch nicht, welches Messer, welches Gabel ist. Es gibt sehr viele unterschiedliche Beziehungsformen, aber Thema ist immer nur die Homoehe. Wir haben nach vielen Kämpfen Beziehungsmodelle, die anders sind. Und durch Aids sind wir leider auch gezwungen worden, uns bereits in jungen Jahren mit Tod und Trauer auseinanderzusetzen.

Gibt es dann noch spezifisch lesbisch-schwule Politikthemen?

Ein wichtiges Thema ist der Umgang mit Langzeitüberlebenden von Aids. Da ist entgegen der allgemeinen Wahrnehmung noch längst nicht alles in Ordnung. Darüber hinaus sollten wir uns mit all denen in anderen Ländern verbinden, die um ihre grundlegenden Menschenrechte als Lesben und Schwule kämpfen. Das verbindet uns dann mit anderen Menschenrechtsfragen, denn bestimmte Grundrechte sind unteilbar. Andererseits finde ich es unglaublich schwierig, inwieweit wir unser westliches Bild anderen Menschen oder Kulturen aufoktroyieren können. Was ich will, ist aber die Trennung von Staat und Religion. Frankreich versucht das, und das ist weltweit ein wichtiger Fortschritt.


1 Der erste Tunix-Kongress fand vom 27. bis 29. Januar 1978 in der TU Berlin statt und markiert die Geburtsstunde der Alternativbewegung jenseits orthodoxer linker Politik. Am Berliner Tunix-Kongress nahm auch die HAW teil.

2 Brot und Rosen war eine feministische politische Frauengruppe, die 1971 während des Kampfes gegen den § 218 entstand. Ihr Ziel war unter anderem, unter Frauen Wissen über den weiblichen Körper zu verbreiten und sie so im Verhältnis zu Gynäkologen und anderen Fachspezialisten selbst zu ermächtigen. 1972 brachte Brot und Rosen ein viel beachtetes Frauenhandbuch heraus. Zudem führte die Gruppe Aktionen aus, die sich gezielt gegen den Abtreibungsparagraphen § 218 richteten.

3 Benannt nach dem gleichnamigen Roman von James Baldwin, ist Giovanni’s Room in Philadelphia, gegründet 1974, einer der ältesten LGBT-Buchläden weltweit. Nach einem Besitzerwechsel mit kurzfristiger Schließung 2014 und Wiedereröffnung im Herbst desselben Jahres existiert der Bookshop bis heute.

Susanne Hillens

Vorstand bei Wirtschaftsweiber e. V.

Susanne Hillens, Jahrgang 1964, studierte Politologin und Germanistin, war lange als Führungskraft in verschiedenen Medien tätig, zuletzt als Magazin-Ressortleiterin einer großen deutschen Tageszeitung. Jetzt arbeitet die Wahlkölnerin als freie Fernsehjournalistin, selbstständige Trainerin und Coach und engagiert sich im Bundesvorstand der Wirtschaftsweiber e. V., dem bundesweit größten Verein für lesbische Fach- und Führungskräfte4.

Warum haben Sie sich in den Vorstand der Wirtschaftsweiber wählen lassen? Was bedeutet dieser Verein für Sie?

Der Verein bedeutet für mich Netzwerken auf hohem Niveau. Hier treffen lesbische Frauen aus allen Berufsbereichen zusammen und können sich – mit ihrer lesbischen Identität – beruflich wie persönlich austauschen. Sprich: Wir supporten uns in Fragen von Karriere, wir beraten uns gegenseitig in Fragen von Steuern, Recht oder Selbstständigkeit, ja, wir haben manchmal sogar Jobs füreinander und – natürlich feiern wir auch zusammen, das gehört dazu!

Zum Amt im Bundesvorstand: Ich habe mich sehr bewusst dafür entscheiden, weil ich nach vielen tollen Feierjahren in der schwul-lesbischen Community gerne etwas zurückgebe, am liebsten meine Persönlichkeit und meine Kompetenzen. Mein Engagement für die lesbische Welt hat aber auch noch andere Treiber: Ich wünsche mir mehr Sichtbarkeit lesbischer Frauen in Führungspositionen, ich wünsche mir, dass viel mehr Frauen sich trauen, in die erste Reihe zu gehen, und am Ende stehe ich ein für unsere Forderung nach 50 Prozent Frauen in Aufsichtsräten, davon gerne 10 Prozent lesbisch!

Also ein Old Boys Network für lesbische Frauen?

Warum nicht? Die Jungs machen uns das schon lange vor. Die fighten im Business gegeneinander und dann gehen sie Biertrinken und schmieden gemeinsam ihre Karrieren. Gegenseitige Unterstützung ist dort selbstverständlich. Frauen tun sich grundsätzlich eher schwer mit dieser Art von Geben und Nehmen, denken, dass sie bei jemandem in der Schuld stehen, wollen es lieber alleine schaffen. Und wenn immer noch mehr als 50 Prozent aller lesbischen Frauen sich an ihren Arbeitsplätzen nicht outen, also einen wichtigen Teil ihres Lebens nicht sichtbar machen, wird das klassische Netzwerken, das gegenseitiges Vertrauen voraussetzt, für sie besonders schwer.

Wir brauchen also Orte, Netzwerke, wo wir offen sprechen können, uns Mut machen, helfen. Viele Lesben sind aufgrund der Irritation, die ein Coming-out in wirklich jedem Leben verursacht, sensibler als viele andere sind; manche erlebten Verletzungen und Kritik. All das macht offener und empfänglicher für gesellschaftliche Fragen, kann aber auch verunsichern. Wir wollten ein Netzwerk, das jeder mit ihrem Profil einen Platz gibt, aber auch schützt und damit vielleicht auch Mut macht, offen nach außen und in andere Netzwerke zu gehen.

Können Sie das ein bisschen erklären?

Ja, an meinem eigenen Leben: Ich komme aus einem sehr bürgerlichen, scheinbar behüteten Umfeld, und ich habe durchaus vieles davon noch heute in mir, einen gewissen Ehrgeiz zum Beispiel, den Drang, beruflich erfolgreich zu sein oder meine Sache gut zu machen. Als ich nach dem Schulabschluss nach Münster ging, um zu studieren, gab es in meinem Leben das Wort homosexuell noch gar nicht. Ich war wohlerzogen und angepasst und alles andere als politisch im Sinne von kritisch den existierenden Verhältnissen gegenüber. Dann kam mein eigenes Coming-out, das mich trotz eines sehr toleranten privaten Umfeldes innerlich sehr erschüttert hat. Ich musste mich neu erfinden, mich gesellschaftlich verorten und positionieren – das hat mich sozusagen automatisch politisiert.

Zuerst kam die Liebe zu einer Frau, dadurch veränderte sich meine Wahrnehmung und mein Umfeld, dann kamen die politischen Schlussfolgerungen und die Fragen, die man sich gestellt hat, die sich andere vielleicht nicht stellen mussten. Zum Beispiel: Was erzähle ich am Montagmorgen in meiner Redaktion meinen zumeist männlichen Kollegen über mein Party-Wochenende in Köln?

Was hat Ihnen in diesen Jahren die Szene bedeutet?

Party. Flirten. Sich ausprobieren, verstehen, wie lesbisches Leben geht. Tolle Zeit, möchte sie nicht missen, denn hier erlebte ich, dass es anderen auch so ging und fühlte mich nicht mehr allein oder gar randständig. So fand ich schnell den Mut, mich zu outen, auch am Arbeitsplatz. Dennoch habe ich zu jener Zeit, in den 90er Jahren, den politischen und gesellschaftlich engagierten Teil der Szene nur am Rande wahrgenommen, fühlte mich nicht aufgefordert, mich zu engagieren.

Was hat Sie davon abgehalten, tiefer in die Szene einzusteigen?

Als Redakteurin führte ich recht schnell ein etabliertes Leben. Es gab eher Grund, sich öffentlich zu engagieren, zu opponieren, aber nicht für mich. Ich war diejenige, die mitsprach, wenn es um das „Nischenleben“ Homosexueller ging, schrieb zum CSD in Köln den Kommentar auf der Politikseite – aber ich wollte in der Redaktion nicht den Stempel der „Edel-Lesbe vom Dienst“ haben. Ich wollte Teil meines Teams sein, also hielt ich mich durchaus manchmal zurück.

Außerdem wollte ich eine „gute“ Journalistin werden und mich nicht – eiserner Grundsatz – gemein machen mit einer Sache. Sicher war ich auch zu ehrgeizig dafür, mir mein Leben ausschließlich in der und für die Szene vorzustellen. Ich wollte immer auch außerhalb dieses Kreises etwas bewegen, nur Szene wäre mir zu eng gewesen. Heute ist mir klar: Mein lesbisches Selbstbewusstsein habe ich auch der Arbeit vieler Projektmitarbeiter und -innen in der Community zu verdanken!

Welche Rolle können Lesben und Schwule und ihre Szene in der Gesellschaft in Zukunft spielen? Oder gibt es keine einheitliche Rolle, keine Gruppenidentität mehr, nachdem die wichtigsten Rechte durchgeboxt wurden?

Lassen Sie uns Schwule und Lesben hier gerne unterscheiden. Lesbische Frauen fühlen bis heute häufig ein doppeltes Minus: Frau zu sein und dann noch lesbisch. Das ist für viele Frauen im Business Alltagsrealität. Dabei sind Frauen nachgewiesenermaßen besser qualifiziert, kritischer mit sich und häufig enorm zielstrebig – bis hin zur Selbstaufgabe. Es gibt also wirtschaftlich betrachtet das doppelte Plus. Da ziehen wir mit deutscher Frauenpolitik gerne an einem Strang, verstehen uns zum Beispiel im Verein auch als ihr lesbisches Gewissen.

Das heißt, Sie unterstützen auch die Forderung nach einer Quote?

Mir geht es da so wie wahrscheinlich vielen: Wir wollen für unsere Leistungen anerkannt werden. Doch das ist Tagtraum. Männer sind da viel cooler. Die sagen: Ich kann, auch wenn sie nicht können und machen einfach. Da haben wir nachzulegen. Die Quote ist lästig, aber sie bewirkt Notwendiges. Ich nähme sie in Kauf, wir hinken europaweit hier eh hinterher … Der Mensch lernt und bewegt sich erfahrungsgemäß erst nach Schmerz oder Krisen. Ich frage mich also, wie groß die Wirtschafts- und Finanzkrise in diesem Land noch werden muss, bis die Kompetenz von Frauen endlich auch ganz oben ihre Wertschätzung findet. Optimal wäre natürlich eine Quote für alle Minderheiten einschließlich Lesben.

Aber Ihre Ziele sind mit einer Quote natürlich nicht erreicht, oder?

Das wäre ja auch langweilig. Nein, nicht alle Ziele, aber ein wichtiges. Lesben und Schwule leben lang schon nicht mehr in Nischen. Wir sind mitten in der Gesellschaft angekommen und wir haben eine Menge einzubringen: Unseren speziellen Blick aufs Leben, unsere spezifische Lebenserfahrung als Lesben, die Irritation, plötzlich Teil einer Minderheit zu sein und nichts mehr als selbstverständlich wahrzunehmen im Coming-out – das prägt und macht viele von uns empfindsam für Themen wie gesellschaftliche Gerechtigkeit, Verteilung von Ressourcen, Anerkennung und Wertschätzung. Traditionelle Familienkonstellation gelten für uns nicht, wir haben seit Jahren alternative Blicke auf die Fragen von Lebensgestaltung, leben in alternativen Wohnformen und alternativen Familienmodellen wie Wahl- oder Patchwork-Familien – und haben dadurch gelernt, andere Lösungen zu finden jenseits des Mainstream.

Beim Thema Alter, das für unsere Gesellschaft immer wichtiger wird, kann das eine große Rolle spielen: Die meisten von uns haben keine Kinder, also wissen wir, dass wir uns etwas dazu einfallen lassen müssen, wie wir als alte Menschen leben und unsere Versorgung organisieren wollen. Und diese Modelle können möglicherweise auch für andere richtungweisend sein, die weniger daran denken, da ja traditionelle Familienformen auch unter Heteros brüchiger werden und alles andere als Horte von Glückseligkeit und Harmonie sind, wie wir wissen.

Wie spiegelt sich das in der Arbeit der Wirtschaftsweiber wider?

Das wichtigste Thema ist natürlich das Anders-Sein an sich und der Umgang damit – zum Beispiel im beruflichen Kontext, wo wir natürlich Diversity-Ansätze in Unternehmen fördern. Auch das wird immer wichtiger angesichts der vielfach beschworenen Knappheit an Fachkräften und der Globalisierung, die Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen am Arbeitsplatz und anderswo zusammenführt. Ich halte es mit dem südafrikanischen „ubuntu“: Das bedeutet: I am because we are. Die schwul-lesbische Community könnte aufgrund ihrer eigenen Vielfalt ein Bewusstsein schaffen, das auf die Stärke gesellschaftlicher Vielfalt setzt. Denn kein Mensch möchte nur auf einen Aspekt seiner oder ihrer Persönlichkeit reduziert werden, sei es Hautfarbe, Alter, Geschlecht oder eben sexuelle Orientierung. Wir haben alle viele Persönlichkeitsanteile, die das eigene Leben und das der Anderen bunt, reichhaltig und lebenswert machen. Dafür kann sich jeder Mensch an jedem Ort dieser Welt zu jeder Zeit ganz einfach einsetzen.


4 Die Wirtschaftsweiber e.V. entstanden 1997 im Anschluss an die jährlich stattfindende Lesbentagung der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seit 1998 führen die Wirtschaftsweiber Workshops und Tagungen für lesbische Managerinnen durch. Nachdem sich das Netzwerk zunächst in Süddeutschland ausbreitete, ist es inzwischen im gesamten Bundesgebiet aktiv. Die Arbeit wird von Ortsgruppen getragen, die es in vielen Städten gibt.

Lucie Veith

Vorsitz des Vereins Intersexuelle Menschen e. V.

Lucie Veith, Jahrgang 1956, gehört zu den Personen, die sich für die Rechte intersexueller Menschen in Deutschland und weltweit einsetzen. Dazu gehört auch der Schutz vor unfreiwilligen medizinischen Eingriffen mit negativen Folgen für die Betroffenen. Veith spricht über die eigene Geschichte, über aktuelle Erfolge und Widerstände und Wünsche für die Zukunft.

Lucie, du hast den ersten Vorsitz des Vereins Intersexuelle Menschen e. V. und bist sozusagen das Aushängeschild dieser Gruppe. Du zeigst deine Intersexualität öffentlich, sprichst darüber und kämpfst für dich und andere Betroffene. Wie ist es dazu gekommen?

Das war ein langer Weg. Ich komme von der Nordseeküste, meine Eltern waren Handwerker, und ich bin das älteste Kind. Ich habe noch vier Schwestern. Eigentlich war meine Kindheit vollkommen unauffällig bis darauf, dass ich sehr wild war, gern auf Bäume kletterte, in Pappkisten den Deich hinunterrutschte und meine Kräfte mit Jungs maß. Das gab durchaus manchmal Ärger.

So eine Art Tomboy also?

In den Kategorien habe ich nicht gedacht. In der Pubertät jedenfalls bekam mein Körper sehr weibliche Formen, auch wenn ich kleine Brüste hatte, und ich ging wie alle anderen Mädchen meines Alters mit den anderen Mädchen in die Disco. Probleme gab es erst, als ich meine Tage nicht bekam und daraufhin mit meiner Mutter zum Gynäkologen ging.

Was passierte da?

Nun der Gynäkologe erklärte mir, dass meine Eierstöcke und meine Gebärmutter nicht richtig ausgebildet wären und ich deshalb keine Kinder bekommen könne. Was wirklich war, sagte er mir nicht. Er sprach separat auch mit meiner Mutter, und was er der gesagt hat, weiß ich bis heute nicht genau. Sie spricht nicht darüber und wird immer sehr traurig, wenn ich versuche, sie darauf anzusprechen. Inzwischen ist es mir auch nicht mehr wichtig.

Welche Auswirkungen hatten die Feststellungen des Arztes auf dich?

Erst einmal gar keine. Ich lebte einfach weiter, verliebte mich mit 17 in einen Studenten und ging mit ihm eine Beziehung ein, die irgendwie auch sexuell funktionierte. Aber es funktionierte, wir kamen zusammen und ich zog irgendwann mit ihm zusammen nach Düsseldorf, um Kunst zu studieren. Dort bekam ich plötzlich mit 23 Blutungen. Ich dachte, dass ich nun vielleicht doch noch meine Menstruation bekäme und dann Kinder bekommen könnte und suchte den Arzt auf. Damit begann ein jahrelanger Horrortrip.

Was geschah?

Der Arzt bestätigte meine an sich positive Vermutung nicht, sondern untersuchte mich, sagte, es sehe nicht gut aus, ohne Näheres zu erklären, und wies mich ins Krankenhaus ein. Dort begann mein Leidensweg richtig. Es durfte sozusagen jeder mal ran. Ich wurde den verschiedensten Untersuchungen und Behandlungen unterzogen. Manchmal standen der Chefarzt und mindestens zwei Handvoll Assistenzärzte ums Bett, ich hatte mich frei zu machen, die Beine zu spreizen um beispielsweise mein weniges Schamhaar begutachten zu lassen. Ich wurde auf den gynäkologischen Stuhl gesetzt und vorgeführt. Es gab vaginale und rektale Untersuchungen. Und so weiter. Ich war schwer traumatisiert, war unfähig mich zu wehren. Zudem erklärte mir erst mal niemand etwas, das Ganze dauerte so etwa zehn Tage. Dann kam endlich ein Arzt und erklärte, die Blut- und sonstigen Untersuchungen wären endlich abgeschlossen, und ich wäre genetisch ein Mann. Ich müsste weiter zur Humangenetik.

Die dauernden Untersuchungen ohne Erklärung, überhaupt die ganze Situation, hat in mir ein schweres posttraumatisches Belastungssyndrom ausgelöst Dazu kam eine jahrelange Identitätskrise, denn ich musste ja damit leben, dass ich nun ein Mann sein sollte, obwohl ich doch aus meiner Sicht bisher eine Frau war, und damit auch gut zurecht kam. Was übrig blieb, war das Gefühl, irgendwie falsch zu sein. Deshalb habe ich tatsächlich überlegt, ob ich lieber vom Dach oder aus dem Fenster springen sollte, und mein einziges Ventil war in dieser Zeit die Malerei.

Wie hat dein Partner reagiert?

Der war natürlich zunächst völlig perplex, hat sich drei Tage lang zurückgezogen und mir dann gesagt, dass es ihm egal ist, was ich genetisch bin, dass seine Gefühle für mich dadurch nicht anders sind und dass er mit mir zusammenbleiben möchte. Wir sind noch heute zusammen, was die Qualität dieser Beziehung zeigt. Um aus der traumatisierenden Umgebung herauszukommen, sind wir anschließend nach Hamburg gezogen. Aber da wurde es noch schlimmer.

Wieso?

Nun, in Hamburg bekam ich plötzlich einen Brief vom Universitätsklinikum, es gäbe neue Erkenntnisse, ich müsse mich dort vorstellen. Ich ging hin, was ich rückwirkend als Fehler betrachte. Dort teilte man mir mit, ich besitze Hoden, die raus müssten, weil sie entartet seien und mich umbringen würden. Abgesehen davon, dass die Hoden wohl in keiner Weise entartet waren: Ich weiß bis heute nicht, wie Eppendorf an meine Daten gekommen ist – mit Datenschutz hatte das jedenfalls nichts zu tun.

Hast du dich operieren lassen?

Ja, und damit war das Elend besiegelt. Denn mein Körper war sehr wohl auf den Umgang mit den von den Hoden produzierten Hormonen und Enzymen eingestellt, die die Hirnhangdrüse, ein sehr wichtiges Organ, steuern. Meine spezielle Situation, die als testikuläre Feminisierung bezeichnet wird, besteht darin, dass zwar nach den ersten sieben Wochen, in denen das Embryo geschlechtlich neutral ist, die zu der XY-Ausstattung passenden Hoden ausgebildet wurden und anfingen zu produzieren, dass aber das produzierte Testosteron im Körper zum Beispiel von den Hautzellen nicht erkannt wurde. Das heißt: Ich hatte zwar Testosteron, aber nur einen winzigen Penis, der bei der Geburt als Klitoris verkannt wurde, und kaum eine Scheide. Das viele Testosteron wurde aber sozusagen zu meinen Gunsten im Körper in Östrogen umgewandelt, wodurch ich die weiblichen Formen bekam, und auch meine Knochen haben deshalb eine gute Dichte gehabt. Mit der Operation waren nun die gesamten Hormone und Enzyme aus den Hoden plötzlich weg. Damals hieß es, das Testosteron habe in meinem Körper gar keine Wirkung, in Wirklichkeit war der Entzug der Horror.

Wie wirkt sich das aus?

Ich bekam eine fürchterliche Depression, die sich über Jahre hinzog. Kompensatorisch habe ich dann versucht, im Beruf besonders erfolgreich zu sein, und das ist mir dann auch gelungen. Ich lernte Industriekauffrau, ging zur Bank und leitete über Jahre eine Filiale – so lange, bis ich einfach nicht mehr konnte und zusammenklappte. Die Ärzte diagnostizierten Burnout, aber heute würde ich sagen, ich war einfach ausgelutscht, weil ich über mehr als ein Jahrzehnt quasi ohne Hormone gelebt habe. Meine Libido war zum Beispiel gleich null. Damals war ich 40, und ich stand wieder mal am Scheideweg.

Wie ging es weiter?

Das Unternehmen fusionierte mit einer anderen Firma, man bot mir einen Aufhebungsvertrag an, und den nahm ich. Mit der Abfindung bezahlte ich mein Haus. Dann habe ich erst einmal ein halbes Jahr im Bett gelegen und versucht, zu mir zu kommen, ich bin jeden Tag nur ein paar wenige Stunden aufgestanden. Dankenswerterweise hat mich mein Mann gelassen und sein Leben sozusagen um diesen Zustand herum organisiert. Ganz allmählich habe ich dann wieder Tritt gefasst. Im Jahr 1987 habe ich mich als Künstlerin mit Bildhauerei und Malerei selbständig gemacht und einige Ausstellungen beschickt, aber das war materiell nicht erfolgreich. Über Freunde kriegte ich kleine Lehraufträge an der VHS und der Kunstschule, ich war für Gestaltung an einem Jugendzentrum zuständig und habe mich so neu orientiert.

Und immer noch hattest du keinen Kontakt zu anderen Intersexuellen?

Der Arzt hatte mir im Anschluss an die Hodenentfernung gesagt, ich solle mit niemand über dieses Thema sprechen, niemand in der sozialen Umgebung würde überhaupt verstehen, was los ist, und deshalb würde es nur mein Leben erschweren, wenn ich darüber rede. Mit meinem Mann habe ich natürlich geredet, aber sonst wirklich mit niemandem. Dann hat er mir im Jahr 2000 einen Internetanschluss zum Geburtstag geschenkt, und das erste, was ich in die Suchmaschine eingab, war „testikuläre Feminisierung“, meine Diagnose. Ich geriet auf die Seite einer Selbsthilfegruppe von XY-Frauen. Als Kontaktstelle war das KISS, eine Anlaufstelle für Selbsthilfegruppen in Hamburg, angegeben.

Ich habe dann die Telefonnummer, die ich dort bekam, so gut versteckt, dass ich sie selbst nicht mehr fand, und weil ich mich nicht traute, gleich wieder anzurufen, dauerte es noch zwei Monate, bis ich endlich Kontakt zu Elisabeth Müller aufnehmen konnte. Sie spielte mit Michael Reiter in dem Dokumentarfilm Das verordnete Geschlecht mit, der zum ersten Mal im deutschen Film das Thema Intersexualität aus Sicht der Betroffenen behandelte. Reiter hat dann versucht, als Geschlechtsbezeichnung „zwittrig“ in seinen Pass eintragen zu lassen, ist damit aber gescheitert.

Jedenfalls: Ich erzählte Elisabeth alles, was ich erlebt hatte, und sie verstand auf Anhieb. Ich war also nicht allein, ich war kein Einzelschicksal, sondern das, was mir durch die Medizin widerfahren war, war strukturelle Gewalt gegen Menschen, die so sind wie ich, und damit etwas, wogegen man angehen kann. In der Selbsthilfe lerne ich viele intersexuelle Menschen mit ähnlichen Schicksalen kennen.

Seit 2007 lasse ich mir übrigens von einem Endokrinologen Testosteron verschreiben, und seitdem haben sich viele gesundheitliche Probleme in Luft aufgelöst: Depression, Anämie, Diabetes und noch vieles andere. Das hätte ich mir alles ersparen können, wenn mir meine Hoden erhalten geblieben wären. Aber als ich in die Selbsthilfegruppe kam, dauerte es noch eine Weile, bis ich so weit war, hier aktiv zu werden. Ich habe dort sehr viel über mich erfahren, und bin dort noch immer. Daraus ist 2004 dann der Verein Intersexuelle Menschen entstanden, dem ich seit 2009 vorstehe.

Wie viele seid ihr?

Wir sind ca. 140 Personen, dazu kommen rund 650 Kontakte aus verschiedenen Selbsthilfegruppen. Wir veranstalten auch Bundestreffen, die immer noch recht konspirativ organisiert werden.

Warum?

Man muss sich vorstellen, dass das, was mit mir als junger Erwachsenen passiert ist, vielen angetan wird, wenn sie kleine Kinder sind. Wenn sie irgendwann von ihrer Zwangs-Transsexualisierung erfahren, bricht meistens eine Welt für sie zusammen. Das zeigt im Übrigen, wie viel Gewalt daraus resultiert, wenn man alles in zwei Geschlechter presst. Hier hat sich auch noch nicht viel getan. Dabei müsste man eigentlich wissen, dass die sogenannte Zeitfenstertheorie, nach der man in einem bestimmten Zeitfenster das Geschlecht quasi willentlich anpassen kann, nicht funktioniert.

Es gab da einen aufsehenerregenden Fall: Von einem männlichen Zwillingspaar wurde dem einen Zwilling bei der Beschneidung mit einem Laser der Penis so stark verstümmelt, dass er anschließend amputiert werden musste. Die Ärzte legten stattdessen operativ eine Scheide an und rieten den Eltern, die Zwillinge zu trennen und das operierte Kind Joan statt John zu nennen und es streng weiblich zu erziehen. Allerdings hatte das absolut keinen Erfolg, später wollte Joan sogar eine geschlechtsangleichende Operation in Richtung männlich. Bei der Gelegenheit erfuhr sie/er dann die Wahrheit, hat sich aber trotzdem operieren lassen und eine Witwe mit zwei Kindern geheiratet. Außerdem suchte John seinen Bruder David und fand ihn auch. Dennoch ging die Geschichte nicht gut aus. John war lebenslang depressiv und brachte sich irgendwann um. Ein Jahr später tat das auch der Bruder, weil er mit all dem Furchtbaren, was seinem Bruder widerfahren war, nicht mehr leben konnte. Kurz, die ganze Idee einer zwangsweisen Geschlechtszuweisung funktioniert nicht und ist Gewaltanwendung.

Hat sich das inzwischen herumgesprochen, und ändert sich was?

Es gibt erste Ansätze: Australien, Pakistan, Nepal und Indien beispielsweise erkennen eine dritte, neutrale Geschlechtsbezeichnung an. In Deutschland wurde bisher lediglich erreicht, dass ein Kind mit einem nicht eindeutig männlichen oder weiblichen Genital nicht als Junge oder Mädchen im Geburtenbuch eingetragen werden darf. Diese Neuerung ist aus dem Jahre 2013. Dass es in Deutschland nicht besser aussieht, das liegt auch an der Nazi-Vergangenheit, denn unter den Nazis gab es ja eine ausgesprochene Geschlechterideologie, in der nichts von Mann-Frau Abweichendes Platz hatte. Dieses Bewusstsein ist aus den Köpfen noch längst nicht verschwunden.

Funktionierende medizinische Versorgungsmöglichkeiten für intersexuelle Menschen gibt es nicht. Dabei wäre es einfach, die unterschiedlichen Varianten der sexuellen Differenzierung – wie man heute weiß, etwa 4.000 – einfach als Vielfalt der Natur anzuerkennen. Das ist einfach Ideologie statt Biologie. Die Regierung schiebt das Thema Intersexualität so weit weg, wie es geht. Denn wenn man anerkennen würde, was da an Unrecht geschehen ist, müsste man ja unter Umständen auch entschädigen, und das kostet Geld.

Wie sieht es mit den Lesben und Schwulen aus?

Lesben und Schwule sind mehrheitlich leider auch nicht besser über die biologischen Hintergründe der geschlechtlichen Differenzierung informiert als andere. Deshalb begegnen wir auch hier oft Vorurteilen oder auf der anderen Seite Vereinnahmung. Aber es gibt auch gute Beispiele für gelungenes Miteinander, und sie werden mehr, je höher der Wissensstand ist.

Wie geht ihr vor, um euren Anliegen politisch mehr Rückhalt zu verschaffen?

Wir sind auf unterschiedlichen Ebenen aktiv, vor allem bei den Vereinten Nationen. 2008 haben ich und zwei andere intersexuelle Menschen einen Parallelbericht zur UN-Konvention zur Abschaffung jeglicher Diskriminierung gegen Frauen zum Thema Benachteiligung der XY-Frauen geschrieben und vor den UN-Gremien vorgetragen. Die Frauenbewegung und die nationale Berichtsallianz für den deutschen Bericht haben zunächst leider abgelehnt, unseren Bericht in den offiziellen Gesamtbericht zu integrieren, immerhin reisen wir aber inzwischen zusammen zu den betreffenden UNO-Sitzungen und -Hearings bezüglich der Frauenrechtskonvention (CEDAW)5.

Als Folge wurde die deutsche Regierung aufgefordert, in Dialog mit den Intersexuellen zu treten. Doch die Regierung äußerte sich dazu nicht. Der Dialog wurde auf den Deutschen Ethikrat übertragen, mit dem wir aber sowieso schon im Gespräch waren. Hier hat ein anderthalbjähriger, sehr engagierter Diskussionsprozess stattgefunden. Es gab Anhörungen mit Experten und Betroffenen sowie einen Online-Diskurs. 2012 gab es einen 200 Seiten langen Bericht an die Bundesregierung mit der Forderung, die medizinische Praxis der unfreiwilligen operativ-hormonellen Geschlechtszuweisungen zu verändern und intersexuelles Leben anzuerkennen.

Wir haben auch einen Parallelbericht zum UN-Sozialbeicht geschrieben, in dem wir die medizinische Benachteiligung der Intersexuellen nachweisen. Intersexualität taucht in den medizinischen Klassifizierungen immer noch als behandlungsbedürftiger Zustand auf. Die Spätabtreibung intersexueller Föten gilt als medizinische Indikation. Intersexuelle Kinder bekommen nicht die Hormone, die sie brauchen würden, sondern möglicherweise andere oder keine. XY-Frauen erhalten beispielsweise Östrogene, ohne über die Risiken und Folgen aufgeklärt zu werden, weil man sie unbedingt verweiblichen will. Dabei resultiert aus diesen jahrelangen, in diesem Fall oft unfreiwilligen Hormongaben ein hohes Krebsrisiko, das ihnen im Gegensatz zu den Transsexuellen, die sich ja bewusst für dieses Risiko entscheiden, einfach zugemutet wird. Auch hier bekamen wir Recht, ohne dass sich das auf die Praxis auswirkte.

Die Vertreter der Bundesregierung versuchten beim Hearing des UN-Ausschusses, in dem Inter- und Transsexualität behandelt wurde, den Anschein zu erwecken, die Berichterstatter hätten ein mentales Problem, sprich: Sie wären etwas verrückt. Daraufhin wurde Deutschland von der UN zurechtgewiesen, dass es sich hier nicht um mentale Probleme handeln würde und dass wir auch nicht so betrachtet werden dürften. Intersexualität ist eine physische Realität des Körpers, keine Geisteskrankheit, und ist als solches einfach zu akzeptieren.

Und das geschieht heute noch immer nicht?

Die Ärzteschaft behauptet, in der Medizin habe sich die Praxis geändert. Es drehe sich bei den problematischen Fällen nur um Altfälle. Als wir in der Selbsthilfe mit Eltern sprachen, stießen wir aber auf diverse Vorfälle in Universitätskliniken, die wir dokumentiert und als Parallelbericht zur Folterkonvention eingereicht haben. Es waren insgesamt acht Fälle. Alle acht Fälle in diesem Bericht wurden von den UN-Gremien als unmenschliche Behandlung anerkannt. Dieser Bericht ist bis heute nicht durch die Regierung ins Deutsche übersetzt worden, nur das Deutsche Institut für Menschenrechte beschäftigt sich damit.

Aber es gibt doch eine Änderung des Personenstandsgesetzes?

Seit dem 1.11.2013 darf bei „uneindeutigen“ Geschlechtsmerkmalen kein männlicher oder weiblicher Personenstand eingetragen werden. Es wird dann kein Geschlecht eingetragen. Die betroffenen Kinder werden dadurch zwangsgeoutet, deshalb versuchen die Eltern meist, diesen Weg zu umgehen. Das ist also auch nicht die Lösung.

Welche Lösung wünschen sich die Intersexuellen?

Ich bevorzuge die Lösung, generell auf den Eintrag des Geschlechts in die Papiere von Kindern zu verzichten. Es muss Schluss sein mit der Zwangszuweisung. Irgendwann erkennen wir doch selbst, was wir sind, und dann kann man das ja eintragen. Außerdem: Wozu ist das überhaupt nötig? Doch eigentlich nur bezüglich des Eherechts und bei der Fortpflanzung. Ansonsten sollen doch Männer und Frauen und die übrigen 3.998 Differenzierungsvarianten sowieso gleichberechtigt sein, jedenfalls auf dem Papier.

Außerdem muss sehr frühzeitig über sexuelle Differenzierung und ihre vielen Möglichkeiten aufgeklärt werden. Denn es gibt hier kein Richtig und kein Falsch, sondern Vielfalt. Ich wünsche mir eine Welt, in der wir unterschiedlich sein dürfen, dass wir endlich diese unendliche Vielfalt des Lebens anerkennen. Wenn wir das täten, bekämen wir vielleicht auch eine gerechtere Welt.


5 CEDAW steht für Committee on the Elimination of Discrimination against Women (Kommittee zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen). Die UN-Organisation ist ein Ausschuss mit 23 Mitgliedern. Er überwacht seit 1982 die Umsetzung des internationalen Übereinkommens zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung gegen Frauen. Länder müssen regelmäßig Berichte über ihre Umsetzungs­anstrengungen liefern. Zu den Ländern, die bisher keine oder nur wenige der zu dem Übereinkommen gehörender Einzelabkommen ratifiziert haben und sie umsetzen, gehören neben diversen afrikanischen und asiatischen Staaten auch die USA.